die welt deutungs formel (daktylisches Sonett 3)

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
die welt deutungs formel


erzählungen deuten dir leben mit sinn
erfahrungen reichern ja sonst dein ich
mit sinn und unsinn falsch und rich
tig an: daraus ziehst du verlust und gewinn

so bringt auch der film dir erfahrungs wert
verkürzt wie im buch der gedanken verdich
tet wird mit empfindungsfarben belich
tet weil die leinwand voyeure begehrt

geschichten erklären dir leben mit sinn
wie wörl twei die spinnen geweb theorie
hör pan nur die saiten rührn string spin

geheim code ziffern zermorsen die nie
ihr ende erreichende pi pi pin
in fernen infernen in fellow s o fee
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein interessanter vieldeutiger Text. In Sonetts habe ich selten den Übergang eines Wortes auf die andere Zeile, das Enjambement, gelesen.
Es ändert, je nach Leseweise, sehr den Fluss.

Viele lesen es dann wie Prosatext, ich lese es wie einen Rätseltext, bei dem die Zeile, der Vers, immer mit einer Pause endet, die die Trennung des Zusammengehörigen betont.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ich liebe Deine Sorgfalt, Bernd,

und das ist ja nicht nebensächlich: diese sonettuntypischen Enjambements. Ich lese selbst eine Pause am betonten ("männlichen") Zeilenende. Allerdings lasse ich gerne die unterschiedliche Gewichtung der Daktylen- und Spondeen- bzw. Jambus-Köpfe so ausschwingen, daß die Untebonten nachtrippeln. Dadurch ergibt sich auch bei durchgängigem Lesen eine Pause, ein wienerischer Walzer-Swing, gerade mal zu gering für eine Synkope. Die Versanfänge dieses Liedes hier müssen regelmäßig mit Betonung auf der zweiten Vers-Silbe (iambisch) gelesen werden, also daß man nicht rumprobieren muß, ob der Vers anapästisch (mit Doppel-Auftakt) anfängt, das würde den Fluss störend verholpern.

Die Gruppe der drei "daktylischen Sonette" hat, wenn ich die drei nun nach zwei Jahren wieder lese, ein gemeinsames Thema: den Kommunikationsbruch zwischen den Medien und der Erfahrungswelt, z.B. zwischen dem Leitfaden der Erzählung in einem Film und der "tatsächlichen" Kausalitäts-Logik menschlicher Handlungen. In der Philosophie schlägt man sich mit der Vermeidung teleologischer, vom Zweck und Ziel her "verstandener" Kausalitäten rum, während Handlungen eigentlich nur vom Zweck und Ziel her verstanden werden können.

Alle drei haben die bedenkliche Auflösung der Erzählungs-Vermittlung in ihren Terzetten. Bei diesem hier wird am Ende noch das Wort "Philosophie" in den Dekompostierungs-Abgrund gerissen. War ein Versuch, dieses Triptychon, und ich kratz mich am Kopf.

Andererseits gehört Regelbruch zu dem Spiel, das wir Lyrik nennen. Wobei der Regelbruch interessant ist, der sich an strengen Regeln versucht. Im bloßen Chaos könnte nichts auffallen.

grusz, hansz
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es war keine Kritik (im "volkstümlichen Sinn"), sondern ich habe formale Besonderheiten beschrieben.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
bin ich Dir auch sehr dankbar für, ich meine die Beschreibung der "formalen Besonderheiten". Kritisch war ich selber, in Bezug auf die ausfransenden Terzette der Dreiergruppe. Last but not least angeregt durch das "gelöschte Mitglied" Ojo.
 



 
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