Hi
@Patrick Schuler
anbei ein paar Gedanken zu Deinem Gedicht:
1. Der Autor gibt uns ganz am Ende des Werkes eine Referenz, die wichtig ist: "Erdwall und Rauch", ein Fetzen aus dem Gedicht: GROSSE WORTE ÜBER: DIE ZIELLOSIGKEIT, DAS PRINZIP «WIDERSTAND. Während hier das "Prinzip Widerstand" und das "sehen" möglicherweise eins werden (Peter Waterhouse plädierte in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Hölderlin Preises dafür), kennzeichnet es jedenfalls das "konstellierende" in Zanzottos Werk, das Beieinenaderbringen von Bildern, das gleichsam die Sprache "zertrümmert" aber das "Traumhaft" a-kausale beibehält und damit eine hintergründige Ordnung im Chaos schafft.
2. Diese Hintergründigkeit, das Verlassen des Hermetischen, unter Beibehaltung eines fast schon "traumhaft" zu bezeichnenden Zusammenhanges von Bildüberleitungen kennzeichnet für mich auch das hier zu besprechende Werk. Dabei nimmt die Überschrift in meiner Lesart als etwas, was es zu beweisen gilt, die Funktion des Axioms ein, an dem das Gedicht entlanggemalt wird. Die Wahrheit, so erfahren wir, ist "wie" ein Anisblatt in einem Dorf auf einer Dachterrasse. Sie ist damit zunächst einmal in eine Beliebigkeit gestellt, die frappiert, ist doch "die Wahrheit" nach Aristoteles die Erkenntnis des Dings, über das möglichst viele Leute Übereinstimmung erlangen können. Sie ist aber, profaner, auch die Übereinstimmung eines Urteils oder eines Sacherhaltes mit einem Tatbestand. Insofern kommt also der Aussage, ein Anisblatt auf einer Dachterasse ist "die Wahrheit" dann Gültigkeit zu, wenn es sich so zugetragen hat. Nun steckt darin natürlich eine provokante Reduzierung des Warheitsbegriffes gerade auf diese Übereinstimmung, die -so eng verstanden- auch als Kritik am Wahrheitsbgriff aufgefasst werden kann. Nicht weniger als eine völlige Beliebigkeit ist nämlich das Ergebnis eines derart weiten Wahrheitsbgriffes. Ein so beliebig verstandener Wahrheitsbgriff taugt nicht mehr für die praktische Anwendbarkeit der "Wahrheit".
In meiner Lesart ist damit eine Provokation gesetzt, an der sich das Werk im Weiteren abarbeitet. Zwar erfahren wir auf die konkrete Frage, was das bedeutet ein noch provokanteres: "Nichts" sei die Antwort. Doch damit wird letztlich nur die Beliebigkeit dieses Wahrheitsbegriffes unterstrichen und auch herausgefordert.
Es folgen nun weitere Bilder, die diese Provokation konstatieren oder vertiefen: Die Wahrheit schlösse die Wut wie eine Wunde (ohne Narbe). Das ginge als Aphorismus noch in hermetischer Lesart durch, wenn man gewillt ist noch etwas hinzu zu assoziieren, dass nämlich der Wütende durch Fehlinformation Initial wütend geworden ist und durch die Wahrheit der Teer, aus dem die Wut brennt gelöscht werden kann. Die weiteren Bilder werden dann aber bis zur Verständnislosigkeit splitterhaft:
Im Flug der Libelle etwa, so lesen wir, werde der Tod geköpft.
Hier finden wir m.E. schon eine sprachliche Zertrümmerung und "Unfassbarkeit" durch Beliebigkeitsbilder, die zur weiteren Belastung der Aussage "Was bedeutet das - nichts" bestimmt ist. Dieses "Nichts" ist aber kein letztgültiges Nichts. In meiner Lesart wird damit der Weg in die "sprachliche Sprachlosigkeit" bereitet: Die Bereitschaft des Lesers, sich für die Dauer des Werkes von konventionellen Lesegewohnheiten zu befreien und "vor-sprachlich" sich auf die Bilderwelt einzulassen und intuitiv assoziative Antworten zu finden.
2. Im zweiten Akt (II) wird mit "Gut" eröffnet. Auch dieses "here Ziel" wird in eine gewissen Beliebigkeitswuselei hineingeworfen: Gut sei, was "ist", was in die Wirklichkeit gekommen sei, was "wirkt".
Die Herausforderung bei einer derart -von Sprache selbst abstrahierten Schreibe- liegt sicherlich darin, nicht selber konventionellen Assoziationsmustern zu verfallen. Andererseits ist der Autor gehalten, einen roten Faden wenigstens im Bildgesamteindruck, beizubehalten, um den Leser nicht in die gleiche Beliebigkeit zu verlieren, mit der er selber den Ringkampf wagt. Diese Herausforderung ist in der Assoziationskette: Ist - Realität - Mensch - wenn es dunkel wird - gibt es gar nicht - kleines Bauernhaus - Teleskop gut nachvollziehbar und wird auch in den weiteren Abschnitten nicht ganz abgelegt, was letztlich noch einen fragmentarisch-versehrten, aber immer noch, Sprachzugang zum Werk verschafft.
3. In den folgenden Akten findet die geneigte Leserin teils sehr originelle und kreative Gleichnisse, die aber das Versprechen der Über-Sprachlichkeit größtenteils einlösen und rein sprachlich isoliert "in se" nicht sinnvoll rational dechiffriert werden können. Das Zeilenüberspannende hilft an der ein oder anderen Stelle aus der Misere, indem es einen "Intuitionszusammenhang" vermittelt. Charmant sind die Leerstellen, die die geneigte Leserin immer wieder aufzufüllen versucht ist.
4. Wo das Werk m.E. brilliert sind die Momente, in denen es eine "Übersprachlichkeit" unter Beibehaltung eines Intuitionszusammenhanges vermittelt, der gleichsam den Leser inspiriert. Wo es abfällt ist an den Stellen an denen der Autor in meiner Lesart merklich "Atem holt" und Gleichnisse einstreut, die für sich genommen erfrischend, anregend und auch unterhaltsam sind, den Gesamtzusammenhang aber nicht mehr halten können. Die Anstrengung, nicht in die eigenen Abgründe zu stürzen, ist dem " Wurf" an der ein oder anderen Stelle anzumerken. Die Erschöpfung verhindert für mich - auf höchstem Niveau zwar- dann aber doch letztlich auch ein "Hölderlinisches Schließen des Kreises" (1) . Damit ALLEIN -andererseits- wäre das Werk auch nicht bezahlt gewesen.
(1)
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Bravo !
mes compliments
Dio