Die weise Kröte

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Seit Wochen kein Regen. Der Bach ist ausgetrocknet. Eine Maus huscht über den heißen Sand. Durstig, auf der Suche nach Wasser. An einer tiefen Stelle im Bachbett, wo sich sonst die Forellen tummeln, ist ein Tümpel. Abgestandenes Wasser, voller Algen und Schlamm. Eine dicke, mit Warzen übersäte Kröte hockt in dem Tümpel.
»Ich grüße dich, liebe Maus. Trink nur, erfrische dich ruhig.«
»Das tue ich, auch ohne deine Erlaubnis, du hässliches Ding.«
Die Kröte lächelt, schaut der Maus zu, wie sie die Schnauze ins Wasser hält.
»Bah. Ist ja ekelhaft! Viel zu warm, und ganz verdreckt. Kein Wunder, wenn du dich den ganzen Tag da drin suhlst. Gibt‘s noch einen anderen Teich in der Nähe?«, fragt die Maus und reckt den Kopf in die Höhe.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Toll. Der einzige Tümpel weit und breit, und du versaust das Wasser mit deinen widerlichen Ausdünstungen.«
»Die Sonne scheint den halben Tag drauf, deshalb ist das Wasser so warm und voller Algen.«
»Ach? Du glaubst also, du bist klüger als ich? Ha! Eine ordinäre Kröte! Einfach lächerlich.«
Die Kröte lächelt weiterhin - »Bald kommt Regen. Dann kriegst du frisches Wasser. Hab Geduld.«
»Regen? Keine Wolke steht am Himmel.«
»Ich weiß es. Wir Kröten haben einen sechsten Sinn für sowas. Der Bach wird schon bald wieder plätschern.«
»Es hilft nichts. Ich habe großen Durst«, sagt die Maus. »Ich werde aus diesem Drecksloch trinken. Aber vorher gehst du aus dem Wasser. Das muss nun wirklich nicht sein, dass du da drin sitzt, wenn ich trinke – du stinkende Kreatur.«
Mit behäbigen Bewegungen kriecht die Kröte aus dem Tümpel. Die Maus schlürft zaghaft, macht einen kleinen Schluck, schüttelt sich. »Furchtbar, einfach nur furchtbar.«
»So großen Durst kannst du ja nicht haben«, sagt die Kröte.
»Nennst du mich einen Lügner? Das ist ja ungeheuerlich! Geh mir aus den Augen, elendes Warzengesicht.«
»Da vorne, siehst du die bewachsene Stelle? Nimm ein paar von den Halmen. Die sind saftig, und sie werden dir schmecken.«
Die Maus grummelt und murmelt irgendwas, geht schließlich hin und fängt an zu knabbern. Die Kröte hört kein Murren und kein Klagen, und sie freut sich, dass sie behilflich sein konnte.

Es wird Abend. Die Kröte hockt in ihrem behaglichen Tümpel, im Schlick. Die Maus hat es sich im Schatten zwischen den grünen Halmen bequem gemacht. Sie hat so viel gefressen, dass sie ganz schläfrig wird.
»Mach es dir nicht zu gemütlich«, sagt die Kröte zu der Maus. »Heute gehen Unwetter nieder. Die Flut wird kommen. Dann bist du umgeben von Wasser.«
Die Maus lacht – »Heute Nacht? Erzähl doch keinen Blödsinn. Dumme Kröte!«
»Ich spreche aus Erfahrung. Das kann ganz schnell gehen. Flussaufwärts geht ein kräftiger Schauer nieder, und schon ist der Bach voll bis obenhin.«
»Ach, lass mich zufrieden. Du willst mich ja nur weghaben. Damit ich nichts von dem guten Grünzeug mehr fresse.«
»Ich mache mir nichts daraus. Die Mücken hier im Tümpel reichen mir vollkommen.«

Die Sonne geht unter, und die Maus legt sich schlafen, unter einen Felsvorsprung. Ganz vollgefressen, schläft sie so tief und fest, dass sie den Regen nicht hört, der niederprasselt.

Im Morgengrauen wird die Maus wach. Wie die Kröte gesagt hat, schießt links und rechts von ihr der reißende Strom vorbei. Verzweifelt rennt die Maus im Kreis auf der kleinen Insel. Eine ausweglose Situation. Die Maus rollt sich zusammen, zittert. Eine ganze Weile hockt sie so da; denkt nach über eine Möglichkeit, ans Ufer zu kommen. Da taucht wie aus dem Nichts die Kröte auf.
»Kommst du, um mich zu verhöhnen?«, fragt die Maus.
»Nein. Ich komme, um dich zu retten. Steig auf meinen Rücken, ich trage dich hinüber.«
»Bist du sicher, dass du nicht untergehst unter meinem Gewicht?«
Die Kröte nickt – »Die Strömung hat nachgelassen. Außerdem bin ich doppelt so groß wie du.«
So schwimmt die Kröte mit der Maus auf dem Rücken ans Ufer.
»Ich hätte es auch allein geschafft«, sagt die Maus nach längerem Schweigen.
»Da bin ich sicher.«
»Früher oder später wäre ein Ast daher getrieben, da hätte ich mich festgeklammert.«
»Natürlich. Eine schlaue Maus wie du findet immer einen Weg.«
»Ganz genau. So stark ist die Strömung ja nicht. Wenn ich noch ein bisschen gewartet hätte - Ich kann ja auch schwimmen, so ist es nicht! Also in ruhigerem Gewässer.«

Die Kröte entspannt in einer schlammigen Pfütze, lächelt. Die Maus macht sich auf den Weg.
»Pass auf«, sagt die Kröte noch, »Draußen über der Wiese kreisen die Vögel. Suchen nach Würmern, nach dem Regen.«
»Das brauchst du mir nicht erklären. Und was können mir die Vögel schon anhaben, die da nach Würmern und Käfern picken?«
»Es lauern vielleicht auch größere Vögel in den Bäumen. Bleib lieber noch ein bisschen hier im Wald, wo es sicher ist. Die Blätter sind voll von Regentropfen. Köstlich!«

Die Maus hört nicht zu, und sie geht ihrer Wege. Die Kröte lächelt zufrieden in ihrer Pfütze.
 

Ubertas

Mitglied
Hallo @GeorgZauchenbach ,
mir gefällt deine Geschichte! Du hast die jeweiligen Charaktereigenschaften von Maus und Kröte sehr fein herausgestellt. Erinnert mich nicht zuletzt an "gesellschaftliches" Verhalten.
Lieben Gruß ubertas
 



 
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