Die Wahrheit über meinen Tod

Die Wahrheit über meinen Tod

(Bericht eines Geisteskranken)


© Rolf-Peter Wille


Sie mögen mich Hu nennen. Meinen wirklichen Namen möchte ich jedoch lieber verschweigen. Man nennt mich einen Betrüger, einen wahren Scharlatan. Meine Feinde haben mir einen heuchlerischen Lebenswandel vorgeworfen. Meine Freunde jedoch nennen mich einen Geisteskranken. Sie werden vielleicht annehmen, daß ich diesen Bericht zu meiner Rechtfertigung schreibe — doch nichts liegt mir ferner. Wer einmal in einen wahren Abgrund gefallen ist, erhebt sich nicht so leicht wieder. Ich bedarf keiner Rechtfertigung mehr, und das ist sogar in gewissem Sinne eine Erleichterung.

Vor nicht allzulanger Zeit war ich ein angesehener Klavierprofessor in meiner Heimatstadt gewesen. Ich kann sogar ohne übertriebenen Stolz behaupten, daß ich nach Jahren ehrgeiziger Arbeit nicht nur einen guten Ruf sondern sogar eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, welche die Grenzen unserer Stadt bereits überschritten hatte. Doch war mir das Schicksal nicht günstig gesinnt. Ich wurde in einen peinlichen Skandal verwickelt, dessen genauere Umstände ich ihnen ersparen möchte. Es genügt zu sagen, das einige meiner Neider diese Begebenheit zum Vorwand nahmen, um mich bei meinen Vorgesetzten in Ungunst zu bringen. Kurz — man verlängerte meinen Vertrag nicht, der Direktor murmelte einige fadenscheinige Entschuldigungen, und ich war sozusagen gefeuert.

Nun bedeutete dieses Ereignis nicht eigentlich meinen finanziellen Ruin — ich hatte mir als Alleinstehender einen beträchtlichen Betrag zusammengespart und hätte mich von meinen Privatstunden gut über Wasser halten können. Ja ich hätte sicherlich sogar eine neue Stellung finden und meinen Ruf leicht wieder aufbauen mögen, doch weiß ich nicht, welche Trägheit meines Gemüts mich hieran hinderte. Nachdem der Teufel der Faulheit einmal die Oberhand gewonnen hatte, schien es mir gänzlich unmöglich, die notwendige Energie zu sammeln, um mich wieder aufzurichten.

So lebte ich eine lange Zeit — man möchte es eher vegetieren nennen — in größter Zurückgezogenheit und mied jeden Kontakt mit anderen Menschen. Meine wenigen Privatschüler hatte ich rasch vergrault und so lebte ich ausschließlich von meinen Ersparnissen. Nun hätte es jedem anderen gesunden Verstand in meiner Lage einleuchten müssen, daß sich dieser Lebenswandel nicht in alle Ewigkeit fortsetzen ließ. Irgendwann würden sich die Geldmittel erschöpft haben, und der gewisse Untergang schien ganz unvermeidlich. Doch je mehr ich mit dieser unschönen Realität konfrontiert wurde, desto stärker wurde mein Verlangen, sie völlig zu vergessen. Ich schlief in meiner allmählich verfallenden Wohnung bis spät in den Vormittag und versank bereits nach dem Aufwachen in Grübeleien, die ich durch irgendeine billige Lektüre zu verscheuchen suchte. Stundenlang konnte ich mich in das ziemlich nutzlose Studium von Landkarten versenken, wobei ich mit Vorliebe die Größe und Form der entlegensten Länder und Inseln verglich. Nur der beißende Hunger vermochte mich dann noch von meinen Betrachtungen aufzurütteln. Doch war die Küche bereits ein Müllhaufen, in dem die Küchenschaben und Ameisen ein wildes Fest feierten. Ich löste dieses Problem dadurch, daß ich die Küchentür verschloß und jenen Ort hinfort nicht mehr betrat.

So schrumpften sowohl meine Persönlichkeit als auch mein Lebensraum immer mehr ein. Ich konnte schließlich nurmehr das Bett benutzen und verließ sofort nach dem Aufstehen die Wohnung fluchtartig, um den geschlagenen Tag in einem jener miesen Cafés zuzubringen, deren Gäste ebenso schmierig sind wie die Speisen, die man dort vorgesetzt bekommt. Hier flegelte ich mich nun auf dem Stuhl herum und vertiefte mich in irgendein schlechtes Magazin oder erstarrte vor dem Bildschirm beim Betrachten irgendeines idiotischen Videos oder MTVs [Music television], wobei ich jeden Kontakt mit anderen Gästen sorgfältig vermied. Ich aß grundsätzlich nur die gleiche Speise und hatte es allmählich soweit gebracht, daß die Bedienung mir diese beiläufig auf den Tisch stellte, ohne auch nur ein einziges Wort mit mir zu reden. Des abends legte ich das Geld auf den Tisch und verschwand, ebenfalls wortlos. In meiner Wohnung angekommen, vermied ich es schließlich, das Licht anzuknipsen, um den entsetzlichen Unrat nicht ansehen zu müssen. Ich stellte sofort die Klimaanlage an, wodurch der Gestank etwas gelindert wurde, und versank in mein ungemachtes Bett zwischen einem Haufen von Kleidern und Magazinen.

Es ist mir heute gänzlich unmöglich zu schätzen, wie lange ich auf diese entsetzliche und menschenunwürdige Weise vor mich hinvegetierte. Es mögen Monate gewesen sein, vielleicht sogar ein halbes Jahr. Im Nachhinein erscheint es mir jedoch, daß ich während dieser trostlosen Zeit niemals die Sonne erblickt habe, und so ist es ganz wahrscheinlich, daß es sich um etwa fünf Monate handelte. Man muß nämlich wissen, daß in unseren subtropischen Breitengraden ein entsetzliches Nebel- und Regenklima die Zeit von Januar bis Mai jährlich verdüstert. Dieser feuchte Nebel vermischt sich mit den Autoabgasen und den giftigen Ausdünstungen der Müllhalden und Fabriken zu einem dichten Smog, der jedes Gefühl für Weite erstickt. Die stinkenden Giftgase zerfressen allmählich den Charakter von Häusern und Menschen und versenken alles in eine trübe Soße, in der sich die Bestimmungen verlieren und das Leben kein Leben mehr ist, sondern nur noch ein müder Alptraum.

Es mag also einer jener frühen sonnigen Sommertage gewesen sein, als ich endlich durch äußeren Einfluß aus meiner Lethargie gerissen wurde. Wieder schlurfte ich mißmutig von meiner stinkenden Wohnung zu jenem öligen Café. Ich war überhaupt nur mit Pantoffeln und Pyjama bekleidet, eine schlampige Unart, die hier bei älteren Männern durchaus verbreitet ist. Meine allgemeine Laune war so übel, daß mich das sonnige Wetter geradezu ärgerte.

Da klopfte man mir plötzlich auf die Schultern, und es begrüßte mich der alte Li [ "alter…": kameradschaftliche Anrede im Chinesischen], mein früherer Kollege und Freund von der Musikabteilung. Li war mir in gewissem Sinne geistesverwandt, obwohl wir uns äußerlich sehr voneinander unterschieden. Er war überhaupt nicht ehrgeizig und hatte als Lehrer keinen guten Ruf; ja — er haßte sogar das Unterrichten und überhaupt alles, was mit der Musikabteilung zu tun hatte. Aber aufgrund einer recht saloppen und unkomplizierten Art besaß er viele Freunde und war besonders als Trinkkumpane beim Kollegium sehr beliebt. So hatte er es geschickt verstanden, sich aus den verschiedenen und unvermeidbaren Skandalen unserer Schule herauszuhalten, und seine Stelle als Professor war nicht gefährdet. Trotzdem war Li im Grunde seines Herzens ein echter Zyniker, der keine Gelegenheit ungenutzt ließ, sich über seine Kollegen insgeheim lustig zu machen.

Es wunderte mich bei meinem jetzigen verfallenen Zustand nur, daß Li mich überhaupt wiedererkannt hatte. Seit fünf Monaten hatte ich jeglichen Kontakt zu früheren Freuden streng vermieden. Das Telephon und sogar die Türklingel hatte ich abgestellt. Doch der alte Li mußte mir seit einiger Zeit aufgelauert haben — und das nicht völlig grundlos, wie sich bald herausstellte.

Er schien überaus erfreut und herzlich im ersten Moment unseres Wiedersehens, und seine übertriebene Wärme berührte mich peinlich. "Du lebst also noch!" rief er ungestüm, doch angesichts der Verfallenheit meines Äußeren konnte ich seinen Enthusiasmus nicht recht begreifen und schaute nur etwas dämlich drein. "Eigentlich lebe ich gar nicht mehr", murmelte ich nach einer Weile. Doch Li brach zu meiner Überraschung in schallendes Gelächter aus. "Du bist doch ein abgefeimter Schurke, alter Hu; dann hast du dies also selbst aufgesetzt." Nun verstand ich natürlich noch viel weniger als zuvor, aber Li hatte inzwischen eine zerknüllte Zeitungsnotiz hervorgekramt. "Mein herzlichstes Beileid!" meinte er nur sarkastisch, während er mir den Wisch unter die Nase hielt. Ich wußte nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte, doch erblickte ich plötzlich eine Anzeige mit meinem eigenen Namen — eine Todesanzeige.

Es ist möglich, sich die verschiedensten Reaktionen auf das Lesen der eigenen Todesanzeige vorzustellen: Schock, Unglauben, Belustigung, Zorn, …, all’ diese Gefühle erscheinen berechtigt. Ich jedoch empfand ein merkwürdiges Gemisch aus diesen. Während einer langweiligen Bahnfahrt hatte mir einmal ein Mitreisender eine Geschichte erzählt, die ich nicht vergessen kann: Er lag nach einer schweren Operation in der Intensivstation eines Krankenhauses. Die Schwestern waren so gedankenlos gewesen, den Bildschirm mit der Aufzeichnung seiner eigenen Herzschlagskurve seinem Kopfende gegenüber aufzustellen. Er erlitt kurze Zeit nach der Operation einen Herzanfall, der ihn jedoch bei Bewußtsein ließ, und er konnte während einiger langer Sekunden auf dem Bildschirm ganz deutlich das Aussetzen seines eigenen Herzschlags erkennen. Wahrscheinlich erhielt er einen solchen Schreck, daß sein Herz wieder zu schlagen begann.

Nun war meine Situation natürlich weniger dramatisch. Mein Name war zwar nicht sehr gewöhnlich, doch war es auch nicht völlig ausgeschlossen, daß es ihn noch einmal gab, obgleich ich niemals zuvor davon gehört hatte. Es handelte sich ganz offensichtlich um eine andere Person; eine ganz merkwürdige und zufällige Namensgleichheit. Trotzdem – der Tod schien ironischerweise eine ganz denkbare Konsequenz meines Lebenswandels zu sein, als ob mir das Schicksal mit dem Finger drohen wollte.

Dem alten Li war jedoch unterdessen meine wirkliche und ganz zweifellose Verblüffung nicht entgangen. "Du weißt tatsächlich nichts davon! Da habe ich dir wohl eine schönen Schreck eingejagt! Komm, komm — gehen wir trinken. So’was sollte gefeiert werden."

Ich war einem Trunk nicht abgeneigt. Ich fühlte sogar plötzlich den eigenartigen Wunsch, mich schick anzuziehen — dies war ich sozusagen meinem Andenken schuldig. Wir gingen in meine Wohnung, und es gelang mir tatsächlich, aus dem Unrat meinen Smoking herauszufinden. So kleidete ich mich ganz in schwarz und vergaß sogar das traditionelle Taschentuch nicht, um die Tränen der Trauer abzuwischen. Ich befand mich in einer ganz eigenartigen Stimmung. Teilweise empfand ich tatsächlich eine Rührung — mein ehemaliger Selbsthaß schien sich plötzlich in Selbstliebe umgewandelt zu haben. Andererseits reizte mich die Ironie der Situation. Der alte Li feuerte mich unglücklicherweise noch mehr an, und wir steigerten uns allmählich in einen wahren Begeisterungstaumel, in dem wir unsere Clownerie auf den Höhepunkt trieben. Nach ausgiebigem Alkoholgenuß verfielen wir allmählich auf die böse Idee, uns an der Musikabteilung zu rächen. Wir wollten den Leuten einen gehörigen Schreck einjagen, indem wir die Traueranzeige am Schwarzen Brett oder sogar im Sekretariat aushängen würden, während ich weiterhin im Verborgenen leben sollte. Der alte Li konnte bequem meinen Tod bestätigen. Er wollte eine umständliche Lügengeschichte erfinden. Dank meiner fünfmonatigen Zurückgezogenheit konnte wirklich niemand mehr an der Wahrheit meines Ablebens zweifeln.

Ich muß leider bekennen, daß meiner Eitelkeit und Selbstsucht durch diese albernen Pläne sehr geschmeichelt wurde. Da ich eine lange Zeit jeden menschlichen Kontakt abgelehnt hatte, dürstete es mich nun förmlich nach Aufmerksamkeit, und meine vorherige Trägheit wich einer fiebernden Erregung. In gewissem Sinne hatte ich also mein Leben meinem Tode zu verdanken.

Von nun an kleidete ich mich nur noch im Smoking. Ich war stets rasiert, und meine Wohnung war aufgeräumt. Es fällt mir jetzt schwer zu verstehen, welchen Grad von Perversität der Narzißmus erreichen kann. Man wird mir kaum glauben wollen, daß ich sogar einen Altar für mich selbst errichtete, mein Photo im Rahmen aufhängte und Weihrauchstäbchen davor anzündete. Aber der alte Li, der ein wahrer Teufel war, bestätigte all’ meine Verrücktheiten und ließ mich glauben, ein wahrer Held zu sein.

Er hielt mich ständig auf dem Laufenden über alle Entwicklungen in der Musikabteilung. Tatsächlich hatte man dort auf mein Ableben mit einiger Betroffenheit reagiert. Während sich bei meinem Hinauswurf aus der Schule niemand für mich eingesetzt hatte, wurden nun mehere Stimmen laut, die diese offensichtliche Ungerechtigkeit anprangerten. Man vermutete mit großer Gewißheit, daß meine schwere Krankheit und letztlich auch mein Tod die ganz natürliche und logische Folge dieses traumatischen Erlebnisses sein mußten. Der Direktor jedoch hatte die Stirn zu behaupten, daß ich lediglich ein Urlaubssemester genommen hätte — aus Krankheitsgründen. Überhaupt schien sich jeder zu erinnern, daß ich bereits seit langen Jahren schwer krank gewesen wäre. Man behauptete kurze Zeit später sogar, daß ich mein Leben sozusagen für die Musikabteilung geopfert hätte, da ich trotz unheilbarer Krankheit mich mit ungebrochener Energie für das wohl der Musik und den Namen der Schule einsetzte. Schließlich war es der Direktor selbst, der vorschlug, eine Stiftung in meinem Namen zu gründen. Man wollte durch verschiedene Konzerte Geldmittel sammeln (fund raising), die einem talentierten jungen Musiker, würdig genug, in meine Fußstapfen zu treten, in Form eines Stipendiums zugute kommen sollten.

Doch ließ es der alte Li nicht bei diesen Kindereien bewenden. Ich muß an dieser Stelle eine Geschichte erzählen, welche die ganze Schlechtigkeit von Li’s Charakter verdeutlichen wird: Als wir noch beide ziemlich neu an der Musikabteilung waren, gab es dort eine Kollegin, die sowohl von Lehrern als auch Schülern gleichermaßen gehaßt und gefürchtet war. Sie besaß eine äußerst scharfe Zunge, und es gab keinen Kollegen, keinen Studenten, kein Konzert, das nicht Opfer ihrer ätzenden Kritik wurde. Allerdings war sie selbst überhaupt niemals öffentlich als Pianistin aufgetreten, und es war äußerst unwahrscheinlich, daß sie auch nur drei Töne spielen konnte, ohne vier Fehler zu machen. Li hatte nun sofort die phantastische Idee, einen Soloabend mit unserer geliebten Kollegin zu veranstalten – und zwar gänzlich ohne ihr Wissen. Er sprach mit gar keinem Menschen außer mir von seinen Plänen, da er wußte, daß ich bestimmt schweigen würde. Er setzte ein Plakat unter dem Namen jener Kollegin auf, komplett mit Titel, Termin und Saal, und kündigte auch ein Programm an, das in etwa dem Profil seines Opfers entsprach. Dieses Plakat ließ er im Geheimen bei einer unbekannten Druckerei drucken und hängte es drei Wochen vor dem angegebenen Konzerttermin zunächst an einigen wenigen unwichtigen Plätzen auf. Er wollte, daß sich nur allmählich ein Gerücht verbreiten würde, um dann ganz plötzlich mit voller Wucht loszuschlagen. Eine Woche vor dem Termin ließ er dann die Plakate von irgendwelchen zwielichtigen Fremden, die nichts mit dem Musikkreis zu tun hatten, überall aufhängen. Es ist mir noch bis heute ganz unbegreiflich, wie der alte Li es anstellte, nicht erwischt zu werden. Wirklich hatte niemand außer mir auch nur eine Ahnung — und am allerwenigsten jene Kollegin. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch und verließ die Musikabteilung. Der alte Li jedoch beherrschte sich bis zur Vollkommenheit. Er besuchte sogar unsere Kollegin und versuchte, sie zu trösten.

Damals fand ich diese gemeine Hinterhältigkeit sehr verwerflich. Doch meine Feigheit ließ mich schweigen. Nun jedoch haßte ich die Musikabteilung dermaßen, daß ich ein williges Opfer der Li’schen Teufeleien wurde.

So wird man nun leicht glauben, daß Li in seinem Bestreben, meinen Fall ins Großartige aufzubauschen, eine Pressekonferenz anberaumt hattte, um die Gründung der ‘Hu-Stiftung’ bekannt zu geben. Es gelang ihm leider sogar, das Interesse des Erziehungsministeriums zu gewinnen. Ich weiß nicht, wieso gerade diese läppische Idee einer Stiftung die phantasielosen Gehirne jener Bürokraten begeisterte. Auf jeden Fall hatte Li es erreicht, daß nun die Gründung der Hu-Stiftung als das große kulturelle Ereignis des Jahres hochgejubelt wurde. Li selbst war der eifrigste Geldeintreiber und überwachte selbst alle Geldeinnahmen. Er überredete sogar mich, eine gar nicht so unbedeutende Summe, die noch von meinem Ersparten übrig war, zu spenden — anonym, versteht sich. Zu meinem höchsten Entsetzen erfuhr ich bald, daß mehrere Millionen für die Hu-Stiftung gespendet waren.

Aber nun wollte der alte Li natürlich einen großen nationalen Wettbewerb in drei Durchgängen und mit Gala-Abschlußkonzert gründen, um einen oder auch mehrere würdige Stipendiaten zu ermitteln. Dieser Wettbewerb wurde mit enormen Trara und Werbeaufwand publiziert, und ich vernahm, wiederum mit Entsetzen, daß über zweihundert Anmeldungen im ganzen Land eingegangen waren.

Das Repertoire für diesen Wettbewerb war außerordentlich anspruchsvoll, und man hatte sogar eine lausige alte Jugendkomposition von mir aufgestöbert, welche als Pflichtstück für den zweiten Durchgang fungieren sollte. Der alte Li klapperte alle Radiostationen und Pressereporter ab, und hatte es endlich dahin gebracht, daß das Fernsehen die Gala-Veranstaltung live übertragen wollte.

Jeder, der einmal im Rampenlicht der Öffentlichkeit gestanden hat, wird mir zugeben müssen, daß das Wonnegefühl plötzlichen Ruhmes jeden anderen Nervenkitzel weit übersteigt. Wer seinen eigenen Namen täglich in Zeitung, Radio und Fernsehen sieht oder hört, wird es allmählich als ganz selbstverständlich empfinden, daß jeder läppischen Handlung, jedem unwichtigen Moment seines Lebens, eine geradezu historische Bedeutung beikommt. Der Rülpser eines Präsidenten erscheint, durch tausende von Mikrophonen verstärkt, als ein Donner das Land zu überrollen, und der Fußschritt des Generalmanagers mag einige Stockwerke tiefer gar als großes Erdbeben empfunden werden.

Nun war mein Fall jedoch ein recht eigenartiger. Ich hatte zwar enorme Berühmtheit erlangt, war jedoch als Toter völlig machtlos, die Früchte jener Bekanntheit zu genießen. Es erschien mir stets als grauenvolle Ungerechtigkeit, daß viele große Musiker erst nach ihrem Tode Weltberühmtheit erlangt haben, während man sie zu ihren Lebzeiten völlig ignorierte.

Eine zeitlang genoß ich meinen Ruhm im Stillen. Ich sammelte alle Zeitungsartikel in einer Mappe und nahm alle Radiosendungen über mich auf. Doch allmählich verspürte ich einen immer stärker werdenden, unwiderstehlichen Drang, mich der Öffentlichkeit mitzuteilen. Ich wollte die Konferenzen des ‘Hukomitees’ selbst leiten, ich wollte selbst Zeitungsartikel schreiben und im Fernsehen reden. Während mich am Anfang meiner Wahnvorstellungen der alte Li noch rechtzeitig zur Vernunft bringen konnte, nahmen meine Einbildungen jedoch allmählich immer krankhaftere Züge an und steigerten sich schließlich zur unheilbaren Wahnidee. Ich war besessen von der Idee meiner Wiederauferstehung. Ich war völlig überzeugt davon, daß mich die Gesellschaft als neugeborenen Messias und Heilsbringer feiern würde.

Unglücklicherweise erreichte meine Geisteskrankheit ihren Höhepunkt am Tage des Gala-Konzerts. Der alte Li war so sehr mit den Vorbereitungen beschäftigt, daß er sich nicht weiter um mich kümmern konnte. Da er jedoch um meinen Zustand wußte, hatte er mich vorsorglich in meiner Wohnung eingesperrt. Nachträglich wünsche ich mir, er hätte mich auch noch angekettet. Wie bei vielen Geisteskranken bezogen sich meine Wahnvorstellungen nur auf eine ganz bestimmte Idee, während der Verstand allen anderen Lebensbereichen gegenüber nicht nur klar sondern sogar außerordentlich scharf war. So wäre es einem Außenstehenden sicherlich ganz unmöglich gewesen, mich als Wahnsinnigen zu identifizieren. Bestimmte Gesten erscheinen nur exzentrisch durch eine gewisse Diskrepanz zwischen Schein und Sein. Hätte ich nur geglaubt, Napoleon zu sein, so hätte man mich sofort eingesperrt. Doch hatte die krankhafte Eitelkeit alle Züge meines Wesens derart durchdrungen, daß meine Erscheinung wohl eine wirkliche, große Autorität ausstrahlte. Dieses Gefühl der Überlegenheit verlieh mir die notwendige Sicherheit des Auftretens. Wie viele unserer Unternehmungen scheitern offensichtlich nur aufgrund des Fehlens jener Sicherheit! So hatte ich zum Beispiel oft die Beobachtung gemacht, daß ich ein Schloß sogar mühelos mit einem falschen Schlüssel aufschließen konnte, wenn ich nur zutiefst daran glaubte, daß es der richtige Schlüssel wäre. Bei dem geringsten Zweifel, der kleinsten Vorsichtigkeit, würde derselbe Schlüssel mit absoluter Vorhersehbarkeit klemmen, und die Tür ließe sich niemals öffnen.

Nun war ich an jenem Tag nicht nur durch eine wahrhaft traumwandlerische Sicherheit gestärkt, sondern war sogar überzeugt von meiner messianischen Mission. Noch jetzt erscheint es mir ganz unglaubwürdig, wie ich mit irgendeinem Schlüssel die Tür sofort aufschloß, wie ich ohne Geld in ein Taxi stieg, rechtzeitig ankam und ohne zu zahlen das Taxi verließ. Der Fahrer mußte durch die Festigkeit meines Auftretens so hypnotisiert gewesen sein, daß ihm noch nicht einmal die Idee kam, Geld von mir zu verlangen.

Der Bühneneingang zum Konzertsaal ist normalerweise streng bewacht. Auch hier schien man jedoch keinen einzigen Moment zu glauben, daß ich nicht zumindest ein ganz wichtiger Funktionär war. Man kann durchaus behaupten, daß mein Wahnsinn einem Diplomatenpaß gleichkam. Doch schienen meine übernatürlichen Kräfte sogar das Glück beeinflussen zu können. Wäre ich nur einen Moment zu früh ins Künstlerzimmer getreten, so hätten mich die noch anwesenden Musiker erkannt. Die Folge davon wäre einer Katastrophe gleichgekommen, und das Gala-Konzert wäre sicherlicherlich geplatzt. Doch hatten sich bereits alle auf der Bühne versammelt, und das Orchester spielte gerade die Nationalhymne. Die Bühnenregisseure, welche im Kontrollraum beschäftigt waren, mußten mich wohl für einen Redner oder Direktor halten. Außerdem schrieen sie in einemfort in ihre walkie-talkies, da im Saal etwas mit der Beleuchtung schiefgegangen war.

Genau in diesem Moment verkündete man über Lautsprecher, daß man meinem Andenken zu Ehre eine Schweigeminute einhalten wollte. Dies war in der Tat eine unerhörte Ehre, welche zuvor nur den allerbedeutendsten Politikern zugekommen war. Es war allerdings wohl eher ein Symbol für die Emanzipation der Musiker und die neugewonnene Bedeutung des Kulturlebens, und der Tod meiner Person war nur ein willkommener Anlaß dazu, den guten Willen zu demonstrieren.

Ich benutzte nun diese Schweigeminute, um die Tür zur Bühne aufzustoßen und feierlichen Schrittes auf die Bühne zu wandeln, vor den Augen des stehenden und schweigenden Publikums, während die Orchestermitglieder hinter meinem Rücken in derselben Pose verharrten. Wie kann ich jemals mit Worten jene entsetzliche, lähmende Wirkung beschreiben, die meine Erscheinung verursachte? Obwohl ich seit einiger Zeit als verstorben galt, war doch mein Bild jedem Musikliebhaber in guter Erinnerung. Der alte Li hatte aus taktischen Gründen nur ein einziges Photo von mir benutzt, welches mich in Frack und Fliege zeigte, und das durch alle Zeitungen gegangen war. Mein teuflischer Scharfsinn hatte mich nun dazu inspiriert, meine äußere Erscheinung in völliger Übereinstimmung mit jenem Photo zu gestalten. Wäre ich nur in meinem schlampigen Zustand aufgetreten, so hätte man noch an eine ganz zufällige große Ähnlichkeit glauben können. Man hätte lieber an seinen eigenen Sinnen gezweifelt.

Selbst in dieser Situation allergrößter Ähnlichkeit hätte das Publikum wohl noch aufatmen können, wenn mein Erscheinen eine gewisse Rückendeckung vom Orchester erfahren hätte. Doch waren die Orchestermitglieder in diesem Moment ebenso entsetzt wie das Publikum.

Man muß sich ferner eingestehen, wie gutgläubig und naiv wir alles hinnehmen, was in der Zeitung gedruckt erscheint. Nur ein wirklich großer Skeptiker würde eine Todesanzeige bezweifeln. Man hat vor dem Tode eine Ehrfurcht, welche es unglaubwürdig erscheinen läßt, daß man sich hier einen Scherz erlauben würde. Nun war aber nicht nur eine Todesanzeige von mir erschienen, sondern die Tatsache meines Todes war einen Monat lang von allen Medien breitgetreten und reklamemäßig ausgenutzt worden.

Hinzu kam noch die Tatsache, daß das Publikum stand. Die meisten von uns können wohl nachempfinden, daß man beim Stehen während einer Schweigeminute sehr verlegen und unsicher ist. Die Tatsache des unbedingten Schweigens lastet wie ein ungeheuerer Druck auf der Menge, und ein kleines Geräusch, welches die Stille stört, kann bereits eine entsetzliche Konsequenz haben. Wer von uns hat nicht einmal daran gedacht, daß er vielleicht die Beherrschung verlieren und laut schreien könnte. Die grauenvolle Wirkung, der unbedingte Gesichtsverlust, die eisigkalte Erkenntnis, daß man es selbst war, der schrie, daß man selbst verrückt ist, lassen uns erschaudern.

Ich schritt genau bis zur Bühnenmitte und versteckte mich nicht hinter dem Rednerpult. Rein äußerlich hatte mein Erscheinen überhaupt keine Wirkung. Jeder Anwesende erstarrte zu einer Marmorsäule, und selbst diejenigen, die mich nicht gleich erkannt hatten, waren von der allgemeinen Lähmung ergriffen worden. Das Gefühl einer Menge ist immer so gewaltig, daß sich kein einzelner dieser Kraft widersetzen kann.

Von der ersten Sekunde meines Erscheinens an spürte ich diese enorme Verunsicherung der Menge ganz deutlich wie einen sichtbaren Gegenstand im Raum. Das starke Lampenfieber, welches normale Menschen empfinden, wenn sie vor einer großen Menge reden sollen, war in meinem Falle einer übernatürlichen und krankhaften Überlegenheit gewichen. Ich benutzte kein Mikrophon, sondern sprach frei, stark und mit großer Gelassenheit: "Verehrte Anwesende! Ich bin zutiefst ergriffen und gerührt über die große Anteilnahme, welche Sie an meinem Tod genommen haben."

Hatte mein Erscheinen nun zunächst eine lähmende Wirkung gehabt, so verursachte mein Sprechen eine geradezu panische Angst. In dem Moment, als ich anfing von ‘meinem Tod’ zu reden, verließen bereits die ersten Leute den Saal. Die anderen wurden allmählich mitgezogen, und es entstand schließlich ein panischer Sturm auf die Ausgänge, bei dem einige Menschen sogar nicht unerheblich verletzt wurden. Trotzdem sprach kaum jemand ein Wort, und die Panik war von eisigem Schweigen.

Ich war also ein Geist, ein Gespenst. In jenem Moment empfand ich ein so ungeheueres Gefühl der Unwirklichkeit, wie ich es niemals zuvor in meinem Leben empfunden habe. Ich schlotterte am ganzen Leib. Dann verlor ich die Besinnung und fiel in eine tiefe Ohnmacht, aus der ich erst nach geraumer Zeit wieder erwachte.

Im Moment befinde ich mich in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses, doch weiß ich nicht, wer mich eingeliefert hat. Der Arzt ist ein netter älterer Herr, der sich oft mit mir unterhält und mich dazu überredet hat, diesen Bericht zu schreiben. Er hat mir auch gesagt, daß die Hu-Stiftung aufgelöst ist. Das Bankkonto war völlig leer, und man hat bis jetzt überhaupt nichts von der ungeheueren Geldsumme gefunden, die in meinem Namen gespendet war. Auch der alte Li ist seit jenem Tag spurlos verschwunden. Doch heute schrieb er mir eine Ansichtskarte — aus Südamerika.
 

Antaris

Mitglied
Durchgeistigter Messie

Hallo Rolf-Peter,

Du kennst Dich also aus mit typisch männlichen Unarten was Kleidungsgewohnheiten angeht *nudelholzschmeiß* :D.

Die Geschichte ist wieder mal eine knackige Mischung aus Horror und Ironie, aber ehrlich gesagt, mir fehlt ein bisschen der rote Faden. Diesmal erzählst Du recht weitschweifig. Die Todesanzeige taucht erst nach dem ersten Drittel auf, und erst nach dem zweiten Drittel ist klar, dass es der Leser nicht mit einem etwas skurrilen Messie sondern einem Geisteskranken zu tun hat. Diese Schreckschraube von Musiklehrerin ist z.B. auch eine (interessante!) Geschichte für sich, indem Du ihr so viel Platz einräumst bremst Du die Hauptgeschichte ziemlich stark ab.

Dass Künstler erst tot sein müssen um (kommerziell?) so richtig interessant zu werden wissen wir zwar alle, aber Deine Umsetzung dieser Idee ist schon beklemmend.

LG

Antaris
 
Hallo Antaris,

ueber Deinen Kommentar habe ich mich sehr gefreut (und auch gewundert, da ich annahm, die Geschichte wuerde erst nach meinem Tod gelesen :D ). "Weitschweifig" ist das richtige Wort, befuerchte ich..., ich hatte zuviel Musse in der Psychiatrie... Aber wenn der Leser in einer epischen Stimmung ist, geht's vielleicht noch. Die nur mit Pyjama und Latschen bekleideten Gentlemen sieht man leider fast gar nicht mehr in Taipei; und auch die Damen mit Lockenwicklern im Haar sind eine Raritaet geworden. Wahrscheinlich muss ich auswandern, wenn ich meine skurrilen Erzaehlungen noch fortsetzen will.

Uebrigens, wer ist Vladimir Kaminer, und was spielt Dein Mann am Klavier?

Herzliche Gruesse,
RP
 

Antaris

Mitglied
Gentlemen

Hi Rolf-Peter,

Auswandern nützt nichts. Was in Taiwan Pyjama und Puschen sind, sind in kälteren Gefilden Jogginganzüge, möglichst mit Zigarettenbrandflecken und Billigwaschmittelpatina, seitlich durchgeknöpfte Fußballtrainingshosen, Polyestershirts, und eine Menge anderer Scheußlichkeiten. Die Neigung zu merkwürdigen Kleidungsstücken ist sicher nicht geographisch bedingt, sondern muss irgendwie mit dem Y-Chromosom zusammenhängen, aber das werden die Forscher sicher in den nächsten Jahren noch genauer herausfinden.

Dass Dir die Ideen für skurrile Geschichten so schnell ausgehen könnten glaube ich nicht! Die Geschichte von der Klavierlehrerin seperat zu erzählen könnte sich wirklich lohnen. Schmücke sie ruhig ein bisschen aus falls Du Dich dazu entschließt. Überhebliche Nervensägen, die so sehr von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugt sind, dass sie es nicht für notwendig halten, selbst was zu leisten tauchen gelegentlich auch unter Autoren auf (Ich sage nur 'Jean Bleibtreu' - aber damals warst Du noch nicht in der LL) und deswegen werden es die (meisten) Leser hier genießen wenn diese Tussi ihr Fett wegkriegt. Wahrscheinlich wird der schlitzohrige Li auch vom Antagonist zum Held mutieren.

Dieser Li scheint ja ein recht fähiger Organisator und Manager zu sein, kann man den mieten *fg* ,ich meine, für meinen Mann? Der spielt nämlich zu wenig Klavier (finde ich), und wenn, dann meistens stumm geschaltet (er hat ein Klavinova). Am liebsten spielt er allerdings Neue Musik, und da kann der schlitzohrige Li schlecht absahnen...Spass beiseite, er gehört zu denjenigen, die an ihren eigenen Ansprüchen scheitern. Dafür komponiert er eifrig.

Schön, dass Du weiter in der LL spukst!

LG

Antaris
 



 
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