Die Wahrheit über den Rattenfänger von Hameln

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Der Legende nach soll das Städtchen Hameln gegen Ende des 13. Jahrhunderts unter einer Rattenplage gelitten haben, bis eines Tages ein Mann der Bevölkerung anbot, es von den Plagegeistern zu säubern. Dieses Unterfangen soll er auf eher unorthodoxe Weise mit Hilfe einer Flöte bewerkstelligt haben, deren Klänge die Nager aus sämtlichen Löchern zu ihm und danach ihm folgend in die Weser gelockt hatten, wo die Ratten ertranken. Nach getaner Arbeit hätten sich die Bürger von Hameln aber unwillig gezeigt, ihm den vereinbarten Lohn für seine Dienste auszuzahlen, worauf der Mann erzürnt von Dannen zog. Einige Zeit später soll er jedoch in den frühen Morgenstunden wieder nach Hameln zurückgekehrt sein, wo er erneut seine Schalmei aus der Tasche zog und eine lustige Weise pfiff. Anders als vor einigen Wochen habe die Melodie dieses Mal aber nicht Ratten, sondern Kinder aus den Häusern gelockt. Mit der Flöte an den Lippen und einer Schar Kinder im Schlepptau sei der Mann daraufhin auf nimmer Wiedersehen verschwunden und habe so an den unaufrichtigen und geizigen Hamelner Bürgern seine grausige Rache geübt.

Selbst eher schlichtere Gemüter mögen sich nun die Frage stellen, ob es tatsächlich möglich ist, mit Flötenmusik Ratten nicht nur an- sondern sogar ins Verderben zu locken. Kritischere Geister mögen sich darüber hinaus wundern, dass sich angeblich über hundert Kinder unbemerkt mitten in der Stadt versammeln und sie ebenso unbemerkt gemeinsam verlassen konnten. Wobei sich diese Frage auch die eher schlichteren Gemüter stellen werden, wenn sie schon einmal nichts Böses ahnend im Zug oder Bus unterwegs waren, als an einer Haltestelle eine Grundschulklasse zustieg.

Wer auch immer seine Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Legende hegt, teilt sie mit der Wissenschaft. Die Geschichtsforschenden glauben nämlich, dass die Sage entstand, weil im Mittelalter eine Kolonisation der osteuropäischen Gebiete durch deutschsprachige Siedler, die sogenannte Deutsche Ostsiedlung, stattfand, bei der anscheinend auch viele junge Menschen wegzogen. Doch auch diese Theorie ist nicht die wahre Ursache der Legende, auch wenn dieser historische Kontext selbstredend dazu beigetragen haben kann, wie die Legende weitergesponnen und verbreitet wurde. Die wahre Ursache der Legende ist jedoch ein Mann namens Rüdiger Uhlenbrock, sein Hang zur Selbstüberschätzung und seine beschränkte musische Begabung.

Und das kam so:

Die Pfützen, die sich auch nach fünf wolkenlosen, warmen Tagen noch in den Radrinnen der Strassen hielten, wiesen einen verdächtigen Gelbstich auf und stanken in der Mittagssonne die engen Gassen zwischen den Häusern hinauf zum Himmel. Nichtsdestotrotz hatten die Bäcker, Metzger, Schneider, Schuhmacher, Schmiede und anderen Handwerker und Händler ihre Stände vor den Werkstätten aufgebaut und boten ihre Waren feil. Doch nicht nur die Kundschaft der Händler belebte die Gassen von Hameln, auch Ratten huschten zwischen den Beinen der Leute hindurch über den Schotter oder das Pflaster und verschwanden irgendwo in den zahllosen Ritzen und Spalten der Mauerwerke. Und es waren nicht wenige der Tierchen, nein eher viele, sehr viele sogar, um nicht zu sagen massenhaft viele. Alle paar Atemzüge sah man irgendwo ein graues Fellknäuel auftauchen, umherflitzen und sich wieder verkriechen. Die Bürger der Stadt entgeisterten sich jedoch schon lange nicht mehr über die Nager. Ab und an trat noch jemand nach einem allzu dreisten Exemplar, das sich zu nahe an einen Marktstand mit Käse oder Wurst gewagt hatte, oder warf mit einen Stein nach ihm, aber die überwiegende Mehrheit der Ratten konnte sich selbst an einem heiterhellen Markttag unbehelligt auf den Strassen bewegen.

Durch die übelriechenden, rattenverseuchten Gassen von Hameln schritt an jenem prächtigen Frühsommertag auch Rüdiger Uhlenbrock mit einem Topf unter dem Arm. Seine Laune war nicht minder prächtig als das Wetter, denn er hatte soeben den Schlüssel zur Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches erstanden. Ein erwartungsfrohes Kribbeln durchfuhr seinen Körper bei dem Gedanken, dass er den schwierigsten Teil seines Plans erledigt hatte und ihn somit eigentlich nichts mehr von dessen Erfüllung abhalten konnte. Die Aussicht auf eine goldene Zukunft war umso schöner, als dass ihm das Glück seit seiner Ankunft als Rattenfänger in Hameln nicht gerade hold gewesen war. Doch diese doofen Viecher brauchten ihn nun nicht mehr zu kümmern. Beschwingt holte er mit dem Bein aus und erwischte tatsächlich die Ratte, die gerade vor seinen Füssen die Gasse überqueren wollte, so dass sie in hohem Bogen über die Marktstände segelte und auf das Hausdach der Schneiders klatschte. Er deutete das als gutes Omen, denn obwohl sie in der Stadt allgegenwärtig schienen, waren die flinken Tiere - wie er aus eigener Erfahrung wusste - nur schwer zu erwischen.

Selbstverständlich hatte die Stadt alles Erdenkliche unternommen, um der Rattenplage Herr zu werden. Anfangs versuchte man allerlei Raubtiere in der Stadt anzusiedeln, denn die würden mit Sicherheit keinen Lohn für ihre Dienste einfordern. Doch weder Katzen, noch Turmfalken oder Marder vermochten das Ungeziefer merklich zu dezimieren und suchten früher oder später das Weite. Also öffneten die Stadtherren wohl oder übel doch die Schatzkammer und setzten ein Preisgeld pro Rattenschwanz aus, allerdings vorsichtshalber nicht ein allzu hohes, denn man wusste ja nicht, wie viele Trophäen da zusammenkämen. Die Entschädigung war indessen so tief angesetzt, dass bloss Kinder - und auch davon nur solche aus armen Familien - es als lohnenswert erachteten, sich auf die mühevolle Jagd nach den flinken Kriechern zu machen. Tatsächlich zeigte diese Massnahme eine gewisse Wirkung, aber nur bis die Anwerber für die Ostsiedlung in Hameln Halt machten. Viele mittellose Familien und Jugendliche folgten ihrem Ruf und tauschten ihr erbärmliches Dasein in der Heimat gegen die Hoffnung auf eine strahlende Zukunft im Osten Europas ein. So sank die Zahl der kleinen Jäger, während diejenige der Gejagten im Nu wieder anstieg. Daraufhin erhöhten die Stadtherren zwar seufzend die Preisgelder, doch das führte dazu, dass plötzlich von nah und fern sackweise Schwänze von nicht heimischen Ratten nach Hameln geschleppt und zu Geld gemacht wurden.

Weil der Rattenschwanzschmuggel kaum kontrollierbar war, wurde das Preisgeld wieder abgeschafft und die Herren der Stadt entschieden sich schliesslich widerwillig dazu, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und mit der Aussicht auf Sold Rattenfänger anzuwerben. Die Kunde der Ratteninvasion in Hameln hatte sich schon weit in der Gegend herumgesprochen, so dass die Rattenfänger im Umland schon in den Startlöchern standen und nach dem Aufruf zur Rattenbekämpfung in Scharen herbeiströmten, um das pelzige Gold zu schürfen. So schwappte nach der Invasion der Ratten eine Invasion der Rattenfänger über Hameln. Schon bald war an jeder Ecke der Stadt ein Mann anzutreffen, der eine Falle richtete, auf der Lauer lag oder mit einem Hund an der Leine die Hauswände absuchte. Es kam zu Streitereien über die Jagdgebiete, fremde Fallen wurden manipuliert, Rattenkadaver der Konkurrenten gestohlen, ihre Hunde vergiftet und nicht selten prügelten sich zwei Männer, die dieselbe Ratte verfolgt hatten, auf offener Strasse, während sich das gejagte Tier unversehrt aus dem Staub machte. Die Rattenfänger fingen an, ungefragt in fremde Häuser einzudringen, um Beute aufzustöbern oder Fussgänger wegzuweisen, weil sie ihre Beute verscheuchen könnten und einmal brannte sogar ein Dachstock ab, nachdem ein übereifriger Rattenfänger eine neue Jagdmethode ausprobiert hatte. Während mit der Anwerbung von Rattenfängern zwar die Zahl der Ratten sank, stieg im Gegenzug die Zahl der Bürgerbeschwerden markant an, weshalb die Stadtherren auch diese Idee wieder begruben, die Soldzahlungen einstellten und auf ein Preisgeld pro Rattenkadaver zurückwechselten, das allerdings seinen Namen kaum verdiente.

Die meisten Rattenfänger zogen in der Folge rasch wieder ab und es machte sich Ratlosigkeit und Resignation in Hameln breit. So fand sich die Bevölkerung schliesslich wohl oder übel mit der Situation ab und arrangierte sich mit den Plagegeistern, indem praktisch sämtliche Nahrungsmittel in der Stadt an Schnüren von der Decke oder einem Balken baumelnd aufbewahrt wurden. Einer der wenigen Rattenfänger, die in Hameln ausharrten und sich mit dem mickrigen Preisgeld über Wasser hielten, war Rüdiger Uhlenbrock. Wobei er eigentlich erst Rattenfänger geworden war, nachdem er vernommen hatte, dass die Stadt Hameln Rattenfänger suchte und bereit schien, gutes Geld für die Jagd auf die Nager locker zu machen. Zuvor hatte er in seinem Leben erst einer einzigen Ratte den Garaus gemacht, nämlich als er sich einmal zum Ausruhen auf eine morsche Kiste gesetzt hatte, worauf diese brach und er eine Ratte zerquetschte, die in der Kiste Zuflucht gesucht hatte. Aber da die Rattenfängerei kein Zunfthandwerk war und damit keinen Schutz genoss, fand Rüdiger, das sei Leistungsausweis genug und meldete sich als Rattenfänger Uhlenbrock im Rathaus von Hameln. Noch ein paar mehr von diesen kleinen Mistviechern abzumurksen, durfte ja nicht so schwierig sein.

Rüdiger war auf einem Bauerngut - knapp anderthalb Tagesmärsche von Hameln entfernt - als Sohn einer Magd aufgewachsen. Seinen Vater kannte er nicht und seine Mutter konnte oder wollte ihm nicht sagen, wer sein Erzeuger war. So gehörte Rüdiger von Geburt an zum Gesinde des Hofs und wurde schon von Kindesbeinen an für die Arbeit im Stall und auf den Feldern eingespannt. Allerdings fand er wenig Gefallen daran, von früh bis spät herumkommandiert zu werden, bei Wind und Wetter Steine aus dem Ackerboden zu klauben oder den Mist der Hoftiere zusammenzukratzen und auf den Feldern zu verteilen. Noch weniger Gefallen fand er daran, mit dem anderen Gesinde zusammengepfercht in einer verlotterten Bruchbude hausen zu müssen, gegen die der Kuhstall wie ein Prunkbau erschien, während der Bauer mit seiner Familie im behaglichen Hauptgebäude residierte. Nicht nur hinsichtlich der Unterkunft, sondern auch dem Essen und der Kleidung wurde das Gesinde vom Bauern so gering wie möglich gehalten und wenn einer aufmuckte, bekam er gleich den Stock des Meisters oder des Aufsehers zu schmecken.

Was der dämliche Bauer kann, könne er schon lange, dachte sich Rüdiger und büchste, kaum hatte er das Mannesalter erreicht, bei der erstbesten Gelegenheit aus. Er würde einfach selbst einen Hof gründen und dann wäre er derjenige, der herumkommandierte und in Saus und Braus lebte, während sich die anderen abrackerten. So lautete sein Plan und so zog er vor Tagesanbruch in die weite Welt hinaus. Dass er kein Dach über dem Kopf haben und seine aus der Vorratskammer stibitzten Vorräte nicht lange vorhalten würden, hatte er allerdings nicht so richtig bedacht. Erschöpft von zwei langen Tagesmärschen und zwei kalten Nacht unter freiem Himmel entschied er sich deshalb am Morgen des dritten Tages auf einem Stück Land unweit des Weges, das brach lag und niemandem zu gehören, aber zum Getreideanbau zu taugen schien, seinen Hof zu errichten. Aus einem nahen Gehölz schleppte er mühsam Äste und Steine herbei mit denen er einen wackligen Unterstand zimmerte, der den in der Nacht einsetzenden Regen aber in keinster Weise abhielt. Durchnässt und unterkühlt machte er sich am nächsten Morgen daran, mit der Harke und den Samen, die er hatte mitlaufen lassen, den schweren Ackerboden zu bestellen. Er hatte gerade die erste Furche gezogen und gesät, als zwei Reiter herangaloppiert kamen und fragen, was das da werde.

Erst schauten sie sich ungläubig an, als Rüdiger ihnen stolz sein Vorhaben erläuterte, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus und nachdem sie sich erholt hatten, rammte ihm einer der beiden Soldaten die gepanzerte Faust in den Bauch und der andere zog ihm mit dem Knüppel eins über. Während sich Rüdiger schmerzverzerrt am Boden krümmte, rissen die Reiter den Unterstand nieder, nahmen die Harke und das Saatgut an sich und schnauzten Rüdiger an, er solle sich schleunigst vom Acker machen. Wenn sie ihn nochmals auf dem Land ihres Vogtes erwischten, würden sie ihn windelweich prügeln. Mit nichts als seinen Kleidern am Leib schleppte sich Rüdiger daraufhin halb verhungert zum Hof zurück, wo er vom Bauern windelweich geprügelt wurde und dann wieder seinen Platz im Gesinde einnahm.

Es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass er auf den Hof zurück zu Kreuze kroch. Nachdem er sich von seinen Verletzungen erholt und vom Dasein auf dem Hof erneut die Nase voll hatte, wollte er sich als Jäger versuchen. Da musste man ja bloss einen Pfeil in einen Hirsch schiessen und schon konnte man hundert Pfund Fleisch und ein Fell verkaufen. Man durfte sich einfach nicht von den Männern des Vogtes dabei erwischen lassen. Einen Bogen mit ein paar Pfeilen und ein Jagdmesser liess er vom Hof mitgehen und zog davon in Richtung Wald. Den ersten Rothirsch, der ihm vor den Bogen lief - ein wahres Prachtexemplar - traf er aber nur am Hinterlauf, worauf ihn das verletzte Tier angriff, mit seinem mächtigen Geweih aufspiesste und gegen eine Buche schleuderte. Behindert von den unzähligen Stichwunden und Prellungen schraubte er seine Erwartungen für den nächsten Tag etwas herunter. Ein junges Wildschwein, das sich im Schlamm suhlte, kam da wie gerufen. Allerdings traf er auch dieses nicht richtig, sondern bloss in den Bauch, worauf es quiekend herumstrampelte und damit seine Rotte herbeilockte. Diese formierte sich, als Rüdiger seiner Beute mit dem Jagdmesser zu Leibe rücken wollte, attackierte ihn und trampelte ihn in Grund und Boden. Schwer gezeichnet und übersät mit Wunden kehrte Rüdiger zum Hof zurück, wo ihm der Bauer eine gewaltige Tracht Prügel verabreichte und er dann wieder seinen Platz im Gesinde einnahm.

Als er wieder genesen und des Lebens auf dem Hof erneut satt war, versuchte er sich als Fährmann. Da musste man ja nur über die Weser hin und her fahren und dafür einkassieren. Er hatte auch schon eine optimale Stelle etwas flussaufwärts von einer anderen Fähre entdeckt, wo die Reisenden Richtung Minden zuerst bei ihm vorbeikommen würden, bevor sie die andere Fähre zu Gesicht bekamen. Mit Seilen und Fässern, die er in mehreren Etappen vom Hof gestohlen hatte, und Holz, das er zentnerweise heranschleppte, baute er sich ein Floss. Als vom andern Ufer her sein erster Kunde winkte und Rüdiger zu seinem Fahrgast über den Fluss setzen wollte, blieb das Floss an einem Baumstamm, der sich irgendwo unter Wasser verkeilt haben musste, hängen. Genervt ruderte und stak Rüdiger vor und zurück, das Seil verhedderte sich immer fester, bis es schliesslich riss und sich sein selbstgebautes Floss mitten in der Weser in seine Bestandteile aufzulösen begann. Rüdiger - des Schwimmens nicht mächtig - klammerte er sich verzweifelt an ein Fass und hatte Glück, dass der Fährmann flussabwärts im Dienst war und ihn aus dem Wasser fischte, allerdings nur um ihm am Ufer eine gehörige Abreibung mit seinem Paddel zu verpassen, weil Rüdiger ihm seine Kunden hatte abspenstig machen wollen. Erschöpft und lädiert kehrte Rüdiger danach zum Hof zurück, wo ihn der Bauer nach Strich und Faden verprügelte und er dann wieder seinen Platz im Gesinde einnahm.

Wenige Monate später vernahm Rüdiger die Kunde, wonach in Hameln Rattenfänger gesucht würden und so zog er abermals weg vom Hof. Dass er nicht wie die meisten anderen, die sich in der Hoffnung auf das schnelle Geld nach Hameln begeben hatten, gleich wieder von Dannen zog, nachdem die Stadt die Rattenfänger nicht mehr bezahlte, hatte seinen Grund in Margarethe Kruse, der Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Die holde Maid war unmittelbar nach Rüdigers Missgeschick, als er auf der rasanten Verfolgung einer fliehenden Ratte über seine eigenen Füsse gestolpert und Kopfs voran in die Wand des Kruse'schen Hauses gedonnert war, aus der Tür getreten und hatte sich nach seinem Befinden erkundigt. Und wie der arg benommene Rüdiger die besorgte, helle Stimme vernahm und sich umdrehte und vom Strassenpflaster hinauf in das engelsgleiche, von blonden Locken umrahmte Antlitz der edlen Jungfer blickte, war es um ihn geschehen. Er lächelte selig und nickte dem zauberhaften Geschöpf zu, was Margarethe als Bestätigung für sein Wohlergehen zu interpretieren schien, denn sie lächelte nickend zurück und ging fort.

Rüdiger wollte ihr nachrufen, dass ihm der Schädel brumme, die linke Hand verstaucht sei und er sich einen Zahn ausgeschlagen habe, doch er brachte nur ein unverständliches Gelalle hervor, womit er sich von der alten Hausmagd, die Margarethe begleitete, einen Rüffel einbrockte, was er sich eigentlich erlaube, am helllichten Tag stockbesoffen auf der Strasse herumzulümmeln. Als er sich mühsam aufgerappelt hatte, war seine Angebetete bereits hinter der Strassenecke verschwunden und Rüdiger nahm schwankend die Verfolgung auf. Er bog ebenfalls um die Ecke und sah eben noch wie Margarethe die Metzgerei betrat, als er direkt den Manzauer Brüdern in die Arme lief, denen er vor zwei Tagen eine Rattenfalle geplündert hatte. Aufgrund deren breiten Grinsen und geballten Fäusten stand zu befürchten, dass sie die Wahrheit herausgekriegt hatten. Im Gegensatz zu damals, als er sich blitzschnell aus dem Staub gemacht hatte, war in seinem aktuellen Zustand an eine Flucht nicht zu denken und die Manzauer Brüder verdroschen Rüdiger nach allen Regeln der Kunst. Wie lange Rüdiger danach benommen im Strassenstaub lag, vermochte er nicht zu sagen, aber als er seine sieben Sinne wieder einigermassen beisammenhatte, erkannte er Margarethe Kruse mit einem gezwungenen Lächeln an ihm vorbeigehen, gefolgt von der alten Schachtel von Magd, die keifte, wie unerhört es sei, dass dieser unverschämte Trunkenbold immer noch auf offener Strasse herumlungere.

Kurze Zeit später wurde die Nachricht verkündet, dass die Stadtherren den Sold für die Rattenfängerei einzustellen gedachten und bloss wieder ein Entgelt pro Rattenkadaver boten, wofür es sich allerdings kaum lohnte, einen Finger zu krümmen. Rüdiger hatte zu diesem Zeitpunkt indessen schon kaum mehr den Ratten nachgestellt, sondern vielmehr der Frau seiner Träume. Gleich am Morgen nach ihrem ersten Zusammentreffen war Rüdiger zum Haus, von dessen Mauern Festigkeit er sich am Vortag überzeugt hatte, zurückgekehrt und hatte so den Wohnort und den Namen seiner Angebeteten herausgefunden. Von da an nahm er jeweils im ersten Licht des Tages seine Position auf der Strasse, an der die Kruses wohnten, ein und strich um das Haus herum, wie die Katze um das Mäuseloch. Unauffällig spähte er durch die Fenster und über den Gartenzaun und heftete sich seiner Angebeteten an die Fersen, sobald sie ihr Heim verlassen hatte. So brachte er nach und nach in Erfahrung, womit sie ihre Zeit verbrachte. Doch all diese Dinge fanden zu Rüdigers Verdruss an Orten oder in Kreisen statt, zu denen Einlass zu erhalten, ein Mann von seinem Stand nicht einmal zu träumen wagte. Margarethe auf der Strasse oder auf dem Markt anzusprechen, war ebenfalls ein Ding der Unmöglichkeit, weil sie das Haus niemals ohne Begleitung eines Familienmitglieds oder des alten Hausdrachens verliess. Rüdiger musste sich daher etwas einfallen lassen, wenn er dem Objekt seiner Begierde näherkommen wollte.

Neben der Haus- und Gartenarbeit, Kränzchen mit ihren Freundinnen und gesellschaftlichen Anlässen mit ihrem Vater verbrachte Margarethe die meiste Zeit mit Musizieren, was sie entweder mit der Fidel oder der Querflöte tat. An diesem Punkt setzte Rüdigers Plan an. Mit Musik würde er zuerst ihre Aufmerksamkeit, dann ihr Interesse und schliesslich ihr Herz gewinnen. Der Plan war so simpel, wie genial und er brauchte sich dazu bloss ein Instrument zu besorgen und zu lernen, wie man darauf spielte. Erst versuchte er selbst eine Flöte zu schnitzen, doch egal wie fest er in den Stab pustete, es kam kein Ton heraus. Eine Fidel zu basteln scheiterte schon im Ansatz und die wackelige Harfe, die er mit Müh und Not zusammengeschustert hatte, brachte zwar Töne hervor, aber keine, die auch nur entfernt an Musik erinnerten. So blieb Rüdiger keine andere Wahl, als käuflich ein Instrument zu erwerben. Mit dem kümmerlichen Verdienst, den die Rattenfängerei nach der Kehrtwende der Stadtherren noch einbrachte und von den paar wenigen zahlungsbereiten privaten Kunden kaum merklich aufgebessert wurde, hätte es Jahre gedauert, um das Geld für eine Fidel, eine Laute oder eine Harfe zusammen zu sparen.

Umso grösser war Rüdigers Erleichterung, als er im Laden vom nahezu blinden Trödler Walz beim Herumstöbern in den Regalen auf eine verstaubte Schalmei stiess, die aus einem zerdepperten Nachttopf ragte. Unschuldig erkundigte er sich beim alten Walz, wie viel er für den alten Nachttopf da noch haben wolle und freute sich diebisch, als ihm dieser antwortete, den gebe er günstig ab, das sei nämlich sein eigener gewesen, den er jahrzehntelang benutzt habe. Höhnisch grinsend verliess Rüdiger den Trödelladen und trat frischen Mutes und voller Zuversicht hinaus in die Marktgasse. In der Gewissheit den Schlüssel zur Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches bei sich zu tragen, stolzierte er beschwingt zwischen den Marktständen hindurch und trat eine vorbeihuschende Ratte bis auf das Hausdach des Schneiders.

Sobald er sich ausser Hörweite des Trödlers wähnte, zog er gleich die Schalmei aus dem Nachttopf und setzte sie sich ungeduldig an die Lippen, um gleich darauf angewidert auszuspucken. Ein Blick in das Gefäss bestätigte den schlimmen Verdacht, nämlich dass der Nachttopf noch einen Inhalt gehabt haben musste, als die Schalmei hineingesteckt worden war. Vom Ekel gepackt hastete er runter zur Weser, wo er zuerst den Mund und dann das Instrument ausspülte. Erst als er die Schalmei aber mit etwas Lauge, die er sich von zwei Waschweibern erschnorrt hatte, gründlich gereinigt hatte, wagte er sich das Mundstück wieder an die Lippen zu führen. Töne kamen zwar heraus - je nachdem welche Löcher er zudrückte wohl sogar in unterschiedlichen Tonlagen -, nicht jedoch die gewünschte Melodie. Es war ein kräftiger Luftstoss von Nöten, damit überhaupt ein Pfiff ertönte und so pustete und blies Rüdiger aus Leibeskräften, bis eines der beiden Waschweiber schrie, diese Katzenmusik sei ja nicht auszuhalten, er solle in Gottes Namen anderswo üben gehen, aber bitte weit weg. Schmollend zog der Unerwünschte von Dannen, aber auch am nächsten und am übernächsten Ort, wo er zu seinen Flötenübungen ansetzte, dauerte es nicht lange, bis er fortgewiesen wurde.

Als sich auch im Hinterhof, in den er sich zu guter Letzt zurückgezogen hatte, um endlich ungestört üben zu können, schon nach wenigen Minuten eine Stimme meldete und fragte, was das da draussen für ein Lärm sei, wurde es Rüdiger zu bunt und er beschloss, diese Banausen ab sofort einfach zu ignorieren. Angestrengt flötete er weiter die falschesten Töne die umstehenden Hauswände empor. Das schien selbst die Ratten, die sich anfänglich unbeeindruckt von Rüdigers Ankunft in grosser Zahl im düsteren und von Unrat übersäten Hinterhof getummelt hatten, nach und nach dazu zu veranlassen, sich zu verkriechen. Nun reiche es aber langsam, da werde man ja wahnsinnig bei diesem Getröte, drang die nörgelnde Stimme erneut aus dem Haus hinter Rüdiger und er hörte, wie über ihm ein Fensterladen quietschte und ihm eine Frauenstimme befahl, schleunigst mit dem Krach aufzuhören. Doch der Angesprochene ignorierte die Aufforderung und blies trotzig weiter in seine Schalmei. Zwischen seinen schiefen Tönen hindurch, meinte er noch einen Moment lang die geifernde Frauenstimme zu hören, aber schliesslich wurde der Fensterladen mit einem lauten Knall zugeschlagen. Na also, dachte sich Rüdiger zufrieden, so sei diesen Miesepetern beizukommen.

Doch der Frieden währte nicht lange. Auch aus den anderen Häusern liessen sich je länger je mehr erzürnte Stimmen vernehmen, die sich beklagten und den Ruhestörer aufforderten woanders zu üben, einfach abzuhauen oder sich gefälligst zum Teufel zu scheren. Rüdiger liess sich jedoch nicht beirren und traktierte sein Instrument munter weiter, bis er etwas an seine Schulter prallen und dort zerfleddern fühlte. Eine verfaulte Birne klebte an seiner Kutte. Zum Trotz pustete er noch stärker in die Flöte, worauf erst vereinzelt aus demselben Fenster, dann immer häufiger aus immer mehr Fenstern immer mehr Wurfgeschosse folgten, bis schliesslich von allen Seiten verdorbenes Gemüse, matschige Früchte, verschimmelte Grütze, faule Eier, ranzige Butter und vergammelte Innereien auf ihn niederprasselten. Doch der Musikant hielt stand und spielte weiter. Erst als über ihm wieder der Fensterladen aufschwang und sich ein Eimer voll undefinierbarer zähflüssiger Brühe mit noch undefinierbareren Brocken drin über ihn ergoss, hatte er die Schnauze voll und begann wie ein Rohrspatz zu fluchen. Sollten sie doch alle zusammen an der Pest krepieren, die miese Bande, von Kunst hätten sie nicht nur keine, sondern überhaupt rein gar keine Ahnung, das elendes Banausenpack, sie würden ja nicht einmal den Unterschied zwischen einem Flötenton und einem Furz erkennen. Solche und mancherlei Beleidigung und Verwünschung mehr brüllte Rüdiger wutentbrannt zu den Fenstern des Hinterhofs hinauf, aus denen die Anwohner zurückfluchten und weiter mit Unrat nach ihm warfen. In seinem Frust trat Rüdiger nach den Ratten, die sich angelockt von den Lebensmitteln wieder aus den Löchern gewagt hatten, um sich daran zu laben. Er werde ihm jetzt die Flötentöne beibringen, hörte Rüdiger plötzlich eine tiefe Männerstimme hinter sich dröhnen, sah aus den Augenwinkeln gerade noch eine grosse Männergestalt zum Schlag ausholen und spürte dann eine kräftige Männerfaust, die ihn ins Reich der Träume beförderte.

Es war ein schöner Traum. Er lag an einem strahlend blauen Frühlingstag neben Margarethe in einer blühenden Blumenwiese. Die Bienen summten, die Vögel zwitscherten und in der Ferne plätscherte lustig ein Bächlein. Die beiden Verliebten kuschelten sich aneinander und Margarethe neckte Rüdiger liebevoll mit einem Grashalm. Erst streichelte sie ihm damit sanft über die Haut und piekte ihn dann mit dem Stiel leicht in die Seite. Was für ein wunderbares Gefühl das war. Sie piekte noch einmal und noch einmal, jedes Mal ein wenig fester, und immer weiter, an den Armen, den Beinen, den Füssen, immer wieder und wieder, fester und fester, bis Rüdiger mit einem Schmerzensschrei aus seiner Ohnmacht auffuhr. Er griff sich reflexartig an den Unterarm, wo ihn seine Traumfrau zuletzt gestochen hatte und hielt unvermittelt etwas Pelziges, Zappelndes in den Händen. Erschrocken schleuderte Rüdiger die Ratte weg, als er an der Wade schon den nächsten Schmerz verspürte. Er schlug mit dem Bein aus und ein weiterer Nager flog durch die Luft. Verwirrt blickte Rüdiger um sich und sah sich umzingelt von einer Schar aufgekratzt wirkender Ratten. Einige der kleinen Viecher krabbelten sogar auf ihm herum. Schon spürte er erneut einen Biss und gleich darauf den Nächsten. Angeekelt schüttelte er die Plagegeister ab und rappelte sich ungelenk auf. Sein Schädel brummte und jede Bewegung tat ihm weh. Wie es schien hatte ihm der Schläger, während er ohnmächtig im Dreck lag, noch ein paar Fusstritte verabreicht.

Wenn Rüdiger gemeint hatte, die Ratten würden sich verziehen, wenn er wieder einigermassen bei Sinnen und auf den Beinen wäre, sah er sich schwer getäuscht. Die kleinen Monster drängten unbeirrt an ihn heran und liessen auch nicht von ihm ab, als er nach ihnen zu treten begann. Irgendetwas an der schleimigen, stinkenden Sosse, mit der er überzogen war und die immer noch an ihm heruntertriefte, schien die Mistviecher regelrecht aufzugeilen, denn für jedes von ihnen, das er wegbugsierte, rückten zwei Neue nach. Im Hinterhof wimmelte es mittlerweile von den kleinen Biestern, die allesamt geradewegs in Richtung Rüdiger strömten. Diesem drehte sich immer noch alles vor Augen und beinahe am ganzen Körper spürte er heftige Schmerzen. Er bückte sich mühevoll nach seiner Flöte und nahm dann hinkend Reissaus.

Zurück auf der Gasse setzte er sein Instrument wieder an die Lippen und schlurfte traurig vor sich her pfeifend davon. Ihm war klar geworden, dass er als Kunstschaffender in dieser verfluchten Stadt von mindermittelten Banausen umgeben war und sich keinen Applaus erhoffen durfte. Deshalb achtete er auch nicht weiter darauf, dass ihm die Passanten aus dem Weg gingen und ihn entweder entgeistert anglotzten oder schadenfreudig angrinsten. So schlurfte er nichtsahnend in Richtung Fischpforte, als ihn plötzlich etwas in die Ferse zwackte. Ungläubig wandte sich Rüdiger um und sah hinter sich eine Rattenkolonne, die bis zum Ausgang des Hinterhofs zurückreichte. Dutzende der Viecher waren ihm aus dem Hinterhof hinaus auf die Strasse gefolgt. Bei diesem Anblick wurde ihm endgültig angst und bange und er nahm die Beine in die Hand. Doch stechende Schmerzen in Knie, Hüfte und Rippen und ein heftiger Schwindelanfall erinnerten ihn schon nach wenigen Schritten an seinen erbärmlichen Zustand. Im Laufschritt zu entwischen, war ein Ding der Unmöglichkeit. In der Not stolperte er, so schnell es seine Verletzungen zuliessen, die Gasse runter, doch die Ratten vermochten mit ihm Schritt zu halten. Immer wieder gelang es einem der Tiere, nach Rüdigers Ferse zu schnappen oder sich an seinem Hosenbein festzukrallen und daran hoch zu klettern.

Margarethe solle sich in Acht nehmen und zur Seite treten, da torkle schon wieder dieser dauerbesoffene Tunichtgut durch die Gassen, hörte Rüdiger von der linken Strassenseite eine ihm bekannte Stimme wettern, als er sich gerade einen kleinen Vorsprung auf seine Verfolger herausgearbeitet hatte. Das durfte ja wohl nicht wahr sein, dass seine Angebetete ihn in diesem erbärmlichen Zustand zu Gesicht bekam, dachte Rüdiger verbittert, und diese olle Petze von Hausmagd musste es natürlich noch lauthals durch die Gassen schreien. Kurzentschlossen trat er deshalb vor Margarethe hin, um dieses Missverständnis aufzuklären. Er sei nicht betrunken, er sei Musiker, beteuerte Rüdiger und zog als Beweis seine Schalmei hervor und bliess hinein. Doch er hatte kaum den ersten Ton gespielt, als ihn die erste Ratte schon wieder eingeholt hatte und er spürte, wie sie innen an seinem Hosenbein hinaufzuklettern versuchte. Panisch schüttelte Rüdiger den Eindringling mit zuckenden Bewegungen wieder raus, bevor er die Lendengegend erreichen konnte, geriet dabei allerdings ins Straucheln und plumpste rücklings hin. Im Nu fielen die nachfolgenden Ratten über ihn her und er wälzte sich kreischend am Boden, während die alte Magd Margarethe bei der Hand nahm und fortzog.

Verzweifelt pfiff Rüdiger weiter in die Flöte, während er sich der Ratten erwehrend wieder aufrichtete. Er wollte wieder zu seiner Angebeteten hin, doch die Ratten strömten in Scharen nach und trieben ihn fort. Immer wieder drehte er sich nach Margarethe um und spielte nochmals ein paar Töne, bis er sie hinter einer Mauer aus den Augen verlor.

Schreiend, um sich tretend und Ratten von sich werfend schaffte es Rüdiger schliesslich bis zur Weser, wo er an den beiden Waschweibern vorbei mit seinen tierischen Verfolgern im Schlepptau direkt in den Fluss humpelte und er im Gegensatz zu den schwimmkundigen Ratten beinahe ertrunken wäre. Er hatte Glück, dass einer der Schaulustigen, die ihm und der Rattenschar in sicherem Abstand gefolgt waren, irgendwann ein Einsehen hatte und dem Unglücksraben einen Stock reichte, an dem er sich aus dem Wasser ziehen konnte. Noch lange nachdem der durchnässte Rüdiger es röchelnd ans Ufer geschafft hatte und erschöpft da lag, standen die schadenfrohen Gaffer um ihn herum und machten sich über ihn lustig.

Als er am folgenden Tag seinen Bretterverschlag verliess, musste er feststellen, dass er über Nacht stadtbekannt geworden war. Wo auch immer er sich Blicken liess, begannen die Menschen zu tuscheln, zeigten mit dem Finger auf ihn und begannen zu kichern. Traurig setzte er sich in eine ruhige Ecke, zog seine Flöte hervor und begann zu spielen, als ihn der Spott eines Passanten plötzlich auf eine Idee brachte. Der meinte nämlich gereizt, wenn er dieses Gedudel höre, verwundere es ihn nicht weiter, dass die Ratten Massenselbstmord begangen hätten. Ein Versuch könne nicht schaden, sagte sich Rüdiger und humpelte zum Rathaus, wo er beim Bürgermeister vorsprach. Wie der hochverehrte Herr Bürgermeister wahrscheinlich bereits mitbekommen habe, habe er, der emsige Rattenfänger Rüdiger Uhlenbrock, gestern mindestens fünfhundert Ratten den Garaus gemacht, liess Rüdiger erwartungsfroh verlauten. Doch der Bürgermeister wollte davon nichts mitbekommen haben. Er könne zwar keine Schwänze als Beweis vorlegen, versuchte es Rüdiger weiter, aber es seien hunderte von Augenzeugen vor Ort gewesen, die beobachtet hätten, wie er die Viecher in die Weser gelockt habe. Da er wisse, dass die Stadt knapp bei Kasse sei, sei er generöserweise bereit, sich bloss mit dem halben Preis pro Ratte zufrieden zu geben. Das treffe sich ja hervorragend, antwortete der Bürgermeister, denn die Hälfte von null Pfennig sei null Pfennig und fünfhundert Mal null Pfennig seien immer noch null Pfennig und null Pfennig könne Rüdiger auch bei seiner Grossmutter abholen gehen und nun solle er sich schleunigst aus dem Staub machen, sonst lasse er ihn rauswerfen. Als Rüdiger sein Angebot auf einen Viertel des Preises senkte, rief der Bürgermeister nach den Wachen, die sogleich herbeieilten, Rüdiger eine Ladung Fausthiebe verabreichten und ihn dann die Treppe runterschmissen.

Nach dieser Abfuhr hatte Rüdiger die Schnauze endgültig voll und wollte nur noch weg und selbst ein Dasein auf dem Hof als der Geringste unter den Gesindeleuten erschien ihm in diesem Moment erstrebenswerter als auch nur noch eine Minute länger in Hameln zu verweilen. Lauthals verfluchte er die Stadt und ihre banausenhaften, geizigen und undankbaren Bürger als er mit seinen sieben Sachen über der Schulter davon stampfte und er schwor sich, nie wieder einen Fuss in dieses Dreckloch zu setzen. Abgekämpft und frustriert traf Rüdiger zwei Tage später wieder am Bauernhof ein, wo er vom Bauern sogleich eine vaterländische Tracht Prügel kassierte und dann wieder seinen Platz im Gesinde einnahm. Wie sich herausstellte, war das Leben auf dem Hof in der Zwischenzeit keinen Deut besser geworden, weshalb Rüdigers Motivation schon nach wenigen Tagen wieder am Tiefpunkt angelangt war. Abermals wuchs der Wunsch in ihm, diesem Elend zu entfliehen und seine Gedanken kehrten immer öfter und unbändiger zu Margarethe zurück. Hätte er doch nur eine einzige faire Chance gekriegt, seiner Herzallerliebsten zu beweisen, was für ein toller Hecht er war, grämte er. Dann wäre nicht nur Margarethe jetzt die Seine, sondern er könnte auch bei seinem Schwiegervater ins Geschäft einsteigen, es übernehmen und stinkreich werden.

Das Verlangen nach Margarethe und einem sorgenfreien Leben in Saus und Braus wuchs mit jedem Tag, an dem er frierend auf seinem Strohsack neben der zugigen Bretterwand aufwachte, sich von morgens früh bis abends spät auf den Feldern oder im Stall abrackerte und neben den stinkenden, fast zahnlosen Gesindeweibern am Esstisch sass. Eines Nachts hatte er einmal mehr genug, packte kurzentschlossen seine Habseligkeiten zusammen und schlich in der Dunkelheit davon. Auch seine Schalmei, die er seit seinem Abgang aus Hameln nicht mehr angefasst hatte, trug er bei sich und als er in der Morgendämmerung die Strasse Richtung Hameln erreichte, zog er sie hervor und begann mit frischem Mut wieder zu üben. Zurück in Hameln fand er, er habe auf dem Weg hierhin schon beträchtliche Fortschritte im Flötenspiel erzielt und das zeige doch mal wieder, wozu er fähig sei, wenn man ihn nur machen liesse. Er rechnete noch mit einer knappen Woche zum Üben, dann wäre die Zeit reif, sein Können unter Beweis zu stellen und Margarethe mit einer romantischen Melodie aus seiner Schalmei zu bezirzen.

Laut seinem ursprünglichen Plan hätte er die Tage zum Üben aus Sicherheitsgründen vorerst noch ausserhalb der Stadtmauern verbracht, doch nun, da er seiner Liebsten so nah war, zog es ihn mit Haut und Haaren wieder in das Städtchen, um nach der Zeit der Trennung, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte, wieder einmal einen Blick vom Objekt seiner Begierde zu erhaschen. Mindestens zwei Dutzend Mal stolzierte er die Gasse vor dem Kruse'schen Haus rauf und runter, ohne dass sich seine Herzensdame gezeigt hätte und mit jedem Durchgang wuchs sein Verlangen nach ihr weiter, bis er es kaum mehr aushielt und sich entschloss, dem Schicksal auf die Sprünge zu helfen. In betont lässiger Haltung bezog er auf der gegenüberliegenden Strassenseite Stellung und zog seine Flöte aus der Tasche. Wenn sie ihn spielen hörte, würde sie mit Sicherheit ans Fenster oder gar aus dem Haus treten und nachschauen, welcher Virtuose da seiner Schalmei derlei zauberhafte Klänge zu entlocken vermochte.

Ein entsetzliches Quietschen drang plötzlich von der Strasse her durch die enge Zwischengasse hinter die Weinfässer zu Hubertus und seiner Bande. Sie hatten endlich ein Loch in eines der Fässer gekriegt, das gross genug war, um ein Schilfrohr durchzustecken. Nun sogen die Knaben abwechslungsweise an dem Rohr und verleibten sich den Inhalt des Fasses ein. Hubertus überkam bereits eine leichte Übelkeit, deshalb kam es ihm nicht ungelegen, dass er nachschauen gehen konnte, woher der Lärm kam. Als er um die Hausecke spähte, hellte sich sein Gesicht auf. Er rannte zu seinen Freunden zurück und verkündete in heller Aufregung, da stehe doch tatsächlich der Jammerlappen auf der Strasse, der vor einigen Wochen von den Ratten durch die Stadt gejagt worden sei, und quäle eine Flöte. Die anderen Jungen waren begeistert von dieser Neuigkeit. Die Geschichte vom Rattenfänger, der von den Ratten in die Flucht geschlagen wurde, hatte für allgemeine Erheiterung gesorgt in Hameln. Insbesondere halbwüchsige Jungen amüsierten sich köstlich darüber, dass ein erwachsener Mann wie ein Mädchen kreischend vor ein paar kleinen Tierchen davonrannte. Hubertus, der zusammen mit seiner Mutter tatsächlich Augenzeuge der Geschehnisse geworden war, hatte sie vor seinen Freunden so oft zum Besten gegeben, dass mittlerweile jeder der Jungen das Gefühl hatte, er wäre selber vor Ort gewesen.

Der Plan war rasch geschmiedet. Während einige Knaben davoneilten, um ihre Geschwister und Freunde von der sensationellen Rückkehr Rüdigers zu unterrichten und sie aufzufordern sich ihrem Unterfangen anzuschliessen, machte sich Hubertus mit den übrigen Bandenmitgliedern auf, um schon mal ein paar Ratten einzufangen. Wahrscheinlich würde schon eine einzige reichen, um den Schwächling schreiend wegrennen zu sehen, aber je mehr, desto besser konnte man ihm die Fluchtwege versperren. Damit er nicht plötzlich fortginge, bevor sie genügend Ratten beisammenhatten, sollten sich schon einige Kinder um ihn herum versammeln und so tun, als ob ihnen sein schreckliches Gepfeife gefallen würde.

Es war keine zehn Minuten her, seit Rüdiger seine Schalmei hatte ertönen lassen, als schon die ersten Zuhörer hinzutraten. Nun hatte Rüdiger die endgültige Gewissheit, dass er ein Naturtalent im Flötenspiel war und bliess umso überschwänglicher in sein Instrument. Vom Hause der Kruses her konnte er zwar noch kein Lebenszeichen von Margarethe erkennen, doch wenn sich Leute um ihn scharten, konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie auf ihn aufmerksam werden würde, zumal immer mehr Publikum herbeiströmte. Ein klein wenig erstaunt war Rüdiger schon, denn er musste zugeben, dass er noch nicht ganz alle Töne perfekt traf, aber wahrscheinlich gab halt seine Ausstrahlung den Ausschlag. Zwar fiel ihm auf, dass sein Publikum fast ausschliesslich aus Kindern bestand, doch das war ihm einerlei, solange sie nur weiterhin so laut und wild klatschten und johlten und damit Margarethes Interesse auf sich zogen, ohne ihr dabei die Sicht auf ihn zu versperren.

Seine Angebetete liess jedoch weiter auf sich warten. Im Hause der Kruses regte sich nichts. Dagegen regte sich drei Lieder später unter seiner Zuhörerschaft etwas. Zwei Jungen trat aus der Menge hervor und stellten einen zuckenden Korb mit einem Deckel drauf vor Rüdiger ab. Dann löste sich ein anderer Knabe aus der Menge, schritt auf den Korb zu und gab ihm einen Tritt, so dass er umkippte und ausleerte. Zu Rüdigers Erstaunen purzelten ihm aus dem Korb ein Haufen Ratten entgegen. Ihm war völlig schleierhaft, was diese Darbietung bezwecken sollte. Vielleicht hatten die Kinderchen sich seiner ja als erfolgreicher Rattenfänger erinnert und wollten ihm auf diese Weise huldigen, überlegte er sich kurz, aber eigentlich war es ihm ja piep egal, was die ollen Knirpse da trieben, schliesslich beabsichtigte er nur Margarethes Aufmerksamkeit zu gewinnen. So flötete er unbeirrt weiter, während die Ratten konfus vor seinen Füssen durcheinanderwirbelten und versuchten zwischen den Beinen der Kinder hindurch zu entwischen.

Warum kreischte der Kerl denn nicht panisch auf und versuchte weg zu rennen, wunderte sich Hubertus genervt, nachdem die Ratten wie wild um Rüdiger herumstoben und von der umstehenden, dichtgedrängten Kinderschar daran gehindert wurden zu fliehen. Sein Plan hatte wie am Schnürchen geklappt und mittlerweile hatten sich die Kinder der halben Stadt hier versammelt. Vor seinem geistigen Auge war Hubertus schon auf die Schultern gehoben und als grosser Held gefeiert worden, als er vor allen Kindern dem Korb lässig einen Tritt verpasst hatte, doch diese Pappnase machte einfach keine Anstalten in Panik zu verfallen. Die Kinder, die nicht damit beschäftigt waren die Ratten zurückzuhalten, wurden ebenfalls langsam unruhig und Hubertus hörte bereits erste Ausrufe der Enttäuschung und Verärgerung aus den hinteren Reihen. Sein Jähzorn wuchs gleichermassen rasant an wie die Furcht als Versager dazustehen, falls der Blödmann nicht bald vor Angst ausflippen würde. Er sah bloss noch einen Ausweg, packte eine Ratte und warf sie dem Flötenspieler mitten in die Visage. Hinter sich erhob sich lautes Gelächter und Gegröle. Das war ja gerade noch mal gut gegangen, dachte Hubertus erleichtert, als schon die zweite Ratte durch die Luft segelte.

Einen Augenblick lang war Rüdiger völlig perplex. Was zur Hölle war bloss in diesen kleinen Satansbraten gefahren, einen Korb voller Ratten anzuschleppen und ihn dann damit zu bewerfen, ging es ihm durch den Kopf. Doch er hatte nicht lange Zeit darüber nachzudenken, denn schon prallte eine weitere Ratte an seine Brust, gefolgt von der nächsten und übernächsten. Rüdiger wusste nicht wie ihm geschah und hob abwehrend die Arme vors Gesicht. Eine Ratte nach der anderen flog ihm entgegen, begleitet vom schrillen Geschrei und Gejohle der Flegel, die ihn umzingelte. Doch als eine kurze Feuerpause einsetzte, holte er zum Gegenschlag aus. Zuerst haute er dem kleinen Giftzwerg, der alles angezettelt hatte, seine Schalmei in die Fresse, dann stürzte er sich geradewegs in die Kindermenge und schlug und trat wild um sich. Es fing gerade an so richtig Spass zu machen, wahllos kleine Gören zu verdreschen, als ihn ein Stein in den Rücken traf.

Rüdiger liess von den beiden Jungen ab, denen er soeben die Köpfe zusammengerammt hatte und fuhr wutentbrannt um, entschlossen das Miststück, das den Stein geworfen hatte, windelweich zu prügeln. Wie er aber sah, dass sich weit über fünfzig Rabauken gleichzeitig zur Strasse runterbückten, stutzte er, hob beschwichtigend die Hände und setzte behutsam, Schritt für Schritt zum Rückzug an. Die mit Steinen bewaffnete Kinderhorde rückte drohend nach. Obwohl es sich bei den meisten Steinen auf der Strasse bloss um grössere Kiesel handelte, war bei einer solchen Menge nicht zu spassen, zumal Rüdiger beunruhigt beobachtete, wie einige aus der Teufelsbrut ihre Steinschleudern zückten. Er hatte die Hausecke, hinter der er sich aus dem Staub zu machen gedachte, schon fast erreicht, als der kleine Dreckskerl plötzlich losbrüllte, worauf sich ein Steinschauer erhob und auf Rüdiger niederging. Dieser machte kehrt und stob davon, um die Hausecke herum, wo er mit Margarethe und ihrer Magd zusammenstiess, die gerade vom Fischmarkt heimkehrten. Reflexartig zog Rüdiger seine Schalmei hervor und begann seiner Liebsten ein Ständchen zu spielen. Doch nach drei Tönen bogen schon die ersten Kinder um die Ecke.

Tapfer pfiff Rüdiger, bald davonrennend, bald sich nach Margarethe umdrehend und den Steingeschossen ausweichend, weiter auf seiner Flöte bis zum Ende der Strasse, wo er von der Kinderhorde weiter durch das Stadttor hindurch und dann über die Felder bis zum Wald gejagt wurde, in dem er schliesslich im Dickicht entkommen konnte. Obwohl er später noch des Öfteren darüber sinnierte, fand Rüdiger, es könne nicht ihm angelastet werden, dass das Wolfsrudel, das durch das Geschrei seiner Verfolger aus dem Schlaf geschreckt wurde, die Kinder als leichtere Beute als ihn erachtet hatte.
 

Hagen

Mitglied
Hallo Sandro,

Deine Geschichte vom Rattenfänger habe ich mit Spannung und nicht minderem Interesse gelesen.
Endlich mal eine saubere, gut in einer Geschichte verpackte Recherche!
Chapeau.
Ich wünsche mir mehr davon, denn sowas finde ich in der Lupe sonst leider nicht.

Nun denn, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib schön fröhlich, gesund und munter, guten Willens sowie guter Dinge, moralisch einwandfrei, weiterhin positiv motiviert, denke keine negativen Gedanken sondern an Dein Karma und sei stets heiteren Gemütes! Sei zufrieden mit dem was Dir beschieden, zudem stets von reiner Seele, tanze keine Regentänze mehr, lüge niemals und erzähle keine dreckigen Witze!

Herzlichst
Yours Hagen
________________________________________
Merke: Wenn ich mir die Menschheit so anschaue, verfestigt sich bei mir die Auffassung das der Intelligenzquotient aller Menschen eine Konstante ist; - lediglich die Bevölkerungszahl wächst!
 

Lokterus

Mitglied
Vielen Dank Sandro,

du hast mir ein wunderbares Leseerlebnis bereitet. Die Geschichte um Rüdiger Uhlenbrock ist ein heiteres, gut ausgearbeitetes Werk mit einer etwas umständlichen Sprache, in die man jedoch nach anfänglicher Überwindung schnell hineinwächst und daran sogar Gefallen findet.

Es macht einen Heidenspaß Rüdiger bei seinen Versuchen zu begleiten, einen Platz in der Welt zu finden. Trotz unzähliger Rückschläge (und Prügeleinheiten), gibt unser Held doch niemals auf und verfolgt unbeirrt seine Ziele. Ein sympathischer Tunichtgut in einer wunderbaren Neuinterpretation des Ratenfängers von Hameln.

Mir sind eigentlich nur zwei Stellen im Text aufgefallen, mit denen ich unglücklich war:

Abgekämpft und frustriert traf Rüdiger zwei Tage später wieder am Bauernhof ein, wo er vom Bauern sogleich eine vaterländische Tracht Prügel kassierte und dann wieder seinen Platz im Gesinde einnahm.

Was genau ist eine „vaterländische“ Tracht Prügel? Oder meintest du „väterlich“?

Zuerst haute er dem kleinen Giftzwerg, der alles angezettelt hatte, seine Schalmei in die Fresse, dann stürzte er sich geradewegs in die Kindermenge und schlug und trat wild um sich.

In der Gesamtbetrachtung der verwendeten Sprache, erscheint das Wort „Fresse“ hier etwas ungünstig. Vielleicht ziehst du in Betracht es durch ein anderes zu ersetzen.

Sonst habe ich nichts zu meckern.

Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
loki
 



 
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