Die Wespe - Sonett

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Walther

Mitglied
Die Wespe


Es ist, als würden sich die Zeiger nicht mehr drehen.
Und doch, das ist gewiss: Die Zeit steht still. Sie wartet.
Am Himmel kräuselt sich ein Wölkchen wie entartet
Zu einem Segelschiff – wo hatte er‘s gesehen?

War es nicht Oslo? Oder Bergen? Multebeeren –
So glänzt das Gelborange der Sonne später Tage.
Das Jahr liegt schon ermattet auf der Krankentrage
Und will sich seines Endes nicht mehr recht erwehren.

Er schaut auf seine Uhr, die - eine Stunde schlagend -
Sich schwer um seinen linken Arm gelegt hat. Fragend
Schlägt er die Augen nieder, schaut auf alte Schuhe.

Er steht ganz still, ganz stumm. Die Zeit wird sich bewegen,
Auch wenn ein Zeiger scheinbar streikt. Nicht ungelegen
Beendet eine Wespe rasch die falsche Ruhe.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
pointierter stich, oder auch bedrohliches summen

die wespen-pointe - solche überraschungen sind natürlich untypisch für sonette, also reizvoll - ist durch die zähe trägheit der fast schon zur haltung, zur zeitlupe, zum zustand gefrorenen ereignisse davor gut vorbereitet. nicht schlecht, wie die uhr sich "schwer um den arm gelegt hat", dann, wie "ein zeiger scheinbar streikt", fein!

bei guten filmregisseuren tanzen fliegen auf der haut von toten rum, und nichts zuckt, nichts juckt - schrecklicher als sonstwas. andererseits die mücke in Tarantinos kill bill 1, die die komapatientin so drastisch aufweckt, daß sie sich hochbäumt.
 

Walther

Mitglied
Hi Mondnein,

danke für deinen kenntnisreichen und nachfühlenden eintrag. unser protagonist befindet sich im klassischen innen-/außendialog, die dem sonett das naturgedicht eröffnet. innere welt und äußere umstände stehen im austausch miteinander.

die wespe ist doppeltes sinnbild: sie ist herbstbote und zugleich der stich, der den protagonisten aus der kontemplation wieder in die reale welt zurückholt. sinnieren ist schön, hat seine zeit, schafft aber die probleme nicht aus welt. damit erhält das sonett auf diesem weg auch eine moral aus der geschicht.

der aufmerksame leser spürt natürlich, daß diese sicht der dinge nur an der oberfläche kratzt. in wahrheit will der text etwas ganz anderes erzählen, ohne diese überlegung selbst ad absurdum zu führen. aber das hast du ja gut herausgearbeitet, wobei es noch einige weitere ebenen gibt, die in die sprach- und bilderwelt eingewoben wurden.

schon die tönung der endreime, eine von Bernds spezialitäten, erzählt eine eigene geschichte, denn der text kennt nur frei klänge in den reimen. die reihenfolge, wie diese gesetzt sind, ergibt eine melodie, der nachzuhören lohnenswert sein könnte.

lieber gruß Walther
 



 
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