Die Zeit des Geistes

Kapitel 1

Ich spürte es ganz deutlich. Der Point of no return war gekommen. Mein Geist verließ meinen Körper. Ich war tot. So recht glauben wollte ich es nie, dass es so etwas wie ein Leben nach dem Tod geben würde. Aber mein Geist hatte ein eigenes Bewusstsein. Doch was nützte es mir? Ich war trotzdem tot.

„Es ist vorbei“, sagte die Krankenschwester. „Er hat keinen Puls mehr. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen.“
Es waren nur wenige Minuten vergangen.
Der Chefarzt hatte gesagt, dass die Chancen auf ein Überleben sehr gering seien. „Die Verletzungen sind einfach zu schwer.“
Meine innere Stimme sagte mir, dass ich vermutlich sterben werde.
„Er ist gerade 75 geworden. Das ist doch heute kein Alter. Auf mich wirkt er so rein äußerlich noch recht vital“, sagte die Krankenschwester. „Aber so ein Unfall macht alles kaputt.“
„Es sieht nicht gut aus“, diagnostizierte der Arzt. „Die Werte sind ziemlich schlecht.“
Ich lag im Koma, war mit allen möglichen Maschinen verbunden. Aber die Diagnose hatte wenig Hoffnung gemacht.
„Was können Sie noch für ihn tun, Doktor?“, fragte mein Sohn. Er hatte den Unfall wie durch ein Wunder beinahe unverletzt überstanden. Den Ablauf des Unfallhergangs hatte er der Polizei sehr genau schildern können.
„Nur auf der Intensivstation hat er vielleicht eine Chance zu überleben“, hatte der Chefarzt meinem Sohn gesagt. „Zu den schweren inneren Verletzungen kommt auch noch ein Schädel-Hirn-Trauma.“
Auf dem Weg zum Krankenhaus war ich wohl kurz aufgewacht, doch dann versagte mein Kreislauf. Mein Kopf fühlte sich an, als sei er gar nicht da. Und die stark eingeknickte Autotür hatte sich in meinen Körper gebohrt.
Die Sanitäter hatten mich aus dem zerstörten Auto geholt. Ich war bewusstlos gewesen und hatte sehr viel Blut verloren.
Mein geliebter 69er Ford Escort war nur noch Schrott. Ich hatte ihn zu meinem 18. Geburtstag bekommen.
Das waren meine letzten Gedanken, bevor ich das Bewusstsein verlor. „Mir ist so kalt“, hatte ich zu meinem Sohn gesagt, als er nach dem Zusammenstoß wieder klar denken konnte, mich angesprochen hatte, um zu sehen, ob ich noch lebte.
Es ging alles so furchtbar schnell. Nur wenige Sekunden, die über Glück oder Unglück, über Leben oder Tod entschieden. Wir hatten kein Glück.
Wäre ich ein wenig schneller gefahren, wären wir dem Zusammenstoß entgangen.
Wäre ich doch bloß ein klein wenig schneller gefahren. Aber in meinem Alter wird die Fahrweise halt ein bisschen gemütlicher. Noch wenige Augenblicke vorher hatte ich mit meinem Sohn darüber gesprochen.


Kapitel 2

Stille. Endlich Stille. Doch nach den Sekunden des Schreckens war sie fast beängstigend.
Ich konnte mich nicht bewegen, war eingeklemmt, spürte, wie mein Blut aus den Wunden quoll. Doch klar denken konnte ich nicht.
Schwindelgefühl überkam mich, nachdem mein Kopf zuerst gegen die Seitenscheibe und dann gegen das Lenkrad geschleudert worden war.
Die Fahrertür bohrte sich gegen meinen Körper, verletzte mich schwer, als dieser hässliche Blechpanzer, irgend so ein dicker SUV, in die Seite meines Autos prallte. Das fremde Gefährt war durch den Zusammenprall mit einem anderen Auto aus seiner Spur geraten. Dieses andere Fahrzeug, ein Porsche, war aus der Seitenstraße rechts von ihm gekommen und hatte ihm die Vorfahrt genommen.
Es ging blitzschnell. Nur wenige Sekunden. Da ich mich auf der Vorfahrtstraße befand, rechnete ich nicht mit diesem Szenario.
Wir fuhren außerorts auf einer Landstraße. Daher hatte ich den schwarzen SUV, der uns entgegenkam, frühzeitig erblickt. Und auf der Seitenstraße war ein Porsche sehr schnell näher gekommen.
„Der ist ganz schön flott unterwegs“, meinte mein Sohn, als er den Porsche erblickte.
„Wenn ich niemanden störe, fahre ich gerne etwas langsamer. Schließlich heißt es auf den Schildern nicht Mindestgeschwindigkeit, sondern sie zeigen die zulässige Höchstgeschwindigkeit an“, sagte ich.
„Du fährst gerade einmal 80, obwohl 100 erlaubt sind, Papa.“
Ich fuhr gerne Auto. Aber ich musste deshalb nicht so schnell wie möglich von A nach B kommen.
Um elf Uhr waren wir losgefahren. Mein Sohn hatte seinen Wagen in die Werkstatt gebracht und mich gebeten, ihn anschließend wieder nach Hause zu fahren.


Kapitel 3

Vor fünf Tagen hatten wir meinen 75. Geburtstag gefeiert. Es war ein wunderschöner Sommertag Ende August.
„Das war eine wunderbare Feier, Papa“, hatte mein Sohn am Schluss gesagt. „Wir sind alle sehr froh, dass es dir wieder gut geht, dass du deine Lebensfreude zurück hast.“
„Es hat mich sehr gefreut, dass alle da gewesen sind“, meinte ich, als die Gäste – alle bis auf meinen Sohn – gegangen waren.
Meine Schwester hatte sich verabschiedet. „Bleib uns noch lange erhalten“, sagte sie. Dabei grinste sie mich an und ebenso meinen Sohn, bevor sie das Haus verließ.
Es gehörte für meine Schwester zum guten Ton, stets bis zum Schluss zu bleiben. So auch dieses Mal. Heute war sie ja mal richtig zahm, dachte ich, als sie Anstalten machte, das Feld zu räumen.
Ich hatte das Gefühl, meine Schwester hatte in den vergangenen sechs Monaten mehr um mein Wohlwollen gebuhlt. Denn bis dahin war sie – beinahe die letzte dreißig Jahre – doch eher distanziert. Im Besonderen meiner Frau gegenüber.

Sie wurde nur 54 Jahre alt.
Das war der furchtbarste Tag in meinem Leben, als meine Frau, Mutter meines einzigen Sohnes, im Februar an ihrem Krebsleiden verstarb.


Kapitel 4

Als ich erwachte, hatte ich das Gefühl, einen ganzen Tag geschlafen zu haben.
Ich beschloss, meine Schwester zu besuchen. Sicher würde sie nicht damit rechnen, dachte ich. Außerdem tat mir ein solcher Spaziergang sicherlich gut.
Als ich das Haus erreichte, wunderte ich mich, dass der Wagen meines Sohnes in der Einfahrt stand. Ich drückte auf die Klingel – doch sie bot keinen Widerstand! Dann klopfte ich gegen die Tür. Ich erschrak, denn meine Faust drang in das Holz ein, als sei es aus Butter.
Ich war schockiert. Vorsichtig legte ich meine Hand an die Tür, übte dann Druck aus. Doch Kraft musste ich nicht aufwenden, um erneut in das Holz einzudringen, als sei es gar nicht existent. Panik ergriff mich. Im nächsten Augenblick trat ich entschlossen auf die Tür zu – und fand mich unversehens im Flur des Hauses wieder. Dann hörte ich Stimmen.

„Du bist so herzlos“, klagte mein Sohn.
„Ja, es ist tragisch, dass sie Krebs hat, dass sie vermutlich bald sterben wird. Aber ich habe es meinem Bruder trotzdem krumm genommen, dass er meine beste Freundin damals abgelehnt hat“, lamentierte meine Schwester.
„Mein Gott! Das ist dreißig Jahre her!“
„Sie ist zwanzig Jahre jünger und stirbt trotzdem vor ihm.“
„Verdammt! Aber sie ist immer noch meine Mutter! Ohne sie gäbe es mich gar nicht! Merkst du eigentlich, was du für einen Unfug redest? Selbst jetzt, wo sie mit dem Tode ringt, lässt du kein gutes Haar an ihr. Du solltest dich schämen!“
„Bis Weihnachten wird sie schon noch durchhalten.“
Wutschnaubend verließ mein Sohn das Haus. Er rannte an mir vorbei, als sei ich gar nicht da.

Ich war entsetzt. Dieses Gespräch müssen die beiden doch vergangenes Jahr geführt haben. Auf jeden Fall vor Weihnachten. Aber … meine Frau starb im Februar! Das ist doch sechs Monate her, dachte ich.
Die Situation verwirrte mich. Warum hatte mein Sohn mich beim Hinausgehen nicht wahrgenommen? Ich stellte mir so viele Fragen, doch ich fand keine Antworten.
Und ich wurde schon wieder müde, fühlte mich schwer wie Blei. Ich schloss die Augen und schlief einfach ein.

Als ich erwachte, stand ich am Ufer eines Sees. Wie war ich dort hingekommen?
Es war ein sonniger Tag, so um die Mittagszeit, schätzte ich. Als ich hinaus auf den See blickte, erkannte ich eine Frau, die in Richtung Ufer schwamm. Sie kam immer näher. Dann erkannte ich das Gesicht. Das war meine Frau!
Schließlich erreichte sie das Ufer. Doch sie ging einfach an mir vorbei. Warum?
Ich schaute ihr nach. Plötzlich kam aus den Büschen ein maskierter Mann hervor. Oh, mein Gott! Er will ihr etwas antun, dachte ich. Ich ging ihm entgegen, versuchte, ihn zu fassen zu bekommen, doch ich griff ins Leere.
Sie floh in Richtung Wasser. Als dieses ihre Füße umspülte, blieb sie stehen.
Der Mann kam näher, streckte seine Arme vor, um sie zu ergreifen. Doch sie reagierte blitzschnell, machte einen Schritt zur Seite und trat ihm in den Unterleib. Er brach ächzend zusammen, blieb reglos liegen. Mit dem Kopf im Wasser.
Meine Frau lief schreiend davon. Wieder nahm sie mich gar nicht wahr.
Ich schaute nach dem fremden Mann. Er rührte sich nicht. Na, von einem Tritt in die Weichteile wird er nicht ohnmächtig werden oder gar sterben.
Mein Zeitgefühl schien mir völlig abhanden gekommen zu sein. Der Mann lag noch immer regungslos mit dem Kopf im Wasser. Es wurde bereits dunkel. Daher vermutete ich, dass er ertrunken war.
Und dann kamen plötzlich meine Erinnerungen zurück. Zurück an diesen Tag. Meine Frau hatte mir davon erzählt. Der Mann war tatsächlich ertrunken. Das stand am nächsten Tag in der Zeitung. Aber … das war sechs Jahre her!

Auch in der Folgezeit schlief ich ein, erwachte wieder. Und ich erlebte weitere Dinge, die in der Vergangenheit lagen. Immer weiter zurück in der Vergangenheit.


Kapitel 5

Schließlich konnte ich den Augenblick meiner Geburt beobachten. Ich weiß nicht, wer oder was mich an diesen Ort geleitet hatte. Ich stand im Kreißsaal nur zwei Meter neben meiner Mutter, doch niemand nahm mich wahr.

Nun wurde mir endlich klar, dass ich tot war. Mein ganzes Leben habe ich in wenigen Tagen – oder waren es nur Augenblicke? ‒ noch einmal erlebt. Warum dies allerdings rückwärts geschehen war, blieb mir unerklärlich.
Ich fragte mich, ob das jetzt endlos so weitergehen würde. Wo sollte das hinführen?
Wieder wurde ich müde, mein Geist wurde müde. Er hatte mir viele Ausschnitte aus meinem Leben vor Augen geführt. Obwohl … Nein, es waren ja gar nicht meine Erlebnisse. Es waren stets Szenen, von denen ich durch die Erzählungen meiner Liebsten, meiner Frau, meinem Sohn, und zum Schluss von meiner Mutter erfahren hatte.
Und dann war da noch dieser Unfall. Eine Verkettung unglücklicher Geschehnisse. Szene für Szene führte mein Geist, nachdem er meinen toten Körper verlassen hatte, mir rückwärts vor Augen. Als wolle er mich ins Leben zurückholen. Als wolle er den Versuch unternehmen, den Ablauf durch eine Veränderung in den Aktionen zum Guten zu wenden. Als wolle er die Zeit zurückdrehen und erneut ablaufen lassen, anders laufen lassen.
Ja, wäre ich bloß ein klein wenig schneller gefahren, dann wären wir dem Zusammenstoß entgangen.
 

petrasmiles

Mitglied
Schon gruselig, aber irgendwie auch nachvollziehbar - so stellt man sich das vor und findet es hier dramaturgisch und sprachlich gut umgesetzt.

Ja, wäre ich bloß ein klein wenig schneller gefahren, dann wären wir dem Zusammenstoß entgangen.
Das kann ich übrigens aus eigener Erfahrung bestätigen: Vor Jahren gab es eine sich abzeichnende Karambolage - und mein Mann hat Gas gegeben und so entgingen wir dem Crash. Nie im Leben hätte ich Gas gegeben, sondern gebremst. (Seither ist mein Mann in meinen Augen kurz vorm Über-Wasser-Gehen-Können.)

Gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Petra,

freut mich, dass Dir die Geschichte gefällt.

Das war im Grunde der Versuch, eine Geschichte rückwärts zu erzählen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich immer die richtige Zeit gewählt habe.
Desweiteren hatte ich die Idee, die Geschichte aus der Sicht des Geistes weiterzuführen. Und zwar beobachtet er das Leben um ihn herum, wie es verlaufen wäre, wenn er nicht darin existiert hätte. Alternativ könnte die Geschichte auch sein Leben neu zeichnen und - mit dem Wissen des Geistes - in ganz anderen Bahnen verlaufen lassen. Aber das ist mir momentan zu komplex. Da fehlen mir die Ideen.

Liebe Grüße,
 

John Wein

Mitglied
Ein interessanter, origineller Versuch, das Leben aus dieser Totenreich Perspektive rückwirkend zu betrachten und zu beurteilen.
Übersichtlich gegliedert und sprachlich angenehm zu lesen. Auf orthographische Fehler achte ich grundsätzlich nicht.
Ich hab es angeregt und grrn gelesen!
LG, John
 



 
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