Die Wahrheit ist ein Anisblatt in einem Dorf auf einer Dachterrasse

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Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Wahrheit ist ein
Anisblatt
in einem Dorf auf einer Dachterrasse.

Was bedeutet das?
Nichts.

Die Wahrheit schließt die Wut wie eine Wunde
und ohne Narbe.

Im Flug der Libelle wird der Tod geköpft.

II
Gut ist, was ist -
die Realität ist zum Geschwätz der Leute geworden.

Die Leute sind Geschwätz -
die gibt es gar nicht.

Wir sind Leute
wenn es dunkel wird, sind wir kleine Bauernhäuschen -

Niemand benutzt Teleskope um uns zu betrachten.

III
Jede Nacht vertuschen die Sterne
ein Attentat auf Gott.

Die Schatten schleppen ihre Leute durch das Leben

Irgendwie
sind immer Särge anwesend,
wenn Menschen reden.

IV
Bäume sind missglückte Geigen
die Welt ist befleckt.

Sünden haben die Farbe von Klosterputz
an dem die Scheiße als Kreuz hängt.

V
Das Wilde ist die Venus im Muschelwort.

Das Wort wird
mit Silberbesteck gegessen.

Vi
Wenn niemand hinschaut
wohnen Engel im Industriegebiet.
Oder Kriegen.

Engel sind seltsam -
Man muss Schützengräben gegen den Strich streicheln
um sie zu verstehen.



"Erdwall und Rauch"
-Andrea Zanzotto​
 
Hi @Patrick Schuler

anbei ein paar Gedanken zu Deinem Gedicht:

1. Der Autor gibt uns ganz am Ende des Werkes eine Referenz, die wichtig ist: "Erdwall und Rauch", ein Fetzen aus dem Gedicht: GROSSE WORTE ÜBER: DIE ZIELLOSIGKEIT, DAS PRINZIP «WIDERSTAND. Während hier das "Prinzip Widerstand" und das "sehen" möglicherweise eins werden (Peter Waterhouse plädierte in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Hölderlin Preises dafür), kennzeichnet es jedenfalls das "konstellierende" in Zanzottos Werk, das Beieinenaderbringen von Bildern, das gleichsam die Sprache "zertrümmert" aber das "Traumhaft" a-kausale beibehält und damit eine hintergründige Ordnung im Chaos schafft.

2. Diese Hintergründigkeit, das Verlassen des Hermetischen, unter Beibehaltung eines fast schon "traumhaft" zu bezeichnenden Zusammenhanges von Bildüberleitungen kennzeichnet für mich auch das hier zu besprechende Werk. Dabei nimmt die Überschrift in meiner Lesart als etwas, was es zu beweisen gilt, die Funktion des Axioms ein, an dem das Gedicht entlanggemalt wird. Die Wahrheit, so erfahren wir, ist "wie" ein Anisblatt in einem Dorf auf einer Dachterrasse. Sie ist damit zunächst einmal in eine Beliebigkeit gestellt, die frappiert, ist doch "die Wahrheit" nach Aristoteles die Erkenntnis des Dings, über das möglichst viele Leute Übereinstimmung erlangen können. Sie ist aber, profaner, auch die Übereinstimmung eines Urteils oder eines Sacherhaltes mit einem Tatbestand. Insofern kommt also der Aussage, ein Anisblatt auf einer Dachterasse ist "die Wahrheit" dann Gültigkeit zu, wenn es sich so zugetragen hat. Nun steckt darin natürlich eine provokante Reduzierung des Warheitsbegriffes gerade auf diese Übereinstimmung, die -so eng verstanden- auch als Kritik am Wahrheitsbgriff aufgefasst werden kann. Nicht weniger als eine völlige Beliebigkeit ist nämlich das Ergebnis eines derart weiten Wahrheitsbgriffes. Ein so beliebig verstandener Wahrheitsbgriff taugt nicht mehr für die praktische Anwendbarkeit der "Wahrheit".

In meiner Lesart ist damit eine Provokation gesetzt, an der sich das Werk im Weiteren abarbeitet. Zwar erfahren wir auf die konkrete Frage, was das bedeutet ein noch provokanteres: "Nichts" sei die Antwort. Doch damit wird letztlich nur die Beliebigkeit dieses Wahrheitsbegriffes unterstrichen und auch herausgefordert.

Es folgen nun weitere Bilder, die diese Provokation konstatieren oder vertiefen: Die Wahrheit schlösse die Wut wie eine Wunde (ohne Narbe). Das ginge als Aphorismus noch in hermetischer Lesart durch, wenn man gewillt ist noch etwas hinzu zu assoziieren, dass nämlich der Wütende durch Fehlinformation Initial wütend geworden ist und durch die Wahrheit der Teer, aus dem die Wut brennt gelöscht werden kann. Die weiteren Bilder werden dann aber bis zur Verständnislosigkeit splitterhaft:

Im Flug der Libelle etwa, so lesen wir, werde der Tod geköpft.

Hier finden wir m.E. schon eine sprachliche Zertrümmerung und "Unfassbarkeit" durch Beliebigkeitsbilder, die zur weiteren Belastung der Aussage "Was bedeutet das - nichts" bestimmt ist. Dieses "Nichts" ist aber kein letztgültiges Nichts. In meiner Lesart wird damit der Weg in die "sprachliche Sprachlosigkeit" bereitet: Die Bereitschaft des Lesers, sich für die Dauer des Werkes von konventionellen Lesegewohnheiten zu befreien und "vor-sprachlich" sich auf die Bilderwelt einzulassen und intuitiv assoziative Antworten zu finden.

2. Im zweiten Akt (II) wird mit "Gut" eröffnet. Auch dieses "here Ziel" wird in eine gewissen Beliebigkeitswuselei hineingeworfen: Gut sei, was "ist", was in die Wirklichkeit gekommen sei, was "wirkt".

Die Herausforderung bei einer derart -von Sprache selbst abstrahierten Schreibe- liegt sicherlich darin, nicht selber konventionellen Assoziationsmustern zu verfallen. Andererseits ist der Autor gehalten, einen roten Faden wenigstens im Bildgesamteindruck, beizubehalten, um den Leser nicht in die gleiche Beliebigkeit zu verlieren, mit der er selber den Ringkampf wagt. Diese Herausforderung ist in der Assoziationskette: Ist - Realität - Mensch - wenn es dunkel wird - gibt es gar nicht - kleines Bauernhaus - Teleskop gut nachvollziehbar und wird auch in den weiteren Abschnitten nicht ganz abgelegt, was letztlich noch einen fragmentarisch-versehrten, aber immer noch, Sprachzugang zum Werk verschafft.

3. In den folgenden Akten findet die geneigte Leserin teils sehr originelle und kreative Gleichnisse, die aber das Versprechen der Über-Sprachlichkeit größtenteils einlösen und rein sprachlich isoliert "in se" nicht sinnvoll rational dechiffriert werden können. Das Zeilenüberspannende hilft an der ein oder anderen Stelle aus der Misere, indem es einen "Intuitionszusammenhang" vermittelt. Charmant sind die Leerstellen, die die geneigte Leserin immer wieder aufzufüllen versucht ist.

4. Wo das Werk m.E. brilliert sind die Momente, in denen es eine "Übersprachlichkeit" unter Beibehaltung eines Intuitionszusammenhanges vermittelt, der gleichsam den Leser inspiriert. Wo es abfällt ist an den Stellen an denen der Autor in meiner Lesart merklich "Atem holt" und Gleichnisse einstreut, die für sich genommen erfrischend, anregend und auch unterhaltsam sind, den Gesamtzusammenhang aber nicht mehr halten können. Die Anstrengung, nicht in die eigenen Abgründe zu stürzen, ist dem " Wurf" an der ein oder anderen Stelle anzumerken. Die Erschöpfung verhindert für mich - auf höchstem Niveau zwar- dann aber doch letztlich auch ein "Hölderlinisches Schließen des Kreises" (1) . Damit ALLEIN -andererseits- wäre das Werk auch nicht bezahlt gewesen.

(1)

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Bravo !

mes compliments

Dio
 
Zuletzt bearbeitet:

sufnus

Mitglied
Hi Patrick!
Werke bekommen doch häufig die Kommentare, die sie verdienen (auch wenn verletzter Künsterlstolz manchmal anderes denkt). Naja... mag eine provokante These sein (soll es auch ;) ).
Aber in diesem Fall hast Du von Dio einen Superkommentar eingeheimst (kann man Kommentare auch bewerten? muss ich gleich mal gucken) und das völlig zurecht. Große Freude!
Schickst Du eigentlich ab & an mal Sachen an "richtige" Literaturzeitschriften?
Übrigens würd ich Dio zustimmen, dass die Verve (Dio schreibt nicht unrichtig "Anstrengung") Deiner Zeilen eine "Abrundung" verhindert, was ich durchaus als Vorteil des Textes begreife. Allerdings sehe ich auch, dass nicht alle Passagen das (extrem hohe) Niveau halten können. Auch wenns schwerfällt, der Text würde von einer Kürzung profitieren und dann sind wir schon so langsam in der Oberliga, finde ich. :)
LG!
S.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Jo, Halli Hallo

Dir Dio antworte ich noch ausführlich, ich musste nur die Nacht durchmachen, weil es tausend Dinge zu tun gab und ich das erledigt wissen wollte - mein Denkvermögen geht gerade gegen Null :D

Ich muss sagen, ich habe den text in 10 Minuten geschrieben, als Übung für eine Art automatisches Schreiben, weil ich es äußerst interessant finde zu sehen, was aus mir rauskommt, wenn ich es nicht durch hundert Mechanismen filtere. Unter dieser Einschränkung sollte er auch gelesen werden.

Aber in diesem Fall hast Du von Dio einen Superkommentar eingeheimst (kann man Kommentare auch bewerten? muss ich gleich mal gucken) und das völlig zurecht. Große Freude!
Aber so was von :) Es gab übrigens mal den Kommentar des Monats, ist aber leider mit der Technikumstellung verschwunden, finde ich persönlich sehr schade, denn manche Mitglieder stecken ja wirklich Schweiß und Gehirnschmalz in ihre Kommentare, das sollte schon irgendwie ausgezeichnet werden.

Schickst Du eigentlich ab & an mal Sachen an "richtige" Literaturzeitschriften?
Zeitschriften bisher nicht, steht aber auf der to-do Liste. Ich habe es bisher nicht gemacht, weil ich erst seit etwas einem Jahr überhaupt die Ambition verspüre mit meinen Texten außerhalb der Foren an die Öffentlichkeit zu treten, da stand mir immer der Zweifel im Weg, Aber das letzte Jahr habe ich hauptsächlich Aphorismen geschrieben und kaum Gedichte. Dazu kommt noch, dass ich auch konkrete Poesie, Jandeleien, altertümliche Sonette etc schreibe, die einfach, weil sie unzeitgemäß sind, von keiner Zeitschrift genommen würden. Die verbliebenen Texte habe ich für die letzten 5 Wettbewerbe genommen, bei denen vierstellige Gewinne einzufahren waren, auch aus finanzieller Kalkulation und immerhin 2 davon gewonnen. Dieses Jahr werde ich damit weitermachen und meinen Fokus auf moderne, verkäufliche Gedichte legen um auch die Zeitschriften zu integrieren.

Allerdings sehe ich auch, dass nicht alle Passagen das (extrem hohe) Niveau halten können. Auch wenns schwerfällt, der Text würde von einer Kürzung profitieren
Mit Sicherheit! Vor allem 4 und 5 halten das Niveau nicht. Mal schaun -

LG euch beiden
ein müder, müder Geselle :D
 



 
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