Die Wette

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Luis Vänster

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Was ist mit dem Hüttenfenster passiert?“, waren die Worte, mit denen mich mein Vater am nächsten Morgen begrüßte. Und ich kann sagen, meine Laune rutschte gleich einmal tief in den Keller. Verdammte Scheiße!
„Hast du es noch nicht geklärt, Willian?“, stöhnte meine Mutter lauernd.
Ich ließ mich erst einmal gähnend auf meinen Stuhl plumpsen und schenkte mir ein Glas Wasser ein.
„Nej“, murmelte ich und nahm mir ein Knäckebrot. Meine Mutter knallte ihre Kaffeetasse auf den Tisch.
„Ellen, ist gut. Ich hab ihn doch nur etwas gefragt!“, beschwichtigte mein Vater, aber das hatte nur das Gegenteil als Folge.
„Nein!“, brüllte sie, atmete tief durch und wollte mit versucht ruhiger Stimme wissen: „War er gestern zuhause, als du heimkamst?“
Mein Vater warf mir einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Ein Fehler wie sich herausstellte.
„Willian! Ich hab dir gesagt, du sollst hier bleiben…“
„Hast du gar nicht!“, empörte ich mich. Meine Mutter hatte das Problem sich immer an irgendwelche Abmachungen und Termine zu erinnern, die nicht ausgemacht waren und die nur sie kannte.
„Weißt du, ich gebe ihm ja schon erst gar keinen Hausarrest, weil er sich ohnehin nicht daran hält und ich es nicht kontrollieren kann. Aber dann kann er doch wenigstens einen Abend zuhause bleiben!“, beschwerte sich meine Mutter und kippte den Kaffee in sich rein. Ich verdrehte die Augen. Was für alberne Vorstellungen!
„Was war denn nun überhaupt?“
Mein Vater sah verwirrt zwischen uns hin und her. Ellen zog die Augenbrauen hoch und deutete auf mich.
Ich zuckte mit den Schultern, biss krachend in das Knäckebrot und meinte mit vollem Mund: „Ich hab mit Eskil Fußball gespielt und die Scheibe eingeschossen.“
Mein Vater musste sich ein Grinsen verkneifen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Ich kaufe ein neues Fenster im Baumarkt heute nach der Arbeit. Vielleicht schaffst du es, wenn du mir das Geld bis spätestens Weihnachten zahlst. Versuch, dass es so schnell nicht noch einmal passiert, sonst wird es eben teuer für dich.“
Ich nickte. Damit war ich einverstanden. Ohne Getöse und Gezicke war das geklärt. Meine Mutter starrte uns entgeistert an. Sie war jedes Mal überrascht, wie wir zwei miteinander auskamen und zwar aus dem einfachen Grund, weil meine Mom und ich es nicht hinbekamen.
Viggo lächelte sie beruhigend an.
„Alles geklärt. Ich muss gehen.“
Er stand auf, drückte meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und verschwand mit seinen zwei Taschen in den Flur. Kurz darauf hörte ich wie er mit dem Auto über den Kiesplatz davonfuhr. Wie jeden Tag unter der Woche war er auf dem Weg zur Universität nach Linköping. Er war dort Professor und unterrichtete Skandinavische Literatur und Geschichte. Zum Heulen langweilig, meiner Meinung nach. Aber für ihn war es ein Traumberuf.
„Ich hätte dir Hausarrest gegeben.“, blieb meine Mutter standhaft und vermied es mich über ihre Tasse hinweg anzuschauen.
„Hast du aber nicht.“
Ich fischte nach einem weiteren Knäckebrot.
„Ist ja jetzt abgehakt. Hast du schon gehört...“
Oh nein! Sie geriet in Plauderstimmung.
„Nej. Ich hab geschlafen. Und ich muss es auch nicht unbedingt wissen.“
„Ins gelbe Haus, dort wo die alte Henningson gewohnt hat und letztes Jahr gestorben ist, da sind gestern welche eingezogen.“
Ach ja, der Umzugswagen. Besser ich hielt einfach meine Klappe, dann ging es vielleicht schneller vorbei, das Geschwafel meiner Mutter.
„Ein Ehepaar. Aus Stockholm. Mit einer Tochter. Du könntest als Wiedergutmachung einen Willkommensgruß vorbeibringen.“
„Hä?“
Ich wüsste nicht, was ich den neuen Nachbarn getan hätte, als dass ich mich bei denen schon entschuldigen müsste!
„Dass du dich nicht an den Hausarrest gehalten hast, gestern!“, klärte mich meine Mutter auf.
Sie war doch echt unglaublich! Sie gab es nie auf!
„Okay, okay, okay, okay! Wo ist der Gruß?“
Ich würde es einfach ganz schnell hinter mich bringen.
„Der Korb steht in der Küche. Du bist ein Schatz, Willian.“
Stöhnend und ächzend stolperte ich um den Esstisch und inspizierte den Willkommensgruß. Es war ein riesiger Einkaufskorb gefüllt mit Blumen, Visitenkarten und allerlei leckerer Sachen, die ich am liebsten ausgeräumt und in meinem Zimmer versteckt hätte.
Ich fluchte, stöhnte noch ein bisschen lauter und trottete in den Flur, stieß die Tür auf und blieb auf der obersten Stufe stehen.
Ich trug eine schlabberige Baumwollhose und ein dreckiges, verknittertes T-Shirt. Ebenso verknittert müsste meine Frisur aussehen.
Und was wenn diese neuen Nachbarn eine abartig heiße Tochter hatten?
So konnte ich da nicht auftauchen!
Ich wollte gerade wieder im Haus verschwinden und mich erst frisch machen, als ich meine Mutter durch das Küchenfenster sah, wie sie mich abwartend beobachtete, ein Geschirrtuch in der Hand.
Okay.
Fast fluchtartig trabte ich die wenigen Stufen hinunter und schritt barfuß über die Straße. Der LKW war weg, aber der schwarze Passat parkte vor dem Gartenzaun. Und neben dem Tor saß ein Mädchen auf dem Asphalt und malte Kreide. Sie war höchstens sechs Jahre alt. Sehr gut. So wäre mein Styling sowieso umsonst gewesen.
„Hej hej!“, begrüßte ich die kleine Blonde und stellte den Korb neben meinen nackten Füßen ab.
Das Mädchen legte die Kreide zur Seite und blickte mit großen dunklen Augen zu mir hoch. Ich grinste sie breit an.
Dann fiel mein Blick auf ihr Kunstwerk auf dem Asphalt. Ich hatte kindliches Gekritzel erwartet. Strichmännchen, Blumen, Häuser, verkorkste Bilder.
Aber sie hatte etwas ganz anderes gemalt.
Formeln. Zahlen. Zeichen.
Erinnerte mich äußerst schmerzhaft an meinen Matheunterricht.
Mir fiel die Kinnlade herunter.
„Du schaust witzig.“
Das Mädchen und lachte mich staunend an. Ich nickte. Mein Grinsen fühlte sich inzwischen wie eine verschobene Grimasse an.
„Ist… ist das von dir?“
Sie nickte als wäre ihre Zeichnung das Natürlichste der Welt. Was es sicher nicht war.
„Woher kannst du das? Das hab noch nicht einmal ich in der Schule gelernt!“
„Das sind lineare Gleichungssysteme mit drei Variablen.“
Ich starrte sie perplex an. Das kam aus dem Mund eines kleinen Mädchens! Was zum Teufel ging hier ab? War das versteckte Kamera?
„Hab ich mir selbst beigebracht.“
Sie beobachtete mich mit schief gelegtem Kopf.
„Aha“, war das einzige, was ich herausbrachte. Die haute mich so was von vom Hocker!
„Ich nehme gerade Integralrechnung durch.“, erzählte ich ihr und war stolz auf mich, weil ich das Thema wusste.
„Das ist langweilig. Man hat immer die gleiche Formel.“
Ich konnte sie nur anglotzen.
„Wie alt bist du?“, wollte ich atemlos wissen.
„Fünf“, lautete die schlichte Antwort. Sie warf mir noch einen kurzen kontrollierenden Blick zu und griff wieder nach ihrer Kreide.
Ich schüttelte den Kopf, nahm den Korb und ging auf die Haustür zu. Ich klopfte.
Eine junge Frau mit langen blonden Haaren öffnete und lächelte mich freundlich an. Ich war immer noch etwas durch den Wind und hielt ihr den Willkommensgruß entgegen.
„Hej, välkommen till Loftahamn!“
„Oh! Tack! Das ist doch nicht nötig! Oh! Wie schön! Danke dir.“
Sie war aufrichtig erfreut über das Geschenk.
„Der ist von meiner Mutter. Wir wohnen dort drüben. Wenn du Fragen hast, komm einfach rüber, Ellen kennt sich hier bestens aus.“
Im Moment war ich derjenige, der einen Haufen Fragen hütete, dachte ich mir im Stillen. So eine normale Frau und so eine verrückte Tochter.
„Danke. Das ist wirklich nett, ich werde darauf zurückkommen. Ich bin Gittan.“
„Willian. Also…“
Ich sah unauffällig über ihre Schulter. Im Flur stapelten sich Kisten und Kartons, „ich will dich nicht beim Auspacken aufhalten. Man sieht sich.“
„Ja, man sieht sich. Schöne Ferien noch, Willian. War nett dich kennenzulernen.“
Ich grinste. Das sagten nicht viele. Ich hob grüßend die Hand und ging durch den Garten zurück.
Gittans Tochter malte immer noch Kreide. Allerdings hatte sie sich jetzt schon ein gutes Stückchen weiter die Straße hochgearbeitet. Nicht mehr mit Matheaufgaben, so viel konnte ich erkennen.
„Was ist das jetzt?“, hakte ich nach und wollte die Antwort eigentlich gar nicht hören. Ich fürchtete mich davor.
„Chemische Gleichgewichte.“
Ich hustete geschockt und starrte ihren schmalen Rücken an. Ihre Fußsohlen waren ganz bunt von der Kreide. Sie trug blaue Shorts und ein gelbes Top, ihre Haare lagen als ein dicker Zopf über ihrer Schulter.
„Du kannst Mathe und Chemie. Was kannst du noch?“
„Alles.“, behauptete sie. Ich lachte schnaubend.
„Sicher. Du kannst alles.“, wiederholte ich spöttisch.
„Ja.“, versicherte sie, „ich kann alles.“
„Haha! Wetten, ich finde irgendetwas, was du nicht kannst?“
„Okay. Ich wette, dass du nichts findest.“
Ich lief zu ihr, kniete mich neben sie und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie mit ihren Kreidepfoten und sah mir fest in die Augen.
„Super. Wette gebongt."
„Halt! Um was wetten wir?“
Sie blickte mich abwartend an.
„Äh? Um nichts?“
„Nej, das ist langweilig. Du gibst mir hunderttausend Schwedische Kronen, wenn du verlierst.“
Ich lachte. Dieser Wetteinsatz war zwar wirklich einiges, aber ich würde ja wohl etwas finden, was dieses Mädchen nicht konnte. Alles andere schien mir unmöglich.
„Okay, einverstanden. Du besorgst mir eine Freundin und machst mir meine Mathehausaufgaben nächstes Schuljahr.“
Sie überlegte kurz und nickte dann zustimmend. Wow, ich freute mich jetzt schon!
„Wie lange lassen wir die Wette laufen?“, fragte sie und räumte ihre Kreiden in die Plastikbox zurück.
„Bis die Schule wieder anfängt.“, schlug ich vor. Auch damit war sie einverstanden. Ich richtete mich fröhlich wieder auf. Die Wette konnte witzig werden. Ich freute mich jetzt schon auf die Berge von Matheaufgaben, die ich nicht machen musste. Und auf meine Freundin. Es war mir echt egal, wie sie mir eine besorgen wollte, aber so lautete nun einmal ihr Wetteinsatz.
Ich strich mir durch meine verstrubbelten Haare und blickte in den strahlend blauen Himmel hinauf.
„Wie heißt du überhaupt?“
„Tiffany Dalen. Und du?“
„Ich bin Lian, der Löwe.“
Sie lachte und sah mich bewundernd an. Was ich wirklich nicht nachvollziehen konnte, weil es meiner Meinung nach eigentlich andersherum sein müsste. Sie löste knifflige Matheaufgaben in ihrer Freizeit und ich war mit Pauken und Trompeten gerade so versetzt worden.
„Gut, Tiff. Dann zeig mal, was du so alles draufhast.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hatte schon meine Traumfrau vor Augen, die mir Tiffany bald aussuchen würde. Und ich war überzeugt, dass es bald sein würde, denn dieses Mädchen war schließlich fünf Jahre alt. Ich würde im Handumdrehen etwas finden, was sie nicht konnte.
„Alles.“, behauptete sie fest und verschränkte ebenfalls die Arme. Ich blickte sie herausfordernd an, sie hielt meinem Blick frech stand.
„Okay, was ist 15 hoch drei?“, wollte ich wissen und bemerkte sogleich meinen Fehler. Wie sollte ich kontrollieren, ob ihr Ergebnis richtig war? Shit!
„Willst du mich verarschen?“, schoss Tiffany zurück. Ich zuckte zusammen.
„Äh, nein. Ist das zu schwer?“
„Ganz im Gegenteil! Das ist pupsieinfach!“
Sie stand auf und baute sich vor mir auf. Sie reichte mir bis zur Hüfte.
„Dreitausend dreihundert fünfundsiebzig. Richtig?“, sagte sie ohne einmal überlegt zu haben. Ich hustete ablenkend.
„Ähm,…ja?!“, murmelte ich und sog die Luft ein. Ich konnte es immer noch nicht glauben.
Mit Kopfrechnen konnte ich diese Wette nicht gewinnen, so viel wurde mir jetzt schon klar. Aber vielleicht war sie so abnormal, dass sie die schwersten Berechnungen anstellen konnte, aber alles andere, was fünfjährige Mädchen normalerweise konnten, nicht draufhatte. Möglich war es doch.
„Lassen wir Mathe, das kannst du anscheinend wirklich richtig gut. Was ist mit… Handstand?"
Sie sah mich an, als würde sie fragen: Das ist jetzt nicht dein ernst?!
So langsam wuchs die Unsicherheit in mir. Was war, wenn ich nichts fand? Dann hatte ich hunderttausend Kronen Ehrenschulden bei meiner fünfjährigen Nachbarin! Wie sollte ich so viel Geld auftreiben? Ich konnte ja noch nicht einmal die zerschossene Fensterscheibe zahlen!
Aber ich verdrängte den Gedanken sofort. Als ob! Das gab es nicht, ein kleines Mädchen, das wirklich alles konnte.
Tiffany holte mit den Armen Schwung und vergrub ihre Hände im grünen Gras. Federleicht richtete sie sich auf und stand senkrecht in der Luft.
„Kannst du auch laufen? Vorwärts und rückwärts.“
Ich ging in die Knie und neigte den Kopf um ihr ins Gesicht sehen zu können. Sie nickte und tastete sich durch die Wiese. Problemlos balancierte sie sich aus. Langsam lief ihr Kopf rot an und sie verdrehte die Augen, damit sie mich anschauen konnte.
„Fertig?“, keuchte sie. Ich nickte und sie plumpste auf den Boden. Tiffany zupfte sich die Halme von den Beinen, richtete ihren Zopf und sah abwartend zu mir hoch.
„Und jetzt?“
Ehrlich gesagt, war ich nicht gerade der Kreativste. Ich brauchte immer einige Zeit bis mir etwas einfiel.
„Mal überlegen. Wo kommst du noch einmal her?“
„Aus Stockholm. Wohnst du schon immer hier?“
„Yep. Mein Geburtshaus. Und das von meiner Mutter.“
Ich deutete auf unser rotes Haus hinter mir, „warum seid ihr umgezogen?“
„Wegen mir.“
Hätte ich das gesagt, hätte es ironisch geklungen (und wäre es auch gewesen), aber Tiffany meinte es ernst.
„Äh? Warum das?“
Ich hatte absolut kein schlechtes Gewissen, weil ich so neugierig war.
„Sag ich dir nicht.“, wehrte sie ab und funkelte mich herausfordernd an.
Ich bekam eine Ahnung, was ich vor mir hatte. Die Göre war starrköpfig, damit das gesagt war.
„Und deine Eltern haben das einfach hingenommen? Wie ist das mit arbeiten?“
„Mein Papa findet überall einen Job. Er ist Polizist.“, erklärte sie, nicht ohne Stolz.
Scheiße! Die Polizei höchstpersönlich als Nachbar! Na klasse!
„Und deine Mama?“
Nebenbei überlegte ich mir weitere Herausforderungen für sie.
„Die arbeitet nicht. Sie ist immer zuhause.“
„Hast du keine Geschwister?“
„Nein. Und du?“
Ich schüttelte den Kopf. Ich war Einzelkind und das war gut so.
„Hej. Mir ist was eingefallen! Kannst du Französisch?“
Ha! Jetzt hatte ich bestimmt meine Freundin und meine gemachten Hausaufgaben sicher!
„Bonjour. Je m’appelle Tiffany. Et tu?“, plauderte sie munter und grinste mich amüsiert an, als ihr Blick auf meinen verkorksten Gesichtsausdruck fiel. Ich sah sicherlich aus, als hätte man mir gerade ein grünes Monster mit fünfzehn blauen Armen vor die Nase gehalten.
Mir sackten die Schultern nach unten.
„Du bist witzig. Du hast echt geglaubt, dass das ganz schnell geht. Stimmt’s?!“, ertappte sie mich. Ich nickte kaum merklich. Die Gesamtsituation erfasste mich wie ein kalter Eimer Wasser und überzog mich mit Gänsehaut. Ich hockte neben meiner fünfjährigen Nachbarin, die ich vor einer Viertelstunde kennengelernt hatte, im Gras und hatte schon eine Wette mit dem Einsatz von hunderttausend Kronen geschlossen. War ich eigentlich noch ganz dicht? Das war ja nahezu lebensmüde! Shit, verdammt!
Tiffany lachte mich doch tatsächlich aus.
„Bereust du es schon?“, sie krümmte sich vor Kichern, „man sollte nichts in seinem Leben bereuen, Löwe!“
Ich konnte nur sprachlos den Kopf schütteln. Wo sammelte man in fünf Lebensjahren so viel Lebensweisheit? Und ich checkte nach siebzehn Jahren immer noch nicht, wie ich selbst tickte?! Ich ließ mich von einer Fünfjährigen an der Nase herumführen!
Toll hingekriegt, Lian!
„Ich schlage dich schon noch, wart’s ab! Die Wette läuft. Und ich werde gewinnen.“
„Jaja, träum weiter! Ich werde der Sieger sein, ganz sicher!“
Ich zog eine Grimasse.
„Kannst ja schon mal die Wahrscheinlichkeit ausrechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass du gewinnst. Ich muss jetzt auf jeden Fall mal wieder zurück. Ich überlege mir noch eine Taktik, wie ich dich aus dem Rennen nehme.“, versicherte ich ihr. Tiffany lachte immer noch.
„Okay. Dann geh ich rein und pack meine Kisten aus. Kommst du nachher vorbei?“
„Ja, bis nachher, Tiff. Und denk dran, ich mach dich platt!“
Ich hob den Zeigefinger und drohte ihr grinsend. Sie kicherte amüsiert, total kirre. Irgendwie war sie ja schon recht süß. Ich zwinkerte und zupfte an ihren blonden Haaren. Ich lief die Einfahrt hinunter und wandte mich am Gartentor noch einmal zu ihr um. Ich winkte zum Abschied.
„Hej då, Löwe!“, rief Tiffany mir hinterher und wedelte mit beiden Händen hin und her.


Meine Mutter erwartete mich schon im Flur.
„Na, hast du mich beobachtet?“
Ich war zu gutgelaunt um genervt zu sein. Ich drückte mich an ihr vorbei und machte mich daran, mein Frühstück fortzuführen.
„Sind sie nett? Haben sie sich gefreut?“
Sie war mir mit ihrem Küchentuch ins Esszimmer gefolgt und stützte ihre Hände abwartend auf die Tischplatte.
„Zweimal ja.“, murmelte ich kurzangebunden, füllte meinen Teller, meine Tasse und mein Glas und begann auch meinen Magen zu füllen.
„Schön. Hast du dich mit dem Mädchen angefreundet?“
Ich muss dazu sagen, dass meine Mutter ganz scharf darauf ist, dass ich endlich eine Freundin habe. Ich hab da so meine Angst, was sie dann machte. Entweder sie ätzte sie aus dem Haus, oder sie umschwärmte sie, oder… keine Ahnung.
„Das hotteste Girl der ganzen City. Cheerleader. Sie hat mit ihren Pompons im Garten Flickflack geübt.“
Meine Mutter schüttelte nur angewidert den Kopf. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob wegen meiner Story oder wegen mir. Vielleicht wegen beidem.
„Was machst du heute?“, wollte sie dann auch noch zu meinem Leidwesen wissen. Ihre absolute Lieblingsfrage, weil sie darauf immer einen gehässigen Monolog über mich schütten konnte.
„Nichts. Aber ich werde mich schon nicht langweilen.“
„Da bin ich sicher. Und wenn’s dir doch langweilig wird, schießt du wieder Fenster ein?!“
Ich hatte sie offensichtlich nicht überzeugen können. Ellens Humor kam nur zum Vorschein, wenn ich ihr auf den Geist ging. Das Witzige war daran, dass ich sie nur dann nervte, wenn sie mich nervte. Ich würde nie von alleine auf die Idee kommen, zu ihr zu traben und sie auf die Palme zu treiben. Und trotzdem warf sie mir das immer vor.
„Nej, dann komm ich zu dir in den Laden.“
Und endlich erreichte ich einmal, was ich erreichen wollte. Ein panischer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht und sie winkte hektisch ab.
„Ist okay, ist okay. Ich mach mich dann mal auf den Weg. Lass das Haus stehen, bitte.“
Sie versuchte sich an einem strengen Blick und trabte die Treppe hoch.

Erleichtert atmete ich durch. Ich hatte es geschafft, sie war bald weg. Für den ganzen Tag in ihrem Blumenladen verschollen. Bis die Sonne im Meer versank. Sprich Mitternacht. Und mein Vater kam auch erst ziemlich spät von seiner Ausstellungseröffnung in der Uni wieder.
Was sollte ich mit dem fabelhaften Sommertag anstellen?
Im Nacken saß mir die Pflicht, Tiffany zu schlagen.
Außerdem hatte mich Njal zum Essen eingeladen. Sein großer Bruder veranstaltete seine Abschiedsparty bevor er für ein Jahr in die USA ging.
Und dann hatte ich noch ungefähr tausend andere Möglichkeiten, aus denen ich wählen konnte.

In dem Moment kam meine Mutter wieder die Treppe runter. Sie hatte sich umgezogen und einen Bottich mit Blumen unter dem Arm. Umständlich fischte sie ihre Schlüssel aus der Blechschale neben der Tür und angelte gleichzeitig nach ihrer Handtasche. Sie lebte immer noch in dem Glauben durch und durch multitaskingfähig zu sein.
„Du hängst seit Wochen nur hier rum und langweilst dich. Hast du dich jetzt eigentlich mal um einen Job gekümmert?“
Ich verdrehte stöhnend die Augen und räumte die leeren Teller aufeinander.
„Nej, noch nicht. Ich hab einfach keinen Bock.“
„Solltest du aber trotzdem. Du hast dich jetzt wochenlang entspannen können. Ein bisschen Erfahrung in einem Ferienjob wäre nicht schlecht. Frag doch mal bei Roland nach.“
Sie arrangierte ihre Last auf den Armen und schlüpfte in ihre Turnschuhe. Ich schnaubte empört.
„Ich arbeite doch nicht in einer Autowerkstatt!“
„Ach ja, der Herr würde sich da ja nur die Finger schmutzig machen!“, machte meine Mutter sich lustig und wedelte mit ihrem Fahrradschloss durch die Luft, „ich bin jetzt weg. Hej då!”
Mit einem lauten Knall schlug die Haustür ins Schloss.

Ich stellte das schmutzige Geschirr in der Spüle ab und rannte die Treppe hoch in mein Badezimmer. Meine Haare sahen furchterregend aus. Sie standen in alle nur erdenkliche Richtungen ab und waren total verknotet.
Als ich das Haus verließ, waren sie ordentlich mit Gel gezähmt, ich trug bunte Badeshorts und ein graues Top. An den Füßen hatte ich wie üblich nichts. Ich lief den ganzen Sommer barfuß durch die Gegend. Ich entschied mich für den Fußweg und marschierte die Straße hinunter. Ehrfürchtig umlief ich die Kreidezeichnungen von Tiffany und grüßte im Vorbeigehen ihre Mutter, die kurz am Fenster auftauchte.
Die Hauptstraße lag verlassen vor mir. In den Gärten waren Blumengießer und Rasenmäher am Werk, Kinder sprangen auf Trampolinen herum und jagten sich um Bäume. Die schwedische Fahne auf dem Dach der Touristeninfo flatterte im Wind, die Straßenschilder steckten frischgestrichen auf der Kreuzung.
Mein erster Abstecher endete im ICA. Dort arbeitete Bo Beckson an der Kasse. Der Laden war wie immer vormittags ziemlich leer, nur zwei Rentnerinnen schoben ihre Körbe durch die Regale.
„Hej hej!“, begrüßte ich Bo, der sich mit Ragna unterhielt. Das dunkelhaarige Mädchen saß auf dem Förderband und baumelte mit ihren langen, dürren Beinen.
„Der Löwe“
Sie musterte mich genervt mit schwarzumrandeten Augen. Darauf durfte ich mir nichts einbilden. Ragna schaute immer, als wäre sie von allem und jedem angekotzt. Lustlos ließ sie eine riesige pinke Kaugummiblase platzen und schleuderte ihre Haare auf den Rücken.
„Wie geht’s, wie steht’s? Alles in Butter?“, hakte ich fröhlich nach und gab dem Mädchen einen Klaps auf den Oberschenkel. Beckson gab mir ein Highfive.
„Klar. Lian macht wieder seine allseits bekannte Ferienrunde!“
Es hatte sich wohl schon rumgesprochen, dass meine Eltern den Familienurlaub in Göteborg abgeblasen hatten und ich doch den gesamten Sommer in Loftahamn rumhing. Dasselbe wie jedes Jahr.
„Ihr habt die Ehre, die ersten zu sein.“, teilte ich den beiden mit und riss die Plastikverpackung eines Sixpacks Cola auf. Zwei der Flaschen legte ich neben Ragnas Hintern auf das Förderband und sah zu wie Bo seine Freundin zur Seite schob. Sie beschwerte sich lautstark und funkelte mich giftig an. Kaum stand sie mit beiden ihrer manikürten Füße auf den Fliesen, wirbelte sie herum und starrte angewidert denjenigen an, der hinter mir wartete. Ich drehte mich neugierig um.
Tiffany.
Unsicher blickte sie zwischen Ragna und mir hin und her.
„Hej, Tiff.“
„Hallo.“, murmelte sie leise und sortierte nacheinander ihre Einkäufe auf das Band. Ein Tetrapack Joghurt, eine Box Coleslaw und eine Packung Knäckebrot.
„Du kennst die?“, zischte Ragna und zwar in nicht gerade leiser Lautstärke.
„Das ist Tiffany, meine Nachbarin. Tiff, das ist die reizende Ragna und ihr Freund Bo.“
Ragna zog die Augenbrauen hoch und drehte sich um. Ich warf Tiffany einen entschuldigenden Blick zu und wartete bis sie auch gezahlt hatte.

Nebeneinander verließen wir den Supermarkt und setzten uns auf eine Bank neben dem Parkplatz.
„Sind das deine Freunde?“
Tiffany stapelte ihre Einkäufe auf ihrem Schoss. Sorgfältig verstaute sie ihr Rückgeld im Geldbeutel.
„Naja. Eher Freunde von Freunden. Was ist mit deinen Freunden, vermisst du sie?“
„Nej!“, sagte sie entschlossen.
„Nicht?“
Ich war überrascht. Man vermisste doch seine Freunde, wenn man drei Stunden weit weg wohnte.
„Nein. Was machst du jetzt?“, wechselte sie das Thema und deutete auf meine zwei Colaflaschen.
„Ich wollte runter zum Hafen. Ich hab da einen Kutter liegen. Willst du auf eine kleine Rundfahrt mitkommen?“
„Warum nicht“
Sie erschien mir zugleich um einiges fröhlicher. Sie hopste auf den Boden und wartete ungeduldig bis ich mich auch aufgerichtet hatte und neben ihr her die Straße hinunterging. Sie hüpfte quer über den Asphalt. Der Joghurt musste ganz schön durchgeschüttelt werden.
„Ist das okay für deine Mama, dass du mit mir mitfährst?“, Nicht das ich noch wegen Kidnapping angezeigt wurde.
„Ich hab gesagt, dass ich mich ein bisschen umschauen geh. Das ist schon in Ordnung. Fährst du auch zum Angeln aufs Meer?“
„Nein, dazu bin ich viel zu ungeduldig. Kannst du angeln?“
Nicht ohne Hintergedanken.
Sie durchschaute mich und gackerte vor sich hin.
„Jaaaa! Mein Opa hat mich letzten Herbst mitgenommen. Ich hab drei Lachse gefangen!“
„Lachse? Wirklich? Wo war denn das?“
Ich war mir sicher, dass sie mir ein typisches Kindermärchen auftischte.
„In Finnland.“
Oder auch nicht. Ich war gespannt, ob Tiffany auch etwas erzählen konnte, was mich nicht überraschte. So langsam zweifelte ich daran.

„Willst du eine Freundin wie diese Ragna?“
Ich schüttelte lachend den Kopf.
„Gibst du dich geschlagen?“
„Oh nein! Ganz sicher nicht! Ich wollte es nur wissen.“, blieb sie standhaft und hopste weiter zum Hafen hinunter.
„Nein, ich kann Ragna nicht ausstehen. Komm, wir müssen hier entlang.“
Ich zeigte nach links und führte das Mädchen an den Schuppen vorbei, in denen die Fischer ihr Zeug aufbewahrten. Am allerersten Steg waren kleine Metallkutter und Motorschlauchboote vertäut. Mein Boot war das letzte.
Roland, dem die Autowerkstatt gehörte, hatte seinen Werkzeugkasten auf den Holzbrettern ausgebreitet und hing in seinem Kutter. Sein Hund saß mit wedelndem Schwanz und knallroter Schwimmweste zwischen zwei Eimern und blickte uns freudig entgegen. Tiffany strahlte über das ganze Gesicht. Sie stürzte zu ihm und strich ihm zärtlich über den braunen Kopf.
„Kann der nicht schwimmen?“
Roland beachtete sie gar nicht und widmete sich lediglich seinen Gerätschaften.
„Skip fehlt ein Bein und als er letzten Sommer einer Möwe hinterher ins Meer gesprungen war, ist er fast ertrunken. Seitdem muss er immer eine Schwimmweste tragen.“
Tiffany streichelte dem Hund noch einmal über die Ohren und rannte hinter mir her.
„Ist das dein Boot?“, rief sie aufgeregt und blieb musternd neben mir stehen.
„Ja“
Lächelnd betrachtete ich den Metallkutter.
„Ziemlich alt. Geht der nicht unter?“
Das schockierte mich wirklich. Ich liebte mein Boot. Und niemand sollte meinen Kutter beleidigen, auch wenn er schon einige Jahre auf dem Buckel hatte.
„Nej!“
Ich stieg mit einem Fuß ins Boot. Mit dem anderen hielt ich den Kutter ruhig. Nachsichtig lächelnd reichte ich Tiffany eine Hand.
„Einsteigen, Madam.“
Sie funkelte mich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ich kann das allein!“
Sie funkelte mich drohend an und kletterte selbstständig über die niedrige Reling und setzte sich auf die Bank. Ich lachte amüsiert und räumte unser Picknick in die Kiste, die ich extra für solche Dinge vorne am Bug angebracht hatte.
„Ach ja, stimmt, hatte ich schon fast vergessen.“
Ich ließ mich an meinem Stammplatz neben dem Motor nieder und griff schon routinemäßig nach dem Starthebel, als mein Blick auf Tiffany fiel, die jede meiner Bewegungen verfolgte.
„Kannst du auch Bootfahren?“
Naja, vielleicht war es doch etwas gemein, eine Fünfjährige zu fragen, ob sie den Bootsmotor anbekam und aus dem Hafen fahren konnte. Aber immerhin ging es hier für mich um hunderttausend Schwedische Kronen.
„Ja, klar.“, behauptete sie übermütig und rutschte zu mir rüber. Ich machte ihr Platz und beobachtete sie gespannt. Niemals konnte sie so viel Kraft aufbringen, die Leine so schnell zu ziehen, dass der Motor ansprang. Selbst ich hatte da manchmal so meine Probleme, es auf Anhieb zu schaffen. Und ich fuhr tagtäglich mit meinem Boot raus.
Tiffany umklammerte den Plastikgriff mit beiden Händen, vor Konzentration legte sich ihre Stirn in Falten. Sie warf mir einen kontrollierenden Blick zu, grinste angespannt und ruckte an dem Griff. Nichts passierte.
„Na los. Noch einmal.“
Ich angelte mir nur einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen.
Tiffany lehnte sich nach vorne, sie saß überhaupt nicht mehr auf der Bank. Ich schmunzelte vor mich hin, wie sie ihre Armmuskeln anspannte und sich mit einem Ruck nach hinten fallen ließ. Dabei rutschte sie mit den Füßen auf dem Metallboden aus und rumste rückwärts über die Sitzbank. Das passierte so schnell und ruckartig, dass… der Motor ansprang.
Überrascht hüpfte ich auf und starrte entgeistert das Mädchen an, das rücklings in meinem Boot lag.
„Alles ok, Tiff? Hast du dir wehgetan?“, fragte ich besorgt und griff nach dem Pfosten um den Kutter still zu halten.
Sie strich sich fahrig die Haare aus dem Gesicht und setzte sich auf. Als sie hochsah, hatte sie ein breites Grinsen aufgesetzt.
„Gewonnen“
Sie streckte mir die Zunge raus. Ich lachte erleichtert, da ich schon dachte, sie hätte sich ernsthaft verletzt.
„Ja, leider. Aber auch nur durch Glück und Zufall.“
Sie schüttelte protestierend den Kopf.
„Ach was. Der Motor ging an, weil ich es kann.“
„Na sicher. Eigentlich hab ich jetzt gar keine Lust mehr, dich mitzunehmen.“, beichtete ich ihr und meinte es natürlich ironisch.
„Aber ich muss doch noch aus dem Hafen fahren. Das kann ich auch!“
„Das glaube ich dir sofort. Bitte sehr.“
Tiffany kam wackelig auf die Beine und stolperte auf die Bank zu. Ich nahm ihr gegenüber Platz und beobachtete das fünfjährige Mädchen dabei, wie sie den Motor und die Schalter inspizierte. Zögernd griff sie nach dem Gashebel und grinste mich herausfordernd an. Ich musste mich zusammenreißen, dass ich nicht zustimmend nickte. Sie würde sowieso gleich die Erfahrung machen, dass sie richtig lag.
Abwartend sah sie mich immer noch an.
„Ist was?“, wollte ich nervös wissen.
„Willst du das Boot nicht losmachen?“
Das Blut schoss mir ins Gesicht. Dass es eine Fünfjährige schaffte, dass ich mich so peinlich berührt fühlte. Ich verpackte das nicht.
Mit fahrigen Händen löste ich die Knoten und warf das Seil neben mich unter die Bank.
„Los geht’s“
Tiffany drehte an dem Griff und das Boot tuckerte dröhnend rückwärts aus der Lücke.
Ich muss zugeben, ich war beeindruckt.
Ziemlich feinfühlig. Und das, ohne davor schon einmal gefahren zu sein.

Nachdem wir das Hafenbecken hinter uns gelassen hatten, gab Tiffany ein bisschen mehr Gas und steuerte auf die schmale Durchfahrt zwischen den beiden Halbinseln zu. Auf der rechten Landzunge befand sich ein Campingplatz, der seit ein, zwei Monaten brechend voll war mit Urlaubern. Ich konnte diese Campingleute nicht leiden. Die hielten sich für die aller ökologischsten und müllten doch nur unsere Badeplätze zu.
Und auf der linken Halbinsel befand sich der Hof von Kjartan, der heute Abend die amerikanische Party veranstaltete.
Wir passierten die beiden Schiffszeichen, die die Einfahrt in den Hafen markierten. Das Wasser wurde unruhiger und uns erreichten die ersten Meeresböen.
„Übernimmst du? Ich kenne mich hier nicht aus.“
Tiffany hangelte sich an der Reling zu mir rüber. Ich rutschte auf die andere Bank und lenkte uns um den Campingplatz herum. Das Bug schlug klatschend auf dem Wasser auf, die Tropfen flogen spritzend durch die Luft. Tiffany kniete sich in Fahrtrichtung und hielt ihr Gesicht in den Wind. Die Gischt befeuchtete mein Shirt und stellte die Härchen an meinen Armen auf. Es wurde sofort frischer, obwohl die Sonne vom wolkenfreien Himmel knallte.
„Das ist wie Achterbahnfahren!“, jauchzte Tiffany und lachte ausgelassen. Sie streckte die Arme aus und jubelte erfreut.
Ich leckte mir das Salz von den Lippen und bemerkte, dass ich lächelte.
Ich war hier zuhause. Das leuchtend blaue Meer mit den grünen, teils felsigen Inselchen. Der Schärengarten von Loftahamn, locker mit kleinen roten Häuschen besiedelt. Ich kannte jeden Felsen, jede tückische Unterströmung. Sommer für Sommer erkundete ich das Gewässer, kam nur nachts zum Schlafen nach Hause. Für mich bedeutete das das wahre Paradies.

Mein heutiges Ziel war eine winzige Bucht auf Horsö. Die flache Steinplatte umgeben von alten Bäumen war mein absoluter Lieblingsplatz. Ich hatte noch nie jemanden mit dorthin genommen. Nicht einmal Eskil. Und mit dem durchforstete ich eigentlich den gesamten Schärengarten.
Die Fahrt verlief schweigend, Tiffany erfreute sich an ihrem Bugplatz und war ziemlich nass, als die Bucht in Sicht kam. Ich war vollends auf Ferienfeeling heruntergefahren und tiefenentspannt.
Für die letzten Meter schaltete ich den Motor aus und ruderte mit den beiden Holzpaddeln ans Ufer ran. Die glitschigen Steine, die unter Wasser lagen, machten das immer zu einer Herausforderung, aber ich hatte ja Übung genug.
Mit einem großen Sprung setzte ich auf die Insel über und zog das Seil hinter mir her. Der Metallkutter schrabbelte über den felsigen Untergrund. Tiffany kletterte aus dem schwankenden Boot und kam mir zu Hilfe. Gemeinsam umfassten wir das Seil und zerrten den Kutter zur Hälfte aus dem Wasser.
Das Mädchen klatschte in die Hände und stemmte sie stolz in die Hüfte.
„Geschafft. Jetzt hab ich Hunger.“
Sie marschierte über die Steinplatte in den Schatten der hohen Bäume. Ich blickte ihr hinterher, befestigte das Boot an einer knorrigen Wurzel und leerte die Kiste. Was ich auch immer dabeihatte, war eine Decke und ein frisches Shirt. Allerdings was das „frische“ Shirt das ausgewechselte von letztem Mal. Es war immer noch klamm und feucht, stank nach Fisch und Salz. Ich hängte es zum Trocknen zusammen mit meinem Top an einen Ast, breitete die Decke aus und leerte zur Hälfte eine Colaflasche. Ich schob mir die Sonnenbrille auf die Nase und legte mich in die Sonne. Da musste ich nicht nach Frankreich oder sonst wohen fahren um den perfekten Urlaub zu haben.
„Da hinten steht eine Kuh!“, unterbrach Tiffany lauthals die idyllische Stille. Ich öffnete noch nicht einmal meine Augen.
„Ich weiß. Die grasen hier. Lass sie einfach in Ruhe.“
Ich erinnerte mich an vor ein paar Wochen. Da hatte ich die Kühe ganz und gar nicht in Ruhe gelassen. Die Schule war früher aus gewesen und ich war mit Eskil und Bo raus gefahren.
Schlussendlich endete unsere Ausfahrt in einer wilden Wasserschlacht, wobei jeder mehrmals ins Meer stürzte und wir die unschuldigen Kühe mit Wasser bespritzten bis sie muhend ins Gebüsch flüchteten.
„Kann ich was von der Cola haben?“
Sie kniete neben meinem Kopf und schwenkte die Flaschen über mein Gesicht.
„Ich weiß nicht, ob du das kannst!“
Ich wollte Stille, mich entspannen, ein wenig dösen. Warum nahm ich eine fünfjährige Göre mit, mit der ich noch nicht einmal verwandt, geschweige irgendwie bekannt war? Sie war lediglich meine Nachbarin, die ich heute Morgen kennengelernt hatte.
Ich war eben doch eine spontane Backpflaume, die seine Aktionen eine halbe Stunde nach Ausführung bereute. Und noch dazu, lernte ich nie aus meinen Fehlern.
Allerdings war ich auch berühmt dafür, aus meinen Fallen wieder herauszukommen.
Ich setzte mich ruckartig auf, schlug mir dabei die Colaflaschen auf die Nase, die Tiffany immer noch hin und her schleuderte.
„Hej, hör auf! Du schüttelst die ganze Kohlensäure raus!“, beschwerte ich mich und nahm ihr die Flaschen ab. Gleichzeitig rieb ich mir mein Gesicht.
„Kannst du denn nicht mal ein kleines, braves, stilles Mädchen sein?!“
Sie legte den Kopf schief und schwieg doch tatsächlich. Ich klappte wieder meine Augen zu und ließ mich zurück auf die Decke fallen. Ging doch!
„Ich kann. Aber ich will nicht.“
Wäre ich nicht ohnehin schon gelegen, meine Schultern wären nach unten gesackt.
„Irgendwo da hinten im Schatten liegt dein Vesper. Hattest du nicht Hunger?“
Ich hörte wie sie aufstand und knisternd die Packungen aufriss.
„Willst du auch etwas?“
Ich wusste, sie meinte es nur nett. Meine Antwort fiel wohl etwas barsch aus, aber sie begann mir echt auf den Geist zu gehen. Wenn ich nicht allein sein wollte, nahm ich jemanden mit. Aber immer jemanden, der selbst nicht ununterbrochen laberte. Tiffany war da anscheinend die falsche Begleitung. Allerdings sollte ich in dem Fall berücksichtigen, dass sie fünf Jahre alt war. Ich konnte das nicht oft genug wiederholen. Ich musste mich selbst immer wieder daran erinnern, weil ich es dauernd vergas.
„Warum bist du plötzlich so schlecht gelaunt?“
Sie hockte wieder neben mir. In jeder Hand hielt sie ein Knäckebrot, großzügig mit Coleslaw bestrichen.
„Weil du ohne Unterbrechung redest.“
Blinzelnd sah ich zu ihr rüber. Zerknirscht betrachtete sie ihre beiden Brote.
„Sorry“
Zögernd streckte sie eine Hand aus, wollte mir wohl eines ihrer Knäckebrote reichen. Allerdings zitterten ihre Finger. Wie in Zeitlupe beobachtete ich, wie ihr das Knäckebrot aus der Hand rutschte, sich wendete und mit der Krautsalatseite nach unten… auf meinem nackten Bauch landete.
Geschockt sog ich die Luft ein, verschluckte mich und bekam einen Hustenanfall. Tiffany saß wie versteinert neben mir. Ich schlang die Arme um meinen Kopf, den ich ununterbrochen schüttelte. Ich war fassungslos.
„Ups"
Ich prustete los vor Lachen.
„Oh mein Gott! Gut gezielt, Tiff! Ich wollte immer schon einmal von meinem Bauch essen!“
Das Mädchen löste sich aus seiner Starre und lächelte mich unsicher an.
Vorsichtig setzte ich mich auf, nahm das Brot ab und schleckte den Coleslaw von meinen Fingern.
Ich konnte nie jemandem lange böse sein. Und auf dieses Mädchen sowieso nicht.
„Ist alles okay, Tiff. Guten Appetit.“
Ich lachte immer noch. Krachend biss ich in das Brot und futterte dazu den Coleslaw. Als ich fertig war, betrachtete ich skeptisch meinen verschmierten Oberkörper.
„Ich glaube, ich muss eine Runde schwimmen gehen.“
Ich stand schon auf, aber Tiffany hielt mich am Arm zurück.
„Man soll nicht mit vollem Magen ins Wasser gehen. Du musst erst zwei Stunden warten.“
„Du Klugscheißer!“
Vorsichtig tastete ich mich über die glitschigen Steine. Natürlich musste ich ausrutschen und mit rudernden Armen ins Meer plumpsen. Ich hörte, wie Tiffany mich auslachte, bevor das Wasser über meinem Kopf zusammenschlug.
Das Meer war kalt, nur die Oberfläche von der Sonne aufgewärmt. Ich liebte schwimmen. Mit vierzehn hatte ich den Tick gehabt und gemeint jeden Morgen vor der Schule schwimmen gehen zu müssen. Allerdings hatten mir meine Muskeln auch nicht in Sachen Mädchen weitergeholfen. Sie standen auf den lustigen Kjartan, den stillen Eskil und den lauten Bo. Aber nicht auf den coolen, sportlichen, äußerst gutaussehenden Willian. Lag vielleicht an meinem altmodischen, falsch geschriebenen Namen. Oder aber daran, dass ich mit vierzehn ziemlich komisch gewesen bin. Die Betonung liegt auf der Vergangenheitsform. Heutzutage war ich nicht mehr so merkwürdig. (Bildete ich mir ein.)

Ich kraulte ein paar Züge durchs Wasser, hielt dann inne, drehte mich auf den Rücken und blickte zu Tiffany zurück. Sie lief um das Boot herum und schien etwas zu suchen. Auf mich achtete sie kein bisschen. (Welch eine Ironie!)
„Lian!“, brüllte Tiffany panisch und winkte wild.
Prustend schwamm ich an Land, zog mich ans Ufer und schüttelte mich wie ein Hund. Ich strich mir das Wasser aus den Haaren und dem Gesicht und wandte mich fragend an Tiffany.
„Was gibt’s?“
„Mein Schuh ist weg!“
Sie funkelte mich an, als wäre ich daran schuld.
„Hast du schon im Boot nachgesehen?“
Tiffany starrte, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
„Ich hab schon überall gesucht!“
„Kannst du etwa deinen Schuh nicht finden?“
„Du bist blöd!“, maulte sie, „was mache ich denn jetzt?“
„Entweder weitersuchen oder aufgeben.“
Ich breitete die Decke wieder auf der Steinplatte aus.
„Blödmann!“
Tiffany drehte sich von mir weg, kniete sich vor den Kutter und schaute darunter nach. Danach sah sie bei ihrem Vesper im Schatten nach und unter den Büschen.
„Ich find ihn nicht! Kannst du mir denn nicht helfen?“
Ich stöhnte, setzte meine Sonnenbrille auf und trottete zu ihr rüber.
„Wie sieht er denn aus?“
„So wie der.“
Sie hielt mir einen orangenen Flip-Flop unter die Nase und blickte abwartend zu mir hoch.
„Denkst du etwa, ich kann den jetzt herzaubern?“
Sie drehte verärgert den Kopf weg.
„Mama wird mich schimpfen, wenn ich ohne Schuhe nach Hause komme!“
„Einen hast du ja noch.“
Aufmunternd klopfte ich ihr auf den Rücken
„Vielleicht wurde er von einer der Kühe geklaut.“
„Oder von einem Hai.“
„Hier gibt es keine Haie.“, beruhigte ich sie.
„Ich weiß!“, schrie sie und stampfte wütend mit einem Fuß auf, „Mama wird sauer auf mich sein. Und dann bekomme ich Hausarrest!“
„Hej, du kannst doch nichts dafür, dass dein Flip-Flop verschwindet.“
Ich wollte ihr eine Hand auf die Schulter legen, aber sie trat einen Schritt zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Sie wird trotzdem böse sein.“
„Dann sag ich ihr, dass ich schuld bin, weil ich nicht gut genug auf ihn aufgepasst ab.“
Ich wollte sie nicht so verzweifelt sehen.
„Haha“, machte sie, überhaupt nicht amüsiert. Sie presste die Lippen aufeinander und sah mich panisch an.
„Ich weine nicht.“
„Nej, du weinst nicht. Das ist Meerwasser.“
Tiffany streckte mir die Zunge raus und trocknete sich das Gesicht mit ihrem T-Shirt ab.
„Kann es sein, dass dein Schuh die Nase voll hatte vom Auf-der-Straße-laufen? Vielleicht wollte er einfach mal schwimmen gehen?!“
„Du bist voll albern.“
Ich runzelte verwirrt die Stirn.
„Ich dachte, darauf stehen Fünfjährige.“
„Aber ich nicht. Ich bin keine normale Fünfjährige.“, widersprach sie und es klang kein bisschen angeberisch. Ebenso wie ich wusste sie, dass sie Recht hatte. Tiffany war ganz und gar nicht ein normales fünfjähriges Mädchen.
„Vielleicht ist er vorhin aus dem Boot gefallen, als wir das Zeug rausgeräumt haben. Lass uns am Ufer entlang rudern. Könnte ja sein, dass wir deine Schlappe irgendwo im Schilf entdecken.“
Diesmal meinte ich es ernst. Tiffany zuckte mit den Schultern. Ich verstand das als Zustimmung und packte das Essen und die Decke zurück in die Kiste. Zuletzt hängte ich meine Oberteile ab und warf sie in den Kutter. Das Mädchen hatte schon auf der Bank Platz genommen. Mit meiner ganzen Kraft schob ich das Boot zurück ins Meer, stieß mich ab und sprang hinterher. Ich nahm die Ruder auf und bugsierte uns nah am Ufer entlang durch die hohen Gräser.
„Orange müsste man eigentlich recht gut erkennen.“
Vergeblich, wie sich herausstellen sollte. Wir suchten die möglichen Stellen zweimal ab und fanden nichts. Wir schreckten nur eine dicke, braune Kuh auf, die uns höllisch erschreckte.
„Die hat bestimmt meinen Schuh gefressen.“
Tiffany sah frustriert dem Tier hinterher, wie es hektisch durchs Gebüsch trabte.
„Sorry. Jetzt weiß ich auch nicht, was wir noch machen könnten. Scheint so, als würden wir deine Schlappe nicht mehr finden.“
Tiffany nickte niedergeschlagen.
„Ich kann dir einen Flip-Flop von mir ausleihen. Das fällt deiner Mama bestimmt nicht auf. Gelb und orange ist ja nicht so ein großer Unterschied, oder?!“
Ich wollte sie unbedingt wieder aufmuntern.
Und zu meiner Freude lachte sie tatsächlich belustigt.
„Ist der mir nicht zu groß?“
„Ach was! Die paar Zentimeter. Was hast du für eine Größe? 33? Na also, zehn Nummern. Passt doch wie angegossen! Aber mal im Ernst: In Loftahamn läuft jeder barfuß rum. Da siehst du mit deinen Schlappen wie eine Außerirdische aus.“
Tiffany bückte sich nach ihrem zweiten Schuh und schleuderte ihn wie eine Frisbee ins Wasser.
„Mann über Bord!“, brüllte ich und sprang mit einem Kopfsprung hinterher.

Fortsetzung folgt...
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Diese Geschichte gefällt mir ausgesprochen gut, @Luis Vänster: Ein kleines Mädchen, dass einem viel älteren Jungen haushoch überlegen ist, eine kleine, intellektuelle Pippilotta, vielleicht auch eine Nerdin, man weiß es noch nicht. Freue mich schon auf die Fortsetzung! ;)
Ach ja: Einige Kommata fehlen, doch was macht das schon.
 

John Wein

Mitglied
Hallo Luis Vänster,

das ist eine amüsante Geschichte. Bei Linköping denke ich automatisch an den 'Hundertjährigen'.
Bin gespannt, wie Willian sich aus der Affäre zieht.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

ahorn

Mitglied
Hallo Luis Vänster,
deine Geschichte könnte interessant werden. Bin mal gespannt.
Spendiere ihr, wenn es geht, ein paar Absätze. Strukturiere.
Dafür schmeiß ich dir ein paar Tippteufel zu. ;)

Ob man zuhause oder zu Hause schreibt, ist wohl eher Geschmackssache. (Nach Duden Empfehlung zu Hause.)
„Willian! Ich habe dir gesagt, du sollst hierbleiben …“ Die Betonung liegt eher auf hier als auf bleiben. Ob die Verkürzung hab hier angebracht ist, bezweifle ich. Da der Frust bereits durch das 'Willian!' kenntlich gemacht wird.
Sie war jedes Mal überrascht, wie wir zwei miteinander auskamen KOMMA und zwar aus dem einfachen Grund, weil meine Mom und ich es nicht hinbekamen. Zwar
Kurz darauf hörte ich KOMMA wie er mit dem Auto über den Kiesplatz davonfuhr.
Er war dort Professor und unterrichtete skandinavische Literatur und Geschichte. Zum Heulen langweilig, meiner Meinung nach.
„Ich hätte dir Hausarrest gegeben.“, blieb meine Mutter standhaft und vermied es KOMMA mich über ihre Tasse hinweg anzuschauen.
Der Lkw war weg, aber der schwarze Passat parkte vor dem Gartenzaun. nicht Last Kraft Wagen
Und Neben dem Tor saß ein Mädchen auf dem Asphalt und malte mit Kreide. Ohne mit kann ich mir das irgendwie nicht vorstellen. ;)
Sie nickte KOMMA als wäre ihre Zeichnung das Natürlichste der Welt. Was es sicher nicht war.
„Aha“, war das Einzige, was ich herausbrachte.
Du besorgst mir eine Freundin und machst mir nächstes Schuljahr meine Mathehausaufgaben nächstes Schuljahr.
„Dreitausend dreihundertfünfundsiebzig Richtig?“, sagte sie KOMMA ohne einmal überlegt zu haben. Ich hustete ablenkend.
Ich ging in die Knie und neigte den Kopf KOMMA um ihr ins Gesicht sehen zu können.
Ich brauchte immer einige Zeit KOMMA bis mir etwas einfiel.

Bin nach dem Ersten überfliegen gespannt, wie es weitergeht.
Ich frage mich nur immer, wie es Leser schaffen ein unfertiges, unvollständiges Werk zu bewerten. Hellseher? :rolleyes:

Gruß
Ahorn
 

Luis Vänster

Mitglied
Hallo ihr,

vielen Dank für euer Feedback! Da haben sich überall meine altbekannten Fehler und Angewohnheiten eingeschlichen. Ich sollte da wohl noch etwas besser darauf achten...
Und gegen Onividos Ungeduld: ich habe einen nächsten Abschnitt hinzugefügt.

LG Luis
 



 
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