Die Wellen des schwarzen Meeres

texxxter

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Nachdem Rodion Gazparov es sich mit einem großen Bier am Tresen seiner Stammkneipe Maxim Gorky gemütlich gemacht hatte, lies er den Blick durch die Bar schweifen. Wie gewöhnlich setzte sich die Gästeschaft vor allem aus brutal aussehenden jungen Männern zusammen, die in der dunstig-verrauchten Atmosphäre des Ladens Dart spielten oder einfach, den Blick in ihr Getränk versunken, lethargisch an den verstreuten Tischen saßen. Maxim Gorky durfte auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon vor über hundert Jahren waren Arbeiter in diese Kneipe, die sich in der Hafengegend Odessas befand, eingekehrt.


Jetzt bemerkte Rodion eine hübsche junge Frau mit blonden Haaren, die zwei Plätze links von ihm saß und, mit abwesendem Gesichtsausdruck an einem bunt aussehenden Cocktail schlürfte.

"Darf ich sie zu einem Getränk einladen?", fragte er sie freundlich.

Mit betont gelangweiltem Blick drehte sie ihren Kopf in seine Richtung und musterte ihn. Ihr Gesichtsausdruck wirkte, als betrachte sie ein abstoßendes Insekt, dass sie sich von den Fußsohlen kratzen musste.

"Ich danke, aber nein", erwiderte sie mit kühler Stimme.

Rodion nahm es nicht weiter schwer. Er war Ablehnung in dieser Form gewöhnt.



Er bestellte sich ein zweites Bier und trank es mit einem großen Schluck zur Hälfte leer. Langsam spürte er, wie der Alkohol seinen Geist belebte.

"Früher gab es noch Frauen mit Klasse", dachte er melancholisch.

"Noch vor hundert Jahren, wie elegant sich da alle angezogen haben, wie respektvoll man miteinander umgegangen ist. Und was für eine schöne Stadt Odessa damals gewesen sein muss. Damals, bevor die Bausünden aus der Sowjetzeit das Stadtbild verschandelt hatten.

Er dachte wehmütig an die Serie "Wellen des schwarzen Meeres", eine Verfilmung aus Sowjetzeiten, die er als Kind so geliebt hatte. Die Serie spielte kurz vor dem ersten Weltkrieg. Jeden Samstag hatte er die neuen Folgen ersehnt, um zu erfahren wie es nun weiterging mit dem Professorensohn Petja und dem Fischerjungen Gavrik. Fasziniert hatte ihn die Serie wegen ihrer tollen Atmosphäre. Jedes Bild des Films wirkte wie ein Gemälde von Monet. Sicherlich hatte zu seiner Begeisterung auch beigetragen, dass er sich ein klein wenig in den schönen Petja mit seiner hübschen Matrosenuniform verliebt hatte.



Die Tür des Lokals wurde geöffnet und ein kühler Luftzug ging durch den verrauchten Laden.
Reflexartig drehte Rodion den Kopf, um zu erfahren, wer der Neuankömmling sei.

"Das gibt`s doch nicht!", dachte er, halb überrascht, halb schockiert.

Die Frau, die sich jetzt neben ihn an den Tresen setzte, war niemand anderes als Natalya Murashkevich. Natürlich war sie nun eine erwachsene Frau, aber es bestand überhaupt kein Zweifel. Sie hatte in der sowjetischen Kinderserie Gast aus der Zukunft die zeitreisende Schülerin Alisa Seleznyova gespielt.

"Meine erste große Liebe sitzt gerade neben mir", dachte Rodion erschrocken. Er richtete seine Frisur und gab sich einen Ruck.

"Entschuldigen Sie, aber ich glaube, ich kenne sie", sprach er die Frau lächelnd an. "Tatsächlich?", erwiderte diese, ebenfalls lächelnd.

"Ja. Sie haben doch damals Alisa Seleznyova gespielt, sie wissen schon, in Gast aus der Zukunft"

Jetzt lächelte die Frau noch breiter. "Es ist höchst schmeichelhaft, dass sie mich erkannt haben."

"Rodion Gazparov", stellte er sich vor und reichte ihr die Hand. "Ich habe diese Serie als Kind so geliebt, und das vor allem wegen ihnen".

"Ich danke Ihnen sehr", antwortete die Frau mit warmer Stimme.

"Die Serie war doch ein Riesenerfolg. Trotzdem habe ich sie danach nie wieder im Fernsehen gesehen. Was ist passiert, wenn sie mir die Frage erlauben?"

"Ach wissen Sie, ich habe als Erwachsene schon noch Angebote bekommen. Allerdings nur für so neurussische Filme, wie ich sie nenne. Sie wissen schon, schlecht gemachte Kopien von Hollywoodstreifen, mit neureichen Typen, Machogetue und Gewaltverherrlichung. Und damit wollte ich nichts zu tun haben".

Rodion nahm einen Schuck aus seinem Bier, bevor er antwortete. "Das kann ich gut verstehen. Ich habe diese Filme auch immer gehasst. In den sowjetischen Filmen wurden noch Werte vermittelt. Zusammenhalt, Brüderlichkeit, der gemeinsame Kampf um eine bessere Zukunft für alle. Jetzt orientieren sich die Regisseure am vulgären Individualismus der Amerikaner. Jeder gegen jeden and the winner takes it all. Und die Jugend schaut diese Filme und nimmt sich daran ein Beispiel, das ist das Traurige."

Natalya lächelte wehmütig. "Ja, das waren andere Zeiten. Schon die Kinderfilme hatten einen künstlerischen Anspruch, wollten den Kindern, gerade denen aus der Arbeiterschicht, Kultur vermitteln. Und dann natürlich die Musik!", endete sie und nahm einen Schluck von ihrem Cocktail.

"Wie alle Kinder war ich bei den Jungpionieren", fuhr sie fort. "Unser Lied kann ich noch immer auswendig."

Alle Menschen auf dem großen Planeten

müssen Freunde sein

Kinder müssen immer lachen

und leben in einer friedlichen Welt


"Und heute schlachten die Russen uns, ihre eigenen Brüder ab. Wer hätte das damals für möglich gehalten. Unser ganzes Leben hat man uns vor dem Faschismus gewarnt, und nun hat er in den Kreml Einzug gehalten"

Rodion hatte sie mit träumerischen Augen angeblickt. "Wissen Sie, warum ich sie direkt erkannt habe?", fragte er sie. "Sie haben noch die selbe Ausstrahlung wie damals als Mädchen. Unschuldig aber trotzdem intelligent, sensibel aber auch zupackend, gütig aber trotzdem kritisch. Solche Mädchen sieht man heute gar nicht mehr. Heute sehen bereits die vierzehnjährigen Mädchen abgefucked und stumpf aus. Ich habe mich oft gefragt, was schief gelaufen ist"

"Es ist der Individualismus", antwortete Natalya entschlossen. "Wir haben aufgehört uns als Teil eines größeren Ganzen zu sehen. Und dann natürlich der ganze Sex in den Medien, die Objektifizierung des Körpers. Das gab es in der Sowjetunion nicht. Wir hatten früher den Spruch Der Westen hat Sex, wir haben Liebe"

"Sie haben völlig Recht", stimmte ihr Rodion eifrig bei und trank sein drittes Bier in einem Schluck leer. Langsam fühlte er sich angetrunken.

"Ich kann es immer noch nicht glauben", sagte er mit bewegter Stimme. "Ich sitze hier neben Alisa Seleznyova. Wenn Sie wüssten, was sie mir als Kind bedeutet haben. Sie waren für mich genau so, wie ein junges Mädchen sein muss. Diese Unschuld. Diese Güte. Sie waren meine erste Liebe", endete er und errötete leicht.

Natalya lachte herzlich "Dabei wussten sie doch gar nichts vor mir. Ich habe doch nur eine Rolle gespielt. Ich fand es immer schon kurios, wie ein Mensch sich in einen Schauspieler verlieben kann"

Rodion protestierte. "Ich bin mir sicher, sie waren und sind immer noch genauso wie die Rolle, die sie gespielt haben. Man merkte es an ihrer Mimik und Gestik und konnte es aus ihrem Gesicht lesen. Ich glaubte sie damals genau zu kennen. Und ich glaube, ich kenne sie immer noch"

Natalya lachte erneut "Ich denke, sie wären enttäuscht"

Für eine Minute schwiegen beide.
Dann gab Natalya dem Ober ein Zeichen. Sie wollte zahlen.

Sie reichte Rodion erneut die Hand "Es hat mich sehr gefreut, sie kennenzulernen", sagte sie aufrichtig. "Vielleicht sieht man sich mal wieder"

"Sie wollen schon gehen?", fragte Rodion mit schlecht verborgener Enttäuschung.

"Ich muss, hab noch einen Termin in Odessa", erwiderte sie knapp. Sie schien kurz zu überlegen. Dann reichte sie Rodion eine Visitenkarte.

"Ruf mich gerne mal an", sagte sie lächelnd und verließ das Lokal.


Rodion saß diesen Abend noch eine ganze Weile im Maxim Gorky.
Seine Wangen fühlten sich merkwürdig taub an. Er lächelte in sich hinein. "Wie cool ist das denn?" flüsterte er.
 
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Patrick M.

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Wer sehnt sich nicht nach der guten alten Zeit? Denkt manchmal wehmütig an die erste Liebe zurück? Doch ist die Erinnerung nicht trügerisch? Die Idealisierung der Vergangenheit , die Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion in der Textmitte sind ja so offenkundig, dass das Ende fast wie eine Wendung, wie der Anfang der eigentlichen Geschichte erscheint. Ich habe den Text gern gelesen, doch er schreit förmlich nach einer Fortsetzung. Es wäre sehr interessant zu erfahren, wie es weitergeht...
 

texxxter

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Hallo Patrick

Danke fürs Lesen und Kommentieren. Es gibt in den ehemaligen Ostblockstaaten tatsächlich eine große Nostalgie und Verklärung der Sowjetunion. In einer Umfrage wünschten sich 65% der Russen die Sowjetunion zurück. Wenn man ältere Russen nach ihrer Meinung um die Sowjetunion fragt, dann antworten alle, dass die Gesellschaft damals menschlicher war. Es gibt auf youtube sämtliche Filme aus der Sowjetunion, da scheint es wohl kein Copyright mehr drauf zu geben. Manche haben auch englische Untertitel. Der sowjetische Film ist ganz unverwechselbar, könnte so von keinem anderen Land hervorgebracht werden. Die Atmosphäre, die Musik und vor allem die Schauspieler, die Intelligenz und Sensibilität ausstrahlen, sind unglaublich. Es scheint tatsächlich so etwas wie eine "russische Seele" zu geben.
Ich wüsste tatsächlich nicht, wie ich die Geschichte fortsetzen sollte. Ich wollte in ersten Linie nicht eine Liebesgeschichte schreiben. Das Hauptthema des Textes ist Nostalgie.

Viele Grüße
texxxter
 
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Patrick M.

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Ich kann nachvollziehen, dass man sich nach einem weniger ökonomisierten und mitmenschlicheren Dasein sehnt.
Unsere ehemaligen Nachbarn aus dem Oblast Tomsk in Sibirien haben mir Ähnliches berichtet, Aus deren Familie sind einige enttäuscht aus Deutschland oder den Großstädten aufs Dorf zurückgekehrt.
Es wäre interessant zu erkunden, was aus der Nostalgie wird, bzw. was sie mit dem Menschen macht, wenn man sie zu lange in sich nährt.
 



 
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