Die weiche Kadenz deiner Lippen

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Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Worte
die auf die weiche
Kadenz deiner Lippen enden doch
im Rücken die rostigen
Nägel die dich halten und
Hhhh. der Schatten
des zerhackten Kinderbetts

das verschüttete Lächeln
Hhhhh deiner Mutter
das du vom Boden wischst
wie alte Kaffeeflecken
Hhhhh und Vaters Silhouette
Hhhhh mit der Axt
Hhhhh Die sich nicht mehr unterscheiden

Hhhhh lässt von Menschen mit
Hhhhh geöffneten Händen.
 
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sufnus

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Wow! Eine Dekonstruktion vermeintlich positiver Bilder (Lippen, Kinderbett, Mutterlächeln, der Vater, Menschen mit geöffneten Händen). Alle diese Begriffe kippen ins Versehrte oder Bedrohliche. Zuletzt bleibt sogar offen, ob das (für das Verständnis der Zeilen vermutlich zentrale) Schlussbild grammatisch so zu verstehen ist, dass die Silhouette des axtschwingende Vater so ähnlich aussieht, wie (die Silhouette) von Menschen mit geöffneten Händen oder ob es so gemeint ist, dass Menschen mit geöffneten Händen nicht in der Lage sind, die Silhouette des Vaters (von was?) zu unterscheiden.
Am Ende gibt es also keinerlei Sicherheiten mehr.
Und zu dieser allgemeinen Unsicherheit passt, dass auch das Wort Kadenz bedrohlich mehrdeutig ist. Es könnte der (ja ganz positive) musikalische oder poetische Begriff gemeint sein, ebenso aber auch die Schussfrequenz einer automatischen Feuerwaffe.
LG!
S.
 

Galadriel

Mitglied
Ach Patrick, einmal mehr machst Du mich mit Deinen starken Bildern sprachlos.
danke für den Gänsehaut moment
Lg
Galadriel
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
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Danke sufnus

Zuletzt bleibt sogar offen, ob das (für das Verständnis der Zeilen vermutlich zentrale) Schlussbild grammatisch so zu verstehen ist, dass die Silhouette des axtschwingende Vater so ähnlich aussieht, wie (die Silhouette) von Menschen mit geöffneten Händen oder ob es so gemeint ist, dass Menschen mit geöffneten Händen nicht in der Lage sind, die Silhouette des Vaters (von was?) zu unterscheiden.
Ich habe alle Zeilen, die den Vater oder die Mutter betreffen (bis auf das Kinderbett selber) in die Mitte eingezogen.

Es ging mir darum zu zeigen, dass bedrohliche Erfahrung in der Kindheit oft dazu führen, dass Begegnungen mit völlig wohlgesinnten Menschen zur Projektionsfläche für die früheren Erfahrungen dienen. So kann man es zumindest lesen.

LG
Patrick
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
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Und zu dieser allgemeinen Unsicherheit passt, dass auch das Wort Kadenz bedrohlich mehrdeutig ist. Es könnte der (ja ganz positive) musikalische oder poetische Begriff gemeint sein, ebenso aber auch die Schussfrequenz einer automatischen Feuerwaffe.
Die Doppeldeutigkeit ist übrigens reiner Zufall, aber jetzt wo dus sagst ...
 

surrusus

Mitglied
Lieber @Patrick Schuler

Dein Werk erinnert mich an den Tor-Browser, oder auch "Onion-Browser". Weil die sprachliche Oberfläche durch ihre Bildhaftigkeit, dem Ich einen mehrdimensionalen Schutz gewährt. Es lebt von Kontrasten, die nicht auf dem ersten Blick ersichtlich werden: Die Kontrastierung von physischer Nähe und emotionaler Distanz, symbolisiert durch die „weiche Kadenz deiner Lippen“ im Gegensatz zu den „rostigen Nägeln“, die metaphorisch das Ich halten (Schutzargument), eröffnet eine Untersuchung der Spannungen zwischen äußerem Schein und innerem Empfinden. Diese Spannungen werden weiter durch das Bild des „zerhackten Kinderbetts“ vertieft, das ein starkes Symbol für gebrochene Unschuld und verlorene Kindheit für mich darstellt.

Ab dem Punkt, könnte ich die Analyse wie folgt fortführen! Für mich besonders interessant ist die Art und Weise, wie Du, lieber Patrick, das „verschüttete Lächeln deiner Mutter“ einfängst, das „wie alte Kaffeeflecken“ aufgewischt wird. Diese Zeilen suggerieren eine Geschichte des Ichs von Vernachlässigung und Verlust, die in den alltäglichen Handlungen des Lebens verankert ist, und verleihen dem Gedicht für mich eine Schicht (von vielen weiteren) der Melancholie.

Die Zeilen, die die Indifferenz bzw. Ununterscheidbarkeit von „Vaters Silhouette mit der Axt“ und „Menschen mit geöffneten Händen“ betrachtet, fordert mich heraus, über die Polysemie von Beziehungen und die Demarkationen zwischen Fürsorge, Aggression und Gewalt nachzudenken. Diese Ambivalenz fungiert als potentes Finale für das Gedicht und hinterlässt für mich eine Resonanz der Perturbation (innere Unruhe) und Kontemplation. Also, alles wirklich sehr fein und sehr gut geschrieben! Hier als NP-externer Intensivierer: Voll der geile Scheiß!

Über was könnte ich denn Meckern? Die Träger des Gedichts werden durch zwei Adjektiv-Nomen Konstruktionen gehalten, nämlich: zerhacktes Kinderbett und verschüttete Lächeln. Ich fände es interessanter, käme in dem Werk Adjektiv+Nomen nur einmal vor. Ich sehe hier die Gefahr, zu sehr in die "es ist kunst" abzurutschen. Das ist aber nur mein persönlicher Eindruck und bei all dem Lob, das von mir ausging, fällt das ja nun wahrlich nicht in's Gewicht.
 
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Patrick Schuler

Foren-Redakteur
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Die Kontrastierung von physischer Nähe und emotionaler Distanz, symbolisiert durch die „weiche Kadenz deiner Lippen“ im Gegensatz zu den „rostigen Nägeln“, die metaphorisch das Ich halten (Schutzargument)
Hi @surrusus

Nicht bloß als Schutzargument, auch in dem Sinne das Betroffene von dem Unglück das ihnen widerfahren ist besonders gehalten werden. In der Regel macht das Unglück zum Denker, der Unglückliche neigt zur Selbstanalyse und bringt eine gewisse "Ordnung" in seine Seele. Was anderen trüb ist, durchleuchtet er und gerade deswegen versteinert er das Unglück und zuletzt seine Seele. Das Depressive ist ja nur eine Art Stagnation des Blutes, des Innenlebens, die Seele als Fossil, die sich nicht mehr entwickeln kann.

die in den alltäglichen Handlungen des Lebens verankert ist, und verleihen dem Gedicht für mich eine Schicht (von vielen weiteren) der Melancholie.
Ja, im Alltäglichen, es kann jenes dümliche Lächeln sein, das eine naive, übeforderte Mutter aus Liebe zu ihrem Mann zeigt, wenn dieser mit der Axt durchs Haus rennt.

Voll der geile Scheiß!
Voll der geile Kommentar!

Über was könnte ich denn Meckern? Die Träger des Gedichts werden durch zwei Adjektiv-Nomen Konstruktionen gehalten, nämlich: zerhacktes Kinderbett und verschüttete Lächeln
Das ist tatsächlich kein Zufall, das eine betrifft den Vater, das andere die Mutter, da wollte ich ein ähnliches Gerüst haben. Das Gedicht setzt ja beides auf dieselbe Ebene, indem ich die Zeilen eingezogen habe. Ob das zu gewollt ist? Vielleicht, muss ich drüber nachdenken.

Vielen, vielen Dank und
LG
Patrick
 



 
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