Die Zaghaften

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Der Regionalexpress 7 fährt stündlich von Dessau über Berlin nach Zossen. Er ist oft verspätet, gelegentlich überfüllt. An diesem Nachmittag sind schon in Bad Belzig fast alle Plätze belegt, zum Teil nicht von Fahrgästen, sondern von deren Gepäck. Ungewöhnlich für einen Nahverkehrszug in der ostdeutschen Provinz: Das Publikum scheint aus vielen Ländern zu kommen, der Mittelmeerrand ist stark vertreten.

Abendschön findet einen freien Notsitz, sinkt dort nieder und freut sich still. Dann sieht er etwas, was ihn nicht wurmen müsste und es doch tut: Schräg gegenüber hat sich ein junger Reisender über fünf Sitze der Länge nach hingeflegelt und döst oder schläft. Sein Reisegepäck, in einer Discountertüte untergebracht, sowie seine Schuhe hat er unter einem der Sitze verstaut. Die Sitze sind in einer Reihe quer zur Fahrtrichtung angebracht, das Wagenfenster im Rücken, davor die Vorbeidefilierenden.

Von Bad Belzig bis Berlin fährt man eine Stunde. Es wird von Station zu Station voller, zunehmend müssen Leute stehen. Ein jeder nimmt den lang Hingestreckten kurz in Augenschein und scheint dann zu resignieren. Zwanzig Minuten vergehen, der Zug nähert sich den Potsdamer Vororten. Eine Dame in den Vierzigern steigt zu und rüttelt den jungen Mann, verlangt einen Platz für sich. Sie bekommt ihn sogleich ohne weiteres. Er zieht die Füße ein Stück zurück und kommt nun mit vier Plätzen aus.

Abendschön sagt spontan, ziemlich laut: Endlich, endlich hat eine Mumm … - Und dann beginnt eine lebhafte Diskussion: Hätte ich mich neben seine Käsemauken setzen sollen? – Und wenn er ein Messer gezogen und zugestochen hätte? – Zivilcourage, die fehlt hier … - Der Schaffner ist einfach vorbeigegangen, hat gar nichts getan. – Und da vorn steht einer vom Sicherheitsdienst, mit dem Rücken zu uns. – Er ist nicht im Dienst. – Dann muss er die Uniformjacke ausziehen. – Nein, muss er nicht. – Die Diskussion beeindruckt den jungen Mann nicht, er bleibt einfach liegen. In Potsdam Rehbrücke steigen einige aus, in Medienstadt Babelsberg viel mehr ein. Jetzt ist der Mittelgang richtig voll, neben dem Unbewegten steht eine Frau um die siebzig. Eine junge Frau schiebt sich mit einem Kleinkind auf dem Arm durch die Menge. Noch eine halbe Stunde bis in die Mitte von Berlin. Alles bleibt, wie es ist.

Abendschön steigt am Bahnhof Zoo aus. Das Gesicht des jungen Mannes hat er nicht deutlich gesehen, er hat ihn nicht sprechen hören. Es interessiert ihn nicht, woher der Rüpel kommt. Aber was ist mit den anderen, den Zaghaften, die stehen mussten? Werden sie ihn für einen von draußen halten, hier nur gestrandet, nicht hierher gehörend? Und es später andere büßen lassen, dass sie selbst nicht zur rechten Zeit das rechte Wort fanden? Sind das die Braven, bei fataler Gelegenheit klammheimlicher Freude fähig? Schlimmer Verdacht, hoffentlich unbegründet.
 
A

aligaga

Gast
Hier wird uns ein Ich-Protz vorgestellt, der zwar selber keinen Mumm hat, aber sofort eifrig aufs Trittbrett springt, wenn ein anderer mutig ins Horn stößt und den Gang einlegt.

Leider wird am Ende nicht recht klar, woher der Ich-Protz eigentlich die Chuzpe nimmt, sich selbst nicht auch als "Zaghaften" zu sehen. Denn er ist doch der gleiche Feigling wie alle, die es nach der mutigen Intervention eines anderen nur fertig bringen, über das "Subjekt" zu reden und empört zu tun, statt mit ihm zu sprechen.

Griechenland ist eben überall. Dort nennt man solche Typen Φαρισαίος.

Gruß

aligaga
 

sandelholz

Mitglied
Hallo A Abendschön,

gerne habe ich deinen Text gelesen,
(sage schon seit Jahren: Am meisten Angst habe ich mittlerweile vor der schweigenden Mehrheit!)
er spricht eines meiner ‚Nachdenkthemen‘ an.


Schön fände ich es wenn du deinen Text noch mehr auf den Kern reduzieren würdest.

Kleines Beispiele:
i]Ungewöhnlich für einen Nahverkehrszug in der ostdeutschen Provinz: Das Publikum scheint aus vielen Ländern zu kommen, der Mittelmeerrand ist stark vertreten.[/i]
Da wandern die Gedanken in eine andere Richtung (eher Konflikt Zuwanderung).


Auch das der Schaffner vorbeigegangen ist, kann ich als Vielfahrerin eher nicht bestätigen (obwohl ich leidenschaftlich gerne auf die DB schimpfe!)

Da eventuell eher das mal wieder keiner kam, regelmässig sind sie schon eher in den teuren Zügen.


Für die Prägnanz wäre auch weniger mehr, im sinne von weniger Füllwörter verwenden.




Soweit von mir,
es grüsst dich gerne,
San.
 
Danke, Sandelholz, für die sachliche Auseinandersetzung mit dem Text. Zu den Details:

1. Der Schaffner ging nur rasch durch, ohne sich um etwas zu kümmern. Er hat keine Fahrkarten kontrolliert, erschien nicht wieder. Auf vergleichbar langen Strecken in Brandenburg wird man sonst fast immer kontrolliert. Die Vermutung liegt nahe, da wollte sich einer Ärger ersparen. Deshalb sollte der eine Satz über den Schaffner im Text bleiben.

2. Es war ja ein kleines unfreiwilliges Massenexperiment: Warum nimmt von ca. drei Dutzend Personen nur eine ein selbstverständliches Recht in Anspruch? Mir kam das ziemlich duckmäuserisch vor. Ohne es abschließend beurteilen zu können, halte ich für möglich, dass es eben die vermutete Herkunft des jungen Mannes war, die manche im wörtlichen Sinne zurückstehen ließ. Auch so kann man ausgrenzen - und sich hinterher in seinen Ressentiments bestätigt fühlen. Der Aspekt ist mir so wichtig, dass ihn gleichfalls nicht weglassen möchte. Der letzte Satz des ersten Abschnitts bereitet also die letzten Sätze des Gesamttextes vor.

3. Ja, immer raus mit den unnötigen Füllwörtern. Allerdings finde ich nach letztem Ausfegen gestern Abend insoweit jetzt keinen Ansatz mehr. Wo sind noch welche?

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

FrankK

Mitglied
Hallo Arno

Füllwörter? Nur noch eine handvoll, unbedeutend.

Gute Beobachtungsgabe, interessanter Interpretationsansatz.
Der Mann vom Sicherheitsdienst - schon Feierabend.
Der Schaffner - kurz vor Dienstschluß.
Die "Anderen" - "warum sollte ich mich aufregen ... ich steh hier recht bequem".

Es geht um fehlende Courage, fehlende Sozialkompetenz.
Ich wette, wenn es "Stress" gegeben hätte, niemand wäre zu Hilfe geeilt.


Ich stell mir gerade vor - die "Dame in den Vierzigern" ist womöglich die Mutter des sich flegelnden Burschen.
Er hat ihr nur, auf unkonventionelle Weise, einen Platz im überfüllten Zug frei gehalten. ;)


Zum Thema Füllwörter:
Auf Schreiblabor gibt es eine "Füllwörter-Überprüfung". Mittels Java-Script wird (lokal auf dem eigenen Rechner) der in das Textfeld einkopierte Text auf Füllwörter überprüft.
Manchmal recht erhellendes Ergebnis.


Grüße aus Westfalen
Frank
 
Danke, Frank, für Interpretation und Tipps.

Ich bedaure, dass der Text die räumliche Situation nicht gut wiedergibt. Der Notsitz befindet sich eingeklemmt im schmalen Zwischenraum zweier Doppelsitzrückseiten = sonst nur Abstellmöglichkeit für Gepäck. Der Beobachter sitzt also eingeklemmt, im Visier fast nur die Köpfe der vor ihm Stehenden. Man kriegt so viel, aber nicht alles mit und kann selbst nicht direkt eingreifen.

Schönen Abendgruß
Arno
 

FrankK

Mitglied
Hallo Arno
Wieso bedauerst Du, die räumliche Situation nicht klarer darstellen zu können? Du lieferst in deinem Kommentar doch selber schon den allerbesten Ansatz:
Abendschön findet einen freien Notsitz, sinkt dort nieder und freut sich still.
kann man ganz leicht ergänzen:

"Abendschön findet einen freien Notsitz, [blue]eingeklemmt im schmalen Zwischenraum zweier Doppelsitzrückseiten[/blue] sinkt [blue]er[/blue] dort nieder und freut sich still."

Ist doch nicht gar so verkehrt, oder? ;)


Frage: Fahren auf der Strecke nicht überwiegend Doppelstockwagen?
Sind die Notsitze da nicht im Bereich der Treppenauf- und abgänge?
Ist für den Text aber nicht wirklich wichtig.


Grüße aus Westfalen
Frank
 
Der Regionalexpress 7 fährt stündlich von Dessau über Berlin nach Zossen. Er ist oft verspätet, gelegentlich überfüllt. An diesem Nachmittag sind schon in Bad Belzig fast alle Plätze belegt, zum Teil nicht von Fahrgästen, sondern von deren Gepäck. Ungewöhnlich für einen Nahverkehrszug in der ostdeutschen Provinz: Das Publikum scheint aus vielen Ländern zu kommen, der Mittelmeerrand ist stark vertreten.

Abendschön findet einen freien Notsitz, eingeklemmt im schmalen Zwischenraum zweier Doppelsitzrückseiten. Dort sinkt er nieder und freut sich still. Aus seinem Verschlag heraus sieht er etwas, was ihn nicht wurmen müsste und es doch tut: Schräg gegenüber hat sich ein junger Reisender über fünf Sitze der Länge nach hingeflegelt und döst oder schläft. Sein Reisegepäck, in einer Discountertüte untergebracht, sowie seine Schuhe hat er unter einem der Sitze verstaut. Die Sitze sind in einer Reihe quer zur Fahrtrichtung angebracht, das Wagenfenster im Rücken, davor die Vorbeidefilierenden.

Von Bad Belzig bis Berlin fährt man eine Stunde. Es wird von Station zu Station voller, zunehmend müssen Leute stehen. Ein jeder nimmt den lang Hingestreckten kurz in Augenschein und scheint dann zu resignieren. Zwanzig Minuten vergehen, der Zug nähert sich den Potsdamer Vororten. Eine Dame in den Vierzigern steigt zu und rüttelt den jungen Mann, verlangt einen Platz für sich. Sie bekommt ihn sogleich ohne weiteres. Er zieht die Füße ein Stück zurück und kommt nun mit vier Plätzen aus.

Abendschön sagt spontan, ziemlich laut: Endlich, endlich hat eine Mumm … - Und dann beginnt eine lebhafte Diskussion: Hätte ich mich neben seine Käsemauken setzen sollen? – Und wenn er ein Messer gezogen und zugestochen hätte? – Zivilcourage, die fehlt hier … - Der Schaffner ist einfach vorbeigegangen, hat gar nichts getan. – Und da vorn steht einer vom Sicherheitsdienst, mit dem Rücken zu uns. – Er ist nicht im Dienst. – Dann muss er die Uniformjacke ausziehen. – Nein, muss er nicht. – Die Diskussion beeindruckt den jungen Mann nicht, er bleibt einfach liegen. In Potsdam Rehbrücke steigen einige aus, in Medienstadt Babelsberg viel mehr ein. Jetzt ist der Mittelgang richtig voll, neben dem Unbewegten steht eine Frau um die siebzig. Eine junge Frau schiebt sich mit einem Kleinkind auf dem Arm durch die Menge. Noch eine halbe Stunde bis in die Mitte von Berlin. Alles bleibt, wie es ist.

Abendschön steigt am Bahnhof Zoo aus. Das Gesicht des jungen Mannes hat er nicht deutlich gesehen, er hat ihn nicht sprechen hören. Es interessiert ihn nicht, woher der Rüpel kommt. Aber was ist mit den anderen, den Zaghaften, die stehen mussten? Werden sie ihn für einen von draußen halten, hier nur gestrandet, nicht hierher gehörend? Und es später andere büßen lassen, dass sie selbst nicht zur rechten Zeit das rechte Wort fanden? Sind das die Braven, bei fataler Gelegenheit klammheimlicher Freude fähig? Schlimmer Verdacht, hoffentlich unbegründet.
 
Danke, Frank, für den Vorschlag zur Konkretisierung. Ich habe ihn sogleich übernommen.

Nein, Doppelstockwagen fahren auf dem RE 7 seit ca. 2 - 3 Jahren nicht mehr. Der jetzige einstöckige Zugtyp heißt, glaube ich, Talent 2. Die Bestuhlung kann nach den Wünschen des Bestellers variieren. Tatsächlich habe ich derart seltsame Sitzplätze bis dahin noch nirgendwo gesehen. Man sitzt wie in einem Alkoven, nur hochkant. Daher vielleicht auch die Reizbarkeit des Reisenden.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
K

Karn Hardt

Gast
Super Plot, Arno, ich bin schwer begeistert!

Paar Ideen folgen noch, aber nicht mehr heute, ups, morgen. Ist ja schon nach Mitternacht ...

Gähnende Grüße und eine satte "9" von mir.
 
Danke, Karn Hardt, für die für mich so erfreuliche Reaktion, vorab auch schon für evtl. noch kommende Hinweise en detail.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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