Die Welt aus der Sicht der Katze

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Weißli war und blieb die Lieblingskatze meiner Eltern. Sie verdrängte ihre Konkurrentin Lätzli erst aus der Kellerküche, dann aus dem ganzen Souterrain und damit aus dem Haus. Beide waren gleich alt, wenn auch aus verschiedenen Würfen, und sehr klein zu uns gekommen. Weißli hatte sich als die Umgänglichere, Anschmiegsamere allmählich durchgesetzt. Sie hatten sich gejagt und wechselseitig gebissen. Lätzli, ungeachtet ihres Namens eine kräftige schwarze Katze mit weißem Fleck am Hals, schlug dann ihr Quartier unter dem Vordach eines entfernteren Nebengebäudes auf, wurde dort versorgt und brachte halbwild bleibende Katzenkinder zur Welt. Selbst ließ sie sich nicht mehr berühren. Ihre Sicht auf die Welt blieb ein Geheimnis.

Wenn ich die Alten damals besuchte, einige Tage oder auch länger, fand ich oft die weiße Katze auf meinem Vater ruhend; manche Stunde verdämmerten sie so, gemeinsam auf dem Kellerküchensofa liegend. Ging er da unten zu Tisch, folgte sie und erbettelte sich den Großteil seiner Fleischportion. Dazu schlug sie, sich von den Hinterbeinen aufrichtend, die Vorderkrallen in seinen Hosenstoff. Ich genoss das possierliche Bild, litt es aber nicht, wenn sie mit mir ebenso verfahren wollte.

Weißlis Welt war das Souterrain und für Ausflüge noch der Garten und die Wildnis eines aufgegebenen Steinbruchs hinter dem Haus. Sie durfte nie in die Räume im Erdgeschoss vordringen. Meine Eltern nutzten tagsüber nur die untere Ebene und gingen erst abends hinauf. Immer zog es die weiße Katze magisch zu dieser Oberwelt hin. Wenn ich von meinem dort gelegenen Zimmer hinunter wollte, fand ich sie manchmal hinter der Kellertreppentür hocken – oder sie schloss sich mir beim Hinaufgehen an, um vor dieser Tür zurückbleiben zu müssen. Eines Tages wollte ich ihre Neugierde befriedigen und nahm sie auf den Arm und zeigte ihr die Räume, alle Möbel, Teppiche, Pflanzen. Sie blieb dabei eng an mich geschmiegt, war ganz Auge, voller Konzentration. Was sie in sich aufnahm, war vielleicht ein himmlisches Katzen-Jerusalem.

Solange mein Vater mich noch bei meiner Abreise zum Bahnhof fuhr – später nahm ich den Bus -, brachte ich jeweils am Vorabend den gepackten Koffer in die Kellerküche; die Garage war gleich daneben. Und jedes Mal amüsierte mich die folgende Szene. Weißli, sonst so keck und mutwillig, zeigte alsbald Furcht vor dem großen schwarzen Koffer. Sie machte auf ihren Wegen durch die Küche einen weiten Bogen und sah dabei ängstlich zu ihm hinüber. Sie ließ auch aus großer Distanz zu ihm merken, dass sie sich belästigt fühlte; da war sogar ein Anflug von Beleidigtsein. Auf einen großen schwarzen Hund würde sie ähnlich reagiert haben. Ich machte mir klar, dass sie keinen Unterschied zwischen belebter und unbelebter Welt kannte. (Umgekehrt bereitete das Jagen einer Spielzeugmaus ebenso viel Spaß wie das einer echten.)


Lange danach in einem Tiroler Gebirgstal. Ich bin gerade angekommen, habe den schwarzen Koffer ausgepackt und mache einen ersten Rundgang durch den Ort. Die Hauptstraße ist stark befahren. Ich überquere die Einmündung einer Seitenstraße und mir bietet sich ein zuerst idyllisches, dann schmerzliches Bild. Drei Kätzchen spielen und sie jagen sich, springen über etwas hinweg. Ich sehe genauer hin – das Hindernis ist ein toter Katzenkörper, das Tier wohl erst vor Stunden überfahren worden. Der Kadaver stört die kleinen Katzen nicht, im Gegenteil, sie benutzen ihn als Deckung und sie zerren auch spielerisch an seinem Fell. Was ist es für sie: eine ausgewachsene Katze, jetzt ruhend, oder nur noch ein Objekt wie andere Gegenstände auch? Es könnte ihre tote Mutter sein, aber sie scheinen keinen Begriff vom Tod zu haben. Die Szene blieb mir bis heute im Gedächtnis.
 

Matula

Mitglied
Hallo @Arno Abendschön,

Versuch einer Erklärung:
Der schwarze Koffer könnte einen unangenehmen Geruch verströmt haben, so wie ein gewisser Badezimmerteppich bei mir daheim, der auf unaussprechliche Weise mehrfach geschändet wurde. Für mich roch er spurenhaft nach Schafwolle, für die Katze wahrscheinlich wie eine ganze Hammelherde.
Ich vermute, dass Kleinkinder mit einer toten Mutter ähnlich verfahren, also versuchen würden, sie aufzuwecken. Ob Katzen in dieser Hinsicht dazulernen, darf man bezweifeln.

Freundliche Grüße,
Matula
 

wiesner

Mitglied
Inhaltlich ein bisschen dünn, stilistisch jedoch sehr sicher.

Kater Murr, Der gestiefelte Kater, Die schwarze Katze (E.A. Poe) oder Fritz the Cat (R. Crumb) finde ich deutlich interessanter.

Nichts für ungut
Béla
 
Danke, Matula, für diese Erklärungsansätze, Ja, sie haben viel für sich.

Danke auch an Wiesner für seine Meinung. Nun, ganz so hohe Ansprüche stelle ich hier an mich selbst nicht. Es ging um Alltagsbeobachtungen und ein wenig Reflexion dazu.

Freundliche Morgengrüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

interessant, was Du so alles beobachtest. Ich gestehe, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht - wie eine Katze die Welt sieht.

Mir scheint aus Deiner Erzählung, dass die Katzen dass unter sich ausgemacht haben - und die Unterlegene sich zurückgezogen hat - ich habe da Bilder von der gerade beschmusten Katze vor Augen, die von der anderen erst neidisch beäugt wird, danach kommt es wieder zum Kampf und dann hat die eine die Nase voll.
Man könnte aber auch ganz leidenschaftslos sagen, das Modell Mensch ging für Lätzli nicht auf - und sie hing nicht dran. Versorgt wurde sie ja auch.

Ich habe mir immer mal wieder vorgestellt, wie das ist, wenn man nicht reflektiert, sondern ganz im Hier und Jetzt ist und den Herausforderungen und Möglichkeiten des Augenblicks begegnet. Ich bin da sehr weit von entfernt und ich stelle es mir auch schön vor, aber ausprobieren möchte ich es nicht :)

Gerne gelesen und sinniert.

Liebe Grüße
Petra
 
Ich habe mir immer mal wieder vorgestellt, wie das ist, wenn man nicht reflektiert, sondern ganz im Hier und Jetzt ist und den Herausforderungen und Möglichkeiten des Augenblicks begegnet.
Tierverhaltensforscher (Biologen) können da wahrscheinlich Theorien präsentieren, liebe Petra. Unsereins kann nur beobachten und Fragen stellen, d.h. sie meistens unbeantwortet sein lassen. Wildtiere sind wohl noch geeignetere Objekte dafür, da man hier leichter zu einer Versuchsanordnung ohne Mitirkung des beobachtenden Menschen gelangt. Insekten beobachten! Z.B. Waldameisen, wenn sie gemeinschaftlich einen kurz vorher stark zerstörten Bau erneut aufbauen. - Huch, da krabbelt gerade etwas auf meinem Monitor, eine winzige Mücke - welche verschlungenen Wege sie nimmt, über den entstehenden Text und dann von ihm weg. In alten Zeiten haben Menschen aus Tierverhalten auf die menschliche Zukunft geschlossen. Ein Rest davon ist in der Alternative "Schwarze Katze von links oder von rechts" enthalten. Man kann sich in dem Thema verlieren, ich breche ab.

Liebe Grüße
Arno
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Arno,
ich finde den Text auch sehr gelungen und wunderbar zu lesen.
Den letzten Absatz hätte es für mich nicht gebraucht. Ich verstehe die thematische Verbindung, dass Katzen nicht zwischen belebt und unbelebt unterscheiden. Aber der Wechsel von Ort und vierbeinigen Protagonisten empfand ich doch als Bruch. Weißli hätte den Text für mich auch alleine tragen können.

Viele Grüße
lietzensee
 
Danke, lietzensee, für den sachlich-freundlichen Kommentar. Das kann ich schon nachvollziehen, dass man zwischen vorletztem und letztem Absatz einen Bruch empfinden kann. Mir lag vor allem am inhaltlichen Bezug und ich hoffte, es würde eher der Eindruck eines Sprungs über einen Graben entstehen. Zu diesem Zweck gibt es zuletzt die Wiederaufnahme des schwarzen Koffers und vor dem Tod einer Katze vorher schon den Vorgeschmack eines himmlischen Jerusalems für Weißli.

Schöne Morgengrüße
Arno
 
Hallo Arno, ich habe mal den Satz gehört: "Ein Leben ohne Möpse ist möglich aber sinnlos". Dasselbe denke ich über Katzen.
Ein Frohes Neues Friedrichshainerin
 
Danke, Friedrichshainerin. Mir sind Katzen auch entschieden lieber.

Du scheinst Silvester gut überstanden zu haben, keine Selbstverständlichkeit mehr. Im Weitlingkiez (da habe ich auch mal gewohnt) sind infolge von Feuer auf einem Balkon vier Wohnungen drum herum total ausgebrannt. Gruselig.

Nur Gutes für dich im Neuen Jahr.
Arno
 



 
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