Die Zeitsparkasse

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marcm200

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Die Zeitsparkasse
(basierend auf Michael Endes Idee aus "Momo" von 1973)​


Am frühen Montagmorgen hüpfte Sandra freudestrahlend die Treppe aus dem ersten Stock hinunter und lief in die Küche.

„Herzlichen Glückwunsch zum 16. Geburtstag!“, sagte Frau Mangold und gab ihrer Tochter einen dicken Kuss auf die Stirn.

Sandra lächelte. Auf diesen Tag hatte sie mit in der letzten Woche rasant steigender Vorfreude richtiggehend hingefiebert.

Endlich hatte sie die Halbzeitigkeit erreicht!

„Hier, Liebes!“, fuhr ihre Mutter fort und reichte Sandra eine unscheinbare, schwarze Plastikkarte.

Sandra nahm das Geschenk begeistert, aber vorsichtig in die Hand. Fast ehrfürchtig schaute sie auf die neue Karte für ihr Konto bei der örtlichen Zeitsparkasse. Ihr Blick suchte und fand am unteren Rand sofort das kleine Symbol einer Uhr.

„Deine alte Karte ist nun ungültig. Du musst sie in der Bank zurückgeben. Die schwarze hier kannst du aber sowohl für Zeit als auch für Bargeld nutzen.“

Sandra nickte langsam, ohne den Blick von dem Symbol zu lösen, das den Unterschied in so vielen Dingen bedeutete. „Ich weiß, Mama. Das haben wir alles in Paragraphenkunde durchgenommen.“

Sie holte ihre Geldbörse aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und steckte die Karte in das oberste Fach, wo sie jedem gut sichtbar verdeutlichte, dass Sandra aus der Enge des linearen Zeitablaufs ausgetreten war. Sie durfte ihre Zeit selbst managen. Zumindest in begrenztem Rahmen und auf Debitbasis.

Sandra umarmte ihre Mutter und wollte schon in den Flur gehen, um ihren Rucksack zu holen und sich auf den Weg in die Schule zu machen, als Frau Mangold ihre Tochter mit sanftem Zug am Arm zurückhielt.

„Dein Vater und ich haben noch eine kleine Überraschung“, sagte sie und holte zwei dünne, hellrote Kästchen, die etwa so groß wie eine Hand waren, aus einer Schublade hervor.

„Ist das...“, fragte Sandra und riss vor Aufregung weit die Augen auf.

Ihre Mutter nickte lächelnd. Sie freute sich offensichtlich über die Begeisterung ihrer Tochter. „Ja. Das sind zwei 10‑Minuten-Zeitnoten. Außerdem...“

Sie machte eine kleine Pause, um die Spannung zu erhöhen. „Außerdem weist dein Konto bereits ein Guthaben von fünf Stunden auf. Wir haben vor Längerem einen entsprechenden Antrag beim Ministerium gestellt. Er wurde genehmigt. Diese fünf Stunden und 20 Minuten gelten rechtlich als Eigenzeit.“

Sandra sprang ihrer Mutter förmlich um den Hals. „Danke! Das ist klasse! Ich muss es gleich Jeanette erzählen!“

***

Mit quietschenden Bremsen bog Sandra in den unteren Pausenhof des Heidegger-Gymnasiums ein und breschte in Richtung Fahrradkeller. Am Rand der langen Reihe an Bodenringen fand sie noch einen freien Platz und kettete ihr blaumetallisch glänzendes Rennrad an. Rasch lief sie die paar Stufen hinauf zum Haupteingang, wo ihre beste Freundin Jeanette bereits wartete.

„Ich habe sie!“, rief Sandra schon von weitem und schwenkte ihre neue Plastikkarte wie eine Trophäe über dem Kopf.

Die beiden Freundinnen hatten am Morgen schon telefoniert, so dass die Begrüßung kurz ausfiel.

Auch Jeanette, die ein paar Monate älter war, hatte ihre Zeitkarte herausgeholt. Bis auf die Kontonummer war sie von Sandras nicht zu unterscheiden, denn das Design für Erstkarten hatte sich seit Jahren nicht verändert.

„Ist schon was drauf?“, fragte Jeanette neugierig und blickte ihre Freundin an.

Sandra nickte und grinste. „Fünf Stunden! Das musst du dir mal vorstellen! Fünf ganze Stunden! Und außerdem habe ich noch zwanzig Minuten direkt als Noten bekommen.“

Jeanette freute sich. „Klasse! Dann können wir nachher zusammen unsere große Pause verdoppeln.“

Die beiden Mädchen drehten sich um und liefen in die Aula, wo sie sich, wie an jedem Morgen, in die Schlange zur Diskrepanzmessung anstellten. Zügig ging es Schritt für Schritt voran. Sehnsüchtig schaute Sandra auf die gelegentlich vorbeihuschenden älteren Schüler, da diese die Messung nicht durchführen lassen mussten.

Vollzeitigkeit hat immense Vorteile, dachte Sandra neidisch und vergaß, weiterzugehen.

Jeanette gab ihrer Freundin einen leichten Stoß in den Rücken. „Du bist dran.“

„Hallo, Herr Wegner“, grüßte Sandra den beliebten Kunst- und Geschichtslehrer, der an diesem Morgen die Aufsicht am Detektor führte.

Der ältere Mann, dessen Haar schon ein wenig ergraut war, lächelte. „Hallo, Sandra. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! 16 Jahre, ein großes Datum für dich.“

„Danke, Herr Wegner“, erwiderte Sandra und trat zwischen die Messsäulen. Die Lampe, die das Ergebnis der Überprüfung anzeigte, leuchtete im Wechsel zwischen Grün und Blau.

„Alles okay. Aber du weißt“, erklärte der Lehrer, „ich bin von Gesetzes wegen dazu verpflichtet, dich nochmals aufzuklären. Daher das Blau der Lampe.“

Sandra nickte. Sie wusste, was ihr Lehrer nun sagen würde, konnte es selbst fast wörtlich wiedergeben. Die zehn Stunden Halbzeitigkeitsunterricht, welche eine der Mütter in der Nachbarschaft ehrenamtlich für ein paar fast 16‑jährige Mädchen und Jungen abgehalten hatte, waren eine gute Vorbereitung auf diesen Schritt in ihrem Leben gewesen.

„Ab heute darf sich dein biologisches Alter von deinem linearen Alter unterscheiden. Diese Differenz muss exakt dem Saldo deines Zeitkontos entsprechen. Mit anderen Worten: Du kannst gelegentlich Zeit auf der Sparkasse parken und sie später, wenn du sie brauchst, wieder nutzen. Aber ich weise dich explizit darauf hin: Sollte die Diskrepanzmessung einmal ein Fehlverhalten deinerseits zeigen - wenn du also fremde Zeit verwendet hast -, muss die Schule unverzüglich das Jugendamt einschalten.“

Jeanette grinste spitzbübisch. „Herr Wegner, das wird bestimmt nicht nötig sein. Ein braveres Mädchen als unsere Sandra gibt es in der ganzen Schule nicht.“

Sandra lächelte schief. Als Kompliment fasste sie das nicht auf, obwohl sie wusste, dass ihre Freundin es nicht böse gemeint hatte.

Doch bevor sie etwas Schlagfertiges erwidern konnte, läutete der Gong. In fünf Minuten würde der Unterricht beginnen. Rasch trat Jeanette in den Detektor. Die Lampe leuchtete grün.

„Dann lauft mal, ihr beiden“, sagte Wegner. „Nicht, dass ihr noch zu spät in die Klasse kommt.“

***

Als es zur ersten großen Pause läutete, stieß Jeanette einen langen Seufzer aus.

„Komm!“, forderte sie Sandra auf, „lass uns rasch jeder zehn Minuten aktivieren. Je länger es dauert, bevor der Philosophie-Unterricht mit diesen dämlichen drei Hausaufgabenfragen kommt, desto besser.“

„Ich dachte, wir hatten nichts auf“, wunderte sich Sandra, als sie die Schulbücher in ihre Tasche stopfte und aufstand.

„Doch“, erwiderte Jeanette gelangweilt und kramte das Heft für das nächste Fach heraus, um es Sandra zu zeigen. „Hier.“

Sandra schaute verärgert. „Verdammt! Das habe ich glatt verschwitzt. - Darf ich abschreiben?“

Jeanette nickte. „Klar. Aber formuliere es etwas um.“

Sandra nahm das Heft und wirkte ein wenig verlegen.

„Na, lauf schon. Aktiviere deine zehn Minuten. Ich spare sie mir jetzt lieber, wenn du in der Pause beschäftigt bist. Wir treffen uns unten an den Tischen.“

Sandra rannte aus dem Klassenzimmer und umkurvte auf den Fluren immer wieder einige Schüler. Sie sprang eilig die Treppen aus dem zweiten Stock hinunter und lief vor das Lehrerzimmer.

Puh, dachte sie erleichtert. Eine Aktivierungskabine ist frei.

Sandra schob eine 10‑Minuten-Note in den Eingabeschlitz der Kabine, die aussah wie eine dieser uralten Telefonzellen, nur dass es keine Glaseinsätze gab. Lautlos rollten die beiden Türhälften in die Seitenwände ein.

Sandra trat ein. Der Miniraum hatte gerade einmal eine Grundfläche von einem Quadratmeter. Eine weiße Deckenplatte spendete Licht, als die Türen wieder zuglitten. Auf dem kleinen Display in Kopfhöhe prangte die Meldung ‚Fingerabdruckidentifizierung‘. Sandra presste ihren linken Daumen darauf und wartete.

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann leuchtete das Display in sattem Grün. „Aktivierung erfolgreich. Zwanzig subjektive Minuten Zeit starten... jetzt.“

Schon öffnete sich die Tür wieder. Die ganze Prozedur hatte weniger als eine Minute Schulzeit benötigt. Es blieben Sandra also sogar noch mehr als zehn externe Minuten zum Abschreiben.

Das Mädchen trat aus der Kabine und wäre fast mit einem Schüler zusammengeprallt, der vor der Kammer wartete. Entschuldigend lächelte sie ihn an, wich mit einem Sidestep aus und rannte nach draußen auf den Pausenhof.

Eine der blauen Metalldrahttische war noch frei. Sandra ließ sich, mit dem Rücken zum Gebüsch, auf der Sitzbank davor nieder, klappte in rasender Eile Jeanettes Heft auf, und begann, die Hausaufgaben in ihr eigenes Heft zu kopieren. Wie versprochen änderte sie die Formulierungen ein wenig und ließ auch mal einen Gedanken weg, wenn die Argumentation der Freundin gar zu skurril anmutete.

Wenig später gesellte sich Jeanette gemütlich schlendernd zu ihr. „Hi, Speed-Girl“, grinste sie.

Sandra bemerkte, dass die Stimme ihrer Freundin ein wenig tiefer klang als gewohnt. Während sie weiterschrieb, erwiderte sie: „Sorry. Wir machen nachher doppelte Pause.“

Als sie hörte, wie Jeanette laut losprustete, drehte sich Sandra um. Sie wusste sofort, welchen klassischen Anfängerfehler sie gemacht hatte. „Ich klinge wie Micky Maus, nicht?“

Jeanette lachte und nickte angedeutet. „Bin ich halbwegs verständlich? Ich rede deutlich schneller als gewöhnlich. Manchmal verhaspele ich mich auch.“

„Geht schon.“

Sandra wandte den Kopf wieder ab und schrieb weiter.

Der Stift befand sich in der Normalzeit, in der sich auch Jeanette und der Großteil der Schule aufhielten. Aber Sandras subjektive Zeit lief exakt um den Faktor 2 schneller. Sie steuerte ihre Muskeln, extern betrachtet, doppelt so häufig an und ließ den Füller nur so über das Papier fliegen.

Endlich hatte sie den Text beendet und warf den Stift auf den Tisch.

Wie Jeanette auch schloss sie nun die Augen und genoss noch für ein paar Sekunden die warme Sommersonne. Ein paar Schüler gingen an den Freundinnen vorbei. Die meisten hörten sich für Sandra ziemlich dumpf, tief und langsam an. Auch die Schritte kamen ihr unnatürlich träge vor. Doch gelegentlich lief jemand vorbei, der für sie selbst normalschnell sprach und wohl auch eine Zeitnote aktiviert hatte. Vielleicht ebenfalls an den drei Kabinen vor dem Lehrerzimmer oder an einer der vielen Stellen in der Stadt.

Sandra gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Wird man von doppelter Geschwindigkeit eigentlich müde?“, fragte sie ihre Freundin, die diesbezüglich mehr praktische Erfahrung hatte. Sandra bemühte sich nun, extra langsam zu sprechen.

Wieder lachte Jeanette. „Nein. Also, zumindest ich nie. - Aber du kannst aufhören, schlafmützig zu reden. Deine Doppelminuten sind vorbei. Du bist wieder in meiner Zeit angekommen.“

***

Herr Wegner betrat das Klassenzimmer der 10c zur siebten und letzten Schulstunde. Zu Beginn des Geschichtsunterrichtes sprach er über die Epoche der Menschheit, als noch alle in einem sequenziellen Zeitablauf gelebt hatten. In den 70ern hatte dann aber eine kleine Gruppe genialer Wissenschaftler - basierend auf den Arbeiten des großen Physikers Hawking - den Durchbruch in der Raumzeit-Forschung erreicht.

Schließlich bat er Sandra nach vorne. „Die Aufmerksamkeit der Klasse gehört nun deinem Vortrag.“

Sandra rückte den Stuhl nach hinten, stand von ihrem Platz in der dritten Reihe auf und trat mit ein paar Karteikarten in der Hand zur Tafel. Sie räusperte sich mehrfach und drehte sich um: das Gesicht zu den Bänken, Herr Wegner links auf seinem Platz und die vollgeschriebene Schiefertafel im Rücken.

„Die große Zeitrechtsreform des Jahres 1987 brachte einige Neuerungen im Umgang der Menschen mit dem Thema Eigenzeit und...“

Sandra referierte etwa zehn Minuten und warf dabei gelegentlich einen raschen Blick auf die weißen Stichwortkärtchen.

Sie schloss ihren Vortrag mit den Worten: „Zusammenfassend lässt sich also sagen: Kinderpsychologen haben, um eine ungestörte körperliche und geistige Entwicklung zu gewährleisten, empfohlen, dass sich Heranwachsende bis zur Vollendung des sechzehnten Lebensjahres grundsätzlich in der linearen Zeit aufhalten sollen. Um dies zu gewährleisten, hat der Gesetzgeber die täglichen Diskrepanzmessungen zur Detektion von Raumzeitrückständen nach Zeitaktivierung für junge Menschen verpflichtend eingeführt. Diese Messungen können an Schulen erfolgen, im Kindergarten oder in der Stadtbücherei. Um jedoch den Übergang in die Vollzeitigkeit, also die Erlaubnis, eigene Zeit zu verkaufen oder fremde Zeit zu kaufen und zu nutzen, nicht zu abrupt ausfallen zu lassen, wurde der Status der Halbzeitigkeit eingeführt. Ich beispielsweise darf seit heute auf Guthabenbasis meine Eigenzeit einzahlen und sie abheben - und zwar in voller Souveränität. Nur die Zinsen, welche die Bank mir für meine Einlage gutschreibt, verbleiben bis zu meinem 18. Geburtstag auf dem Konto, denn es handelt sich dabei ja um Fremdzeit.“

„Aber natürlich darf niemand vor einer Klassenarbeit etwas aktivieren. Das überprüft die Schule schon sehr genau“, warf Herr Wegner ein.

Die Schüler grinsten. Auch Sandra hatte natürlich daran gedacht, wie es wohl wäre, mit doppeltem Zeitkontingent über den Aufgaben zu brüten.

„Stimmt“, fuhr sie fort. „Aber natürlich kann man Zeit fürs Lernen abheben und so ein größeres Pensum zuhause durcharbeiten. Wenn auch immer nur mit dem Zeitfaktor 2. Andere Werte sind per Gesetz verboten.“

Sie drehte die aktuell oberste Karteikarte um, las das Wort ‚Ende‘ und sagte: „Das war alles von meiner Seite aus.“

Der Lehrer nickte zufrieden. „Ein sehr schöner Vortrag, Sandra. Sachlich, prägnant.“

Sandra freute sich über das Lob, als sie sich wieder neben Jeanette setzte und auch noch den Applaus ihrer Mitschüler vernahm.

„So, Kinder“, sagte Wegner nach einem Blick auf die Uhr. „Zwei Minuten bleiben eigentlich noch. Da lohnt es sich jedoch nicht mehr, ein neues Thema anzufangen. - Also, ab nach Hause mit euch. Oder wo immer ihr jetzt auch hingeht.“

Die Schüler packten lautstark zusammen und verließen das Klassenzimmer.

Am Fahrradkeller angekommen fragte Sandra: „Du kommst um halb fünf zu unserem Filmmarathon?“

Jeanette nickte und winkte, als sie vom Schulhof fuhr.

Sandra schwang sich ebenfalls in den Sattel, schlug aber die entgegengesetzte Richtung ein. Sie flitzte durch die engen Gassen des Zentrumsviertels und stand nur wenige Minuten später vor dem Eingang der Hauptfiliale der Zeitsparkasse. Der Marktplatz, der während der Woche zum Parken verwendet wurde, war mit Autos zugestellt.

Im lichtdurchfluteten Vorraum der Bank mit seiner durchgehenden Glasfront stand ein Geldautomat, den Sandra mit ihrer alten Karte schon häufig genutzt hatte. Durch Geldgeschenke zu Feiertagen und dem, was sie mit ihren Nebenjobs in den letzten Jahren selbst verdient hatte, befand sich bereits eine vierstellige Summe auf ihrem Sparbuch.

Ab heute aber würde sie auch den fast identisch aussehenden Zeitnotenautomaten nutzen können.

Sandra schob ihre schwarze Karte in den Schlitz.

Auf dem Display erschien ein großes, blaues ‚Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!‘. Luftschlangen flogen über den Bildschirm. Nach ein paar Sekunden aber erschien das normale Menü. Sandra wälte die Auszahloption, und das Programm fragte nach der Stückelung der einen Stunde, die sie abheben wollte.

In dicken, schwarzen Lettern prangte am unteren Bildschirmrand: ‚Für Sie als Neukundin im Zeitkontobereich: Ein ganzes Jahr völlige Gebührenfreiheit bei der Kontoführung! Ein Service Ihrer örtlichen Zeitsparkasse.‘

Sandra überlegte kurz und entschied sich dann für die Komplettnote. Umtauschen konnte sie später immer noch, wenn auch nur hier in der Hauptstelle. Aber sie wollte einmal eine andere Note als die schon bekannten 10er in den Händen halten.

Die Karte kam wieder aus dem Drehschlitz zurückgefahren. Als Sandra sie herauszog, öffnete sich eine Klappe unter dem Display. Ein kleines Tablett fuhr heraus, auf dem ein hellblaues Kästchen lag, das in der Größe exakt den Zehnern glich, die sie von ihrer Mutter am Morgen erhalten hatte. Nur prangte eine große, schwarze 60 auf beiden Seiten.

Sandra steckte die Zeitnote ein und drehte sich um. Die Schiebetür glitt zischend auf.

***

Sie erschrak fürchterlich.

Drei maskierte Gestalten stürmten herein. Sie hielten Maschinenpistolen in den Händen.

Ein Banküberfall!, dachte Sandra.

Eine der Gestalten wies ihr mit dem Gewehrlauf die Richtung nach oben an. Sandra nickte heftig und lief die fünf Treppenstufen hinauf in die eigentliche Bankebene. Die Maskierten folgten ihr mit hartem, schnellem Schritt.

Als die obere Glasschiebetür sich hinter den vier wieder geschlossen hatte, warf ein Ganove eine Handgranate zu Boden.

Sandra riss die Hände hoch und presste sie auf die Ohren. Gleichzeitig schloss sie die Augen und erwartete eine Explosion.

Doch es passierte nichts.

In der Schalterhalle brüllte der Ganove: „Überfall! Alle kommen sofort hierher. Wen wir in einer Minute noch irgendwo anders antreffen, der wird die Konsequenzen tragen müssen.“

Für ein paar Sekunden herrschte gespenstische Stille. Dann aber löste sich die Erstarrung der Menschen. Die Kunden, die an den diversen Beratungstischen saßen, sprangen ebenso auf wie die Bankmitarbeiter. Alle rannten zu den Ganoven.

Nur die zwei Kassierer hinter den schusssicheren Glasscheiben rührten sich nicht.

Sandra sah, wie die Hand des einen Bankangestellten ganz langsam unter den Tresen glitt.

Will er den stillen Alarm betätigen?, fragte sich Sandra. Aber geht das nicht per Fußschalter?

Die Bewegung war gebremst, aber die Schülerin war sich sicher, auch die Verbrecher hatten die Aktion bemerkt. Doch es schien sie nicht zu kümmern.

Der Anführer wandte sich an einen der Bankmitarbeiter in der Schalterhalle. „Du holst uns sofort die beiden kürzlich angelieferten Zylinder mit der noch nicht portionierten Zeit. Und keine Ausflüchte. Wir wissen, dass jeder hier den Tresor aufschließen kann. Du hast drei Minuten. Dann wird die erste Geisel den Preis zahlen müssen.“

Will der damit etwa andeuten..., dachte Sandra. Ihr wurde auf einmal unglaublich kalt.

Die Gesichter der Kunden verloren völlig an Farbe. Auch der angesprochene Bankangestellte wurde fahl. Er nickte schnell, drehte sich um und rannte durch eine Tür, auf der ‚Privat‘ stand. Der Anführer der Räuber folgte ihm dichtauf.

Erst jetzt fiel Sandra auf, dass der Ganove unnatürlich gesprochen hatte. So, als müsste er seine Stimme bewusst verlangsamen.

Die sind auf doppelter Zeit, dachte sie. Und reagieren damit auch doppelt so schnell.

Die nächsten Minuten bewegte sich niemand in der Schalterhalle. Die beiden verbliebenen Gangster hielten alle mit hocherhobenen Schusswaffen in Schach. Sandra stand an der Kante eines Schreibtischs am Rande des Saales. Ihr Herz pochte rasend schnell. Trotz ihrer Angst versuchte sie, sich alles genau einzuprägen.

Plötzlich öffnete sich die Tür des kleinen Lastenaufzugs an der hinteren Wand, weit vom Eingang entfernt. Der Angestellte, der zum Tresorraum gerannt war, schob einen Rollwagen heraus, auf dem zwei Zylinder in Tauchflaschengröße standen. Ein dickes Uhrsymbol zierte sie.

Der Ganovenchef gab seinen Komplizen ein Zeichen. Diese nahmen jeder einen Zylinder und liefen zur Glastür. Dass diese sich nicht mehr automatisch öffnete, schien sie nicht zu beeindrucken. Einer hantierte mit irgendetwas an der Tür und trat dann einen Schritt zurück.

Wenige Sekunden später gab es einen lauten Knall. Alle, bis auf die Ganoven, welche das Getöse erwartet hatten, erschraken bis ins Mark.

Einen Moment später rief der Anführer „Blendgranate!“ und warf erneut einen Gegenstand zu Boden, der mitten im Raum ausrollte.

Blitzschnell schloss Sandra die Augen, drehte sich von der Granate weg und legte zusätzlich noch die Hände vor die Lider.

Die Schülerin wunderte sich, warum die Polizei nicht schon längst eingetroffen war. Im gleichen Moment erinnerte sie sich an die erste Bombe, die lautlose.

EMP!, dachte sie. Ihre Gedanken rasten. Die Ganoven haben eine EMP-Bombe gezündet. Klar, dann geht die Elektronik nicht mehr. Und wohl auch nicht der stille Alarm. Nur, warum ging dann der Tresor auf? Gibt es ein zweites System?

Es dauerte ein paar Minuten, bis die ersten Personen - unter ihnen Sandra -die Augen wieder öffnen konnten und mehr sahen als grelle Weiße. Die Angestellten hinter den Glasscheiben versuchten, auf allen Wegen die Polizei zu kontaktieren, doch es half nichts. Die gesamte Elektronik versagte immer noch.

Sandra, die ihren Schreck schnell überwunden hatte, lief beherzt durch die von Plastiksprengstoff zersplitterte Hallenglastür die kleine Treppe hinunter in den Bankvorraum.

Sie erwartete, auch die eigentliche Ausgangstür in Trümmern vorzufinden. Doch diese war intakt und öffnete sich auch bei Annäherung nicht.

Wie sind die Ganoven hier rausgekommen?, fragte sich die Schülerin. Haben sie den Schließmechanismus irgendwie überbrückt? - Naja, egal. Hilfe muss her.

Wild gestikulierend stand sie vor der Scheibe zum Trottoir, klopfte ab und an heftig an das Glas und konnte schließlich einen Passanten auf ihre Notlage aufmerksam machen, der sein Mobiltelefon zückte und die Polizei rief.

Wenige Minuten später traf diese ein und nahm die Ermittlungen auf.

Und auch Sandras Vater kam kurz darauf an der Bank an. Mit bleichem Gesicht schloss er seine Tochter in die Arme.

„Ist dir etwas passiert? Warum ist hier kein Arzt, der dich untersucht?“, fragte er mit sich überschlagender Stimme.

„Mir geht's gut, Papa“, beruhigte Sandra zum wiederholten Male.

Das ist eine Geschichte!, dachte sie aufgedreht. Die Angst während der kurzen Geiselnahme war vergessen. Meine Freunde werden Augen machen!

Endlich einmal war sie nicht einfach nur die brave Schülerin. Immerhin hatte sie, zumindest mittelbar, die Polizei verständigt und sich als einzige bei der Blendgranatenwarnung richtig verhalten.

Sandra fühlte sich als Heldin!

„Und Papa, weißt du, was das Beste an diesem Überfall ist?“

Herr Mangold schüttelte den Kopf, während er seine Tochter immer noch an sich drückte.

„Dass ich die zehn Minuten, oder wie lange der Überfall gedauert hat, ja in gewissem Sinne wiederbekomme, wenn die Ganoven gefasst werden. Und zwar doppelt. Über die Zeitrechtsreform habe ich gerade heute Morgen vor der Klasse gesprochen. Und darin gab es auch einen entsprechenden Schadensersatzparagraphen für Verbrechensopfer.“

***

„Hattest du Angst?“, fragte Jeanette, als sie am späten Nachmittag bei Mangolds eintraf.

„Nicht gerade wenig“, gab Sandra zu. Dann erzählte sie in allen Einzelheiten, wie der Raub abgelaufen war.

Jeanette war beeindruckt. „Klasse Reaktion von dir. Und du wirst jetzt bestimmt in die Zeitung kommen.“

„Nee, glaube ich nicht. Es wurden bis jetzt ja nur die Angestellten interviewt. - Aber, das ist jetzt auch egal. Wollen wir anfangen?“

Sandra sprang von der Wohnzimmercouch auf und schob die erste Videokassette in den Rekorder.

Die nächsten drei Stunden schauten die Mädchen die ersten beiden Filme einer Spionagetrilogie. Als das zweite Abenteuer nach einer gewaltigen Explosion der Ganovenfabrik schließlich beendet war, warf Jeanette einen raschen Blick auf die Uhr.

„Schade“, sagte sie bedauernd. „Den dritten Teil hätte ich gerne noch geschaut. Aber das schaffen wir nicht mehr, bis ich nach Hause muss.“

Sandra lächelte verschmitzt. „Doch! Hast du vergessen, dass ich Zeitguthaben besitze?“

„Stimmt. Aber willst du dafür rund eine Stunde verwenden?“`

Sandra nickte. „Warum nicht? Genau dafür ist es doch da. Einsparen, wenn man die Zeit nicht braucht, und abheben, wenn man, wie jetzt, mehr Freizeit will. Obwohl die Stunde ja genaugenommen nicht meine ist, sondern von meinen Eltern stammt. Aber das spielt ja keine Rolle. - Hast du eine 60er-Note bei dir?“

Jeanette beugte sich über die Seitenlehne des Sofas und nahm ihren Rucksack hoch. Sie kramte ein wenig darin herum, bis sie schließlich das große Portemonnaie gefunden hatte. Rasch schaute sie den kleinen Stapel an Zeitnoten durch.

„Ich hab noch zwei 30er“, bestätigte sie.

Sandra stand auf. „Gut. Dann lass uns rasch mit den Rädern losfahren. Die nächste Aktivierungskabine ist oben an der Grundschule. Das sind nur ein paar Minuten.“

Jeanette zögerte und blickte aus der Terrassentür nach draußen. „Jetzt? Du weißt, ich fahre nicht gerne Rad in der Dämmerung. Ich reagiere dann immer total langsam. Können wir nicht zu Fuß gehen?“

„Schon. Aber dann verbrauchen wir natürlich mehr Zeit für den Weg und haben weniger für den Film. - Na gut, wenn es nicht anders geht.“

Sandra lief in den Flur und nahm ihre 60er‑Note sowie den Hausschlüssel. Anschließend verließen die beiden das Haus.

Schwatzend liefen sie die wenigen hundert Meter die kleine Steigung hinauf. Schon von weitem sahen sie die Aktivierungskabine unter einer riesigen Tanne am Rande des kleinen Parkplatzes. Zum Glück war sie unbesetzt.

Sandra trat zuerst hinein und aktivierte ihre Stunde auf die gleiche Weise, wie sie auch die zehn Minuten am Morgen in der Schule genutzt hatte. Sie dachte kurz darüber nach, was nun genau physikalisch geschah. Es hatte etwas mit verwirbelter Raumzeit um ihren Körper zu tun. Diese Verdrehung löste sich nach und nach wie ein verdrillter Faden, bis sie schließlich wieder in der Normalzeit ankommen würde.

Ob die letzten schnellen Sekunden wirklich doppelt so schnell wie die Externzeit sind?, fragte sich Sandra. Ein Faden entdrillt sich ja auch nicht mit konstanter Geschwindigkeit.

Auch Jeanette benötigte nur etwa eine Minute, bis sie ebenfalls eine Stunde aktiviert hatte.

Auf dem Rückweg beschleunigten beide, obwohl sie ohnehin aufgrund des zweifachen Zeitablaufs schneller liefen, ihre Schritte noch weiter. Die Einfahrten, die Häuser und die Straßenlaternen huschten an ihnen vorbei. Als Sandra sah, dass ihre Freundin mit verkniffenem Gesicht hochkonzentriert die Umgebung scannte, verlangsamte sie wieder etwas.

„Alles okay mit dir?“, fragte sie und hatte wie am Vormittag in der großen Pause besonders langsam gesprochen.

Jeanette nickte. „Geht schon. Ist halt super anstrengend, so schnell zu laufen, wenn man nicht so gut sieht.“

Dann aber lachte sie. „Du kannst übrigens normal mit mir sprechen. Meine Zeit läuft ja auch doppelt so schnell, so dass ich die Schallwellen, die sich für die anderen ja mit rund 680 m/sec bewegen, korrekt zeitlich auflösen kann.“

Sandra lächelte. „Das hab ich völlig vergessen. Es dauert wohl eine Weile, bis das theoretische Wissen aus dem Vorbereitungskurs im Praxisteil meines Gehirns angekommen ist.“

Nach ein paar Minuten - es war kurz nach 21 Uhr - hatten sie das Haus der Mangolds erreicht und ließen sich wieder auf dem Sofa nieder.

Sandra startete den dritten Film. Doch bereits nach wenigen Sätzen griff sie erneut zur Fernbedienung und schaltete auf doppelte Abspielgeschwindigkeit. Nun würden sich Darsteller und Explosionen korrekt anhören.

Etwa in der Hälfte des Streifens öffnete sich die Wohnzimmertür. Frau Mangold kam herein. „Sandra, vermute ich richtig, dass ihr den Film in doppelter Zeit schaut?“

Sandra drückte auf die Pause-Taste und drehte sich um. „Ja. Du hast ja gesagt, es wäre Zeitguthaben zum Verprassen.“

Frau Mangold nickte. „Richtig. Sonst wäre es ja kein Geschenk. Nun, lasst euch nicht aufhalten.“

Die aktivierte Stunde lief ab, als gerade der Abspann über den Schirm rollte.

Sandra stoppte die Widergabe der Kassette. „Das war eine Punktlandung.“

***

In der Nacht wachte Sandra gegen 2 Uhr auf. Sie fühlte sich fit, war absolut wach und wusste, wenn sie nun im Bett bliebe, würde sie sich ewig lange herumwälzen, irgendwann doch wieder einschlafen, sich dann aber am Morgen wie gerädert fühlen. So beschloss sie, trotz der sehr frühen Stunde aufzustehen.

Nur was soll ich jetzt machen? Die Hausaufgaben sind durch. Auf noch einen Film habe ich keine Lust. Lesen - nee, nicht nachts.

Da durchzuckte sie ein Gedanke.

Sie könnte doch...

Rasch zog sie T-Shirt und Jeans an, schlüpfte in ihre Joggingschuhe und schrieb eine kurze Notiz für ihre Eltern, die sie von außen an ihre Zimmertür klebte.

Sandra nahm den Schlüssel vom Brett im Flur und verließ das Haus. Wieder schwang sie sich auf ihr Rennrad und fuhr ziemlich schnell durch die dunklen, verlassenen Straßen zum Marktplatz.

In Gedanken musste sie lachen. Normalerweise zieht es ja die Verbrecher zum Tatort zurück, nicht unbedingt die Opfer!

Im Vorraum der Zeitsparkasse ging sie zur Einzahlsektion. Um diese Uhrzeit waren die drei Zellen, die den Aktivierungskabinen wie ein Ei dem anderen glichen, fast immer frei. Sandra wusste aus den letzten veröffentlichten Nutzungszahlen im Lokalteil der Zeitung, dass nur wenige Menschen nachts Zeiteinzahlungen tätigten.

Die wälzen sich wohl alle lieber genervt im Bett, ging es ihr durch den Kopf.

Sandra gab den gewünschten Betrag ein: drei Stunden. Die Tür der Kabine öffnete sich. Die Schülerin trat hinein, drehte sich um 180 Grad und drückte auch hier ihren Finger auf die Identifizierungsfläche.

Danach wurde es dunkel um sie...

...und gefühlt im gleichen Moment schon wieder hell.

Sandra blickte auf ihre Armbanduhr, die 2:27 Uhr zeigte, den Zeitpunkt, zu dem sie die Einzahlung begonnen hatte. Das Mädchen drückte auf den Synchronisierungsknopf an der Uhr. Fast sofort sprang die Anzeige auf 5:29 Uhr um und nahm damit den Wert an, den die Bundesanstalt sekündlich per Funk als offizielle Zeit ausstrahlte.

Klasse, freute sie sich. Meine ersten eigenen drei Stunden Guthaben.

Das war sozusagen ein Sprung in die Zukunft. Während der Einzahlung hat sich mein Körper nur durch den Raum bewegt. Die Zeitkomponente wurde eingefroren und auf das Konto gebucht. Mein biologisches Alter ist nun drei Stunden kleiner als mein lineares. Und morgen, bei der Diskrepanzmessung in der Schule wird das auch angemessen. Aber kombiniert mit der Einzahlung hat alles seine Ordnung.

Sandra war in Hochstimmung. Es fühlte sich toll an, in gewissem Rahmen selbst über seine Lebenszeit zu verfügen. Sie könnte nun länger auf Partys bleiben und dennoch für ihre Eltern pünktlich zu Hause sein, vielleicht sogar auf ihrer eigenen Geburtstagsparty, die Jeanette für das Wochenende geplant hatte.

Sie grinste, als sie daran dachte, dass die Nachbarn dann die ganze Zeit Musik in zweifacher Geschwindigkeit ertragen mussten.

Gemütlich fuhr sie zurück und kam an einer Bäckerei vorbei, die zu ihrer Überraschung schon geöffnet hatte. Das Angeboet war naturgemäß noch stark eingeschränkt, aber es reichte für frische Brötchen und ein paar Croissants. Sandra zahlte mit der Bargeldfunktion ihrer Karte. Zeit wollte sie für diesen Kauf nicht einlösen und hätte es in ihrem Alter auch gar nicht gedurft.

Zuhause bereitete sie das Frühstück vor, warf die Kaffeemaschine an und setzte sich an den Esstisch. Ihre Eltern würden erst gegen 7 Uhr aufstehen, so hatte sie noch gut eine halbe Stunde völlige Ruhe.

Sandra nahm die Tageszeitung, schlürfte ein wenig Kaffee und blätterte die Seiten durch. Auf politische Themen hatte sie keine Lust, auch der Kulturteil wollte sie heute nicht wirklich interessieren. So blieb sie schließlich bei der Sportsektion hängen.

In großen Buchstaben sprang ihr die Titelzeile entgegen: „Weltrekord-Sprinter des Zeitdopings überführt“.

Sandra las den Artikel aufmerksam durch.

Matthew Power hatte beim großen Leichtathletik-Meeting am Wochenende über 400 Meter Hürden eine Fabelzeit hingelegt und den bisherigen Rekord um zwei Zehntel unterboten. Alle chemischen Dopingtests waren negativ gewesen. Auch die Diskrepanzmessung kurz vor Beginn des Endlaufes zeigte keine Beanstandung.

Doch erste Zweifel waren bald danach aufgekommen. Und schließlich hatte eine genaue Analyse seines Bewegungsablaufs durch Mediziner ergeben, dass sein Laufstil exakt dem eines Menschen glich, dessen Video um anderthalb Prozent schneller abgespielt wurde. Eine solche gleichförmige Beschleunigung aller Muskelgruppen, so die Wissenschaftler, ließe sich biologisch nicht erklären.

Kurz darauf war Power der Sieg aberkannt worden, obwohl der Sportler seine Unschuld beteuerte. Im Netz wurde heftig spekuliert, ob er möglicherweise eine der illegalen, im Untergrund verfügbaren, Aktivierungskabinen benutzt hatte, welche es erlaubten, den Zeitablauf nur um wenige Prozent zu beschleunigen.

„Krass!“, murmelte Sandra vor sich hin und biss in das Croissant, das sie mit der Spitze in den Kaffee getaucht hatte.

„Aber der Kerl muss doch wissen, dass bei einem Rekord alles überprüft wird. Hm, aber warum hat die Diskrepanzmessung diese kleine Beschleunigung nicht erkannt? Ist das vielleicht der Grund für den Faktor 2 bei Zeitaktivierung?“

Sandra hörte Geräusche vom Flur und blickte von der Zeitung auf. Ihre Eltern kamen ins Esszimmer, und die kleine Familie frühstückte für ein paar Minuten zusammen, was an Wochentagen nur selten vorkam. Sandra genoss es.

***

Wild trat Sandra in die Pedale und blickte auf das Display ihres Fahrradcomputers.

7:52 Uhr externe Zeit, dachte sie. Das wird knapp.

Um 8 Uhr an diesem Freitag wollte die 10. Klassenstufe des Gymnasiums gemeinsam vom Busbahnhof zur Bundeszeitbank aufbrechen. Sandra hatte verschlafen, und so notgedrungen eine Stunde aktiviert.

Nun fuhr sie mit doppelter subjektiver Zeit auf ihrem Rennrad durch den Frühverkehr.

Der Tacho zeigte 52 Kilometer pro Stunde an. Sandra keuchte, obwohl sie persönlich nur mit der Hälfte der Geschwindigkeit in die Pedale trat. Doch extern, für den Straßenbelag, fühlte es sich so an, als strampelte hier eine Tour-de-France-Teilnehmerin.

Als die Schülerin auf einen vor ihr fahrenden Wagen aufholte, wurde ihr klar, dass sie es etwas übertrieb. Sofort bremste sie ein wenig.

Plötzlich schoss aus einer Einfahrt rückwärts ein Auto heraus. Sandra konnte gerade noch ausweichen, musste sich aber gehörig auf die Seite lehnen, um ein Wegrutschen des Fahrrades zu vermeiden, denn eine Richtungsänderung bei dieser Geschwindigkeit war äußerst schwierig. Schließlich wirkten die Trägheitskräfte in der Normalzeit auf die knapp 50 Kilometer pro Stunde schnellen Reifen.

Glücklicherweise aber war ihre Reaktionsschnelligkeit ebenfalls gewachsen, so dass sie sofort auf den Verkehr antworten konnte. Dennoch war sie mehr als froh, als der Busbahnhof endlich in Sicht kam und sie mit mickrigen 10 Kilometern pro Stunde die letzten hundert Meter gefühlt nur dahinschlich. Sandra sperrte ihr Rad an dem Unterstand ab, griff nach ihrem schwarzen Rucksack, in dem sie nur ein wenig Proviant und ihr Handy verstaut hatte. Für größere Vorbereitungen war am Morgen einfach keine Zeit gewesen.

Dann lief sie zur Abfahrtsstelle, wo bereits etwa 50 Schüler warteten.

Sandra blickte auf die große Bahnhofsuhr.

Puh, dachte sie erleichtert. Gerade noch rechtzeitig.

Rasch schaute sie über die Schülerschar, aber Jeanette hatte ihre Freundin schon gefunden und kam ihr entgegen. An Sandras Bewegungen erkannte sie sofort, was los war.

„Wie lange noch?“, fragte sie grinsend.

„Viertel nach acht“, erwiderte Sandra und bemühte sich diesmal nicht, ihre hohe Stimme zu kaschieren. Dazu war sie noch zu ausgepowert von der Radfahrt.

Herr Wegner klatschte ein paar Mal laut in die Hände. Das Gemurmel der Zehntklässler verstummte.

„Bitte einsteigen!“, rief er.

Nacheinander betraten die Schüler den Bus. Der Lehrer hakte jeden Namen auf seiner Liste ab und war zufrieden, dass niemand bei der Abfahrt fehlte.

***

Nach etwa drei Stunden Busfahrt erreichten sie die Hauptstadt. Sandra stupste ihre Freundin an. „Aufwachen, wir sind da.

Jeanette rieb sich die Augen und setzte sich in ihrem Sitz wieder auf.

„‘Weißt du, ob es Busse mit Einzahlkabinen gibt?“, wollte Sandra wissen.

„Keine Ahnung. Warum?“

„Na, die Fahrzeit hätten wir doch gut auf unsere Konten einzahlen können.“

Jeanette schaute verblüfft, dann nickte sie langsam. „Gar keine schlechte Idee. Das macht ferne Reiseziele viel attraktiver, wenn man quasi in Sekundenschnelle dort ist. Und man kann länger in der Disco tanzen. Gefällt mir. Cooles Geschäftskonzept für ein Reiseunternehmen.“

Der Bus hielt vor einer Art Hangar. Schüler wie Lehrer stiegen aus.

Die Bundeszeitbank befand sich am Nordrand der größten Stadt des Landes. Ein wenig verstreut verteilten sich eine Handvoll flacher, beigefarbener riesiger Gebäude.

Die Gruppe wurde bereits von einem Mitarbeiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit erwartet. Er begrüßte sie freundlich und begann gleich mit der Führung.

Zuerst ging es durch die Hallen für die normale Geldproduktion. Die ehemalige Bundesbank war vor vielen Jahren bereits in die neugegründete Bundeszeitbank als Abteilung integriert worden.

Jeanette gähnte wenig verstohlen. Auch Sandra hatte sich die Sache spannender vorgestellt. Wo das Papiergeld herkam, war nicht halb so interessant, wie die Antwort auf die Frage, woher die Bundeszeitbank ihre neu produzierte Zeit nahm. Während Papiergeld einfach gedruckt wurde und es keine Limitierung gab, sah dies bei Zeit anders aus.

„Zeitbanken wollen mit der Kontoführung natürlich Geld, oder auch Zeit, verdienen“, sagte der Tourguide, als die Gruppe endlich das Gebäude mit der Aufschrift ‚Leitzins / Abteilung Zeit‘ betrat. „An entsprechenden Börsen kann die eine Währung in die andere umgetauscht werden. Das ist das gleiche Prinzip, das ihr auch anwendet, wenn ihr Fremdwährung, beispielsweise für einen Urlaub in einem fernen Land, umtauscht. Man will den günstigsten Wechselkurs ergattern. Aber neben diesen spekulativen Geschäften besteht für Banken auch die Möglichkeit, Zeit tage- oder wochenweise bei uns hier zu deponieren.“

Mit einem Codeschlüssel öffnete er die Tür zu einer riesigen Halle, die teilweise unterirdisch lag. Die Besucher blickten durch eine Glaswand auf eine metallene Kugel auf dem Boden der Halle.

„Boah“, entfuhr es Jeanette. Sie deutete auf einen Mitarbeiter im blauen Kittel, der gerade unter der Kugel hervorkam. „Das Ding hat bestimmt zehn Meter Durchmesser. Wenn nicht noch mehr.“

Der Tourguide nickte. „Du hast recht. 11,26 Meter, um genau zu sein. Unsere Physiker könnten dir bestimmt erklären, warum es exakt dieser Wert sein muss, ich weiß aber leider nur, dass mit dem Design, das wir verwenden, die Effizienz der Zeiternte mit heutiger Technik am höchsten ist.“

Erneut öffnete er eine Tür. Die anschließende Halle glich der ersten. Nur die Kugel war offen.

„Aufgeklappt wie eins dieser gelben Plastikeier, die an einer Seite von einem Scharnier zusammengehalten werden, damit man die gewünschte Figur basteln kann“, flüsterte Sandra, die neugierig in das Innere der Metallkonstruktion blickte, ihrer Freundin ins Ohr.

Was sie sah, war verwirrend. Und den Gesichtern der anderen Besucher nach zu urteilen, nicht nur für sie.

„Die PR‑Abteilung hat darum gebeten, die Wartung der Produktionsanlage Beta so zu legen, dass ihr euch einmal das Innere live anschauen könnt.“

Er betrat einen Gang, der in die Halle hineinführte. Die Metallkugel selbst, sah Sandra jetzt erst, befand sich in einem Glaskubus und war vom Rest des Hangars hermetisch abgeschlossen.

„Wir stehen jetzt vor der Schleuse für die Mitarbeiter. So habt ihr den besten Blick. Was ihr seht, ist im Grunde nichts anderes als ein Röhrensystem, dessen Inneres leer ist.“

Er pausierte einen Moment und verbesserte sich dann. „Wobei ‚leer‘ eigentlich nicht richtig ist. Die Röhren stehen unter dem höchsten Vakuum, das wir heutzutage herstellen können. Und wir sind stolz darauf, dass es etwa zehn Mal leerer ist als die Vakuumröhren der Bundeszeitbanken anderer Nationen. Aber natürlich enthält es Raum, oder besser, Raumzeit. Und darum geht es uns.“

Mit seinem Finger wies er auf eine besonders dicke Röhre. „Ihr wisst, das Universum dehnt sich aus. Galaxien entfernen sich voneinander, falls nicht die Anziehungskräfte überwiegen. Diese Ausdehnung geschieht, weil sich andauernd neue Raumzeit bildet, welche quasi die Dinge auseinanderschiebt. Die großartigen Wissenschaftler, welche die Zeitepoche der Menschheit ermöglicht haben, entdeckten nun, dass diese neu geschaffene Raumzeit nach wenigen, uns technisch möglichen Manipulationen, in reine Zeit umgewandelt werden kann.“

Sandra meldete sich. „Und es entsteht so viel, dass Sie damit Zinsen auf Einlagen zahlen können?“, fragte sie skeptisch. „Wir haben in Physik gelernt, dass diese Raumzeitbildung nur auf kosmischen Skalen sichtbar ist.“

Der Tourguide nickte. „Sehr schön, junge Dame. Sie haben gut mitgedacht. Aber ein Umstand kommt uns entgegen und erhöht die Zeitausbeute um viele Größenordnungen. Die Raumzeitgenerierung geschieht umso stärker - und zwar weit überexponentiell -, je mehr Zeit wir in das Röhrensystem quasi injizieren können.“

Sandra verstand. „Ah! Je mehr Zeit die Sparkassen Ihnen geben, desto mehr Zinsen können sie generieren. Desto mehr Zinsen erhalten die einlegenden Banken, aber desto mehr bleibt auch bei Ihnen.“

Der Tourguide nickte. Er lächelte freundlich, freute sich offensichtlich über die Wissbegier der Schülerin. „Genau. Wobei wir nur eine bestimmte Lagerkapazität für diese unportionierte Zeit haben. Plakativ gesagt: je mehr Zeit auf einem Haufen liegt, desto schwerer ist es, sie zusammenzuhalten. Deshalb gibt es auch für den Massengebrauch keine Noten über 120 Minuten. - Aber wir geben auch nicht automatisch die Maximalzinsen an die Sparkassen weiter. Für diesen Wert, den Leitzins, spielen auch noch andere Faktoren eine Rolle. Denn je mehr Eigenkapital wir selbst haben, desto besser können wir bei Finanzkrisen eingreifen, um die Wirtschaft zu stützen. - Aber, wie mir euer Lehrer erzählte, werdet ihr demnächst ja ein Berufspraktikum machen. Dann werdet ihr die andere Seite der Wirtschaft kennenlernen.“

Die Führung ging noch etwa eine halbe Stunde weiter, dann erreichten die Besucher wieder den Parkplatz.

Wegner verabschiedete sich als letzter vom Mitarbeiter der Bank, bedankte sich, auch im Namen seiner Schüler, für die informative und spannende Führung und hakte wieder ab, wer in den Bus stieg. Niemand war verloren gegangen.

***

Am späten Abend erhielt Sandra zuhause auf ihrem Handy einen Anruf ihrer Patentante.

„Hi, Tante Marion“, grüßte die Schülerin.

„Hallo, Sandra“, erwiderte eine fröhliche Frauenstimme. „Ich wollte mich von dir verabschieden. Deinen Eltern habe ich am Vormittag schon Bescheid gesagt, als du noch auf Klassenfahrt warst.“

Sandra ging auf die Terrasse, denn die Verbindung im Haus war nicht optimal. Gelegentlich wurden Marions Worte von einem Rauschen überlagert. „Ja, wir haben uns die Bundeszeitbank angeschaut. War super spannend.“

Marion lachte. „Na, das glaube ich jetzt einfach mal. Aber du hast das richtige Stichwort geliefert. Ich werde gleich vier Monate auf mein Zeitkonto einzahlen.“

Sandra unterbrach. „Was?! Vier Monate? Ich dachte, man kann nur ein paar Stunden auf einmal einzahlen.“

„Das stimmt eigentlich. Aber das Ministerium führt eine Pilotstudie durch, um die Auswirkungen von Langzeiteinzahlungen zu untersuchen. Du weißt vielleicht, dass es Bestrebungen in vielen Parlamenten der Welt gibt, die Zeitregelungen zu lockern.“

Sandra nickte, obwohl es ihre Patentante nicht sehen konnte, und setzte sich in den Gartenstuhl. „Ja, das haben wir kürzlich durchgenommen. Und du machst bei dieser Studie mit?“

„Ja, ich wurde genommen. Ich werde also den Sommer jetzt einzahlen, und dann Ende Oktober wieder im Spätherbst wachwerden, um dann sofort die kalte Jahreszeit zu erleben. Man will herausfinden, wie sich das Fehlen der Sommersonne auswirkt. Auf biologischer, aber auch psychischer Ebene. Doch abbuchen darf ich nur stückweise. Der Effekt von Langzeitverschnellerung ist Thema einer anderen Studie.“

„Ganz schön mutig“, lobte Sandra. „Ich könnte das nicht.“

Marion lachte auf. „Nun, die Winterzeit gefällt mir auch nicht besonders. Aber stelle dir mal vor, diese Art Einzahlung wird als unbedenklich eingestuft. Dann könntest du den Winter überspringen und immer Sommer haben. Und da wäre ich sofort dabei.“

„Das klingt wiederum gut“, grinste Sandra.

„Also, mach's gut! Ich melde mich wieder, wenn ich wach bin.“

„Bis in einer Sekunde, also zumindest in deiner subjektiven Zeit. Tschüss, Tante Marion!“, schloss Sandra das Telefonat.

Nachdenklich ging sie ins Haus zurück.

Vier Monate einzahlen, dachte sie. Brr, und dann vier Monate, wenn auch portionsweise, doppelt schnell leben.

Aber vielleicht könnte ich ja etwas anderes in dieser Richtung machen...

Sie stützte sich an der Flurkommode ab und dachte ein paar Minuten nach.

Es wäre einen Versuch wert. Wenn es sich als unsinnig herausstellt, zahle ich die Zeit halt wieder ein.

Entschlossen fuhr sie zum nächsten Zeitausgabeautomat. Da ihre Kontoführung ja noch entgeltlos erfolgte, nahm sie das Gerät in der nächsten Postfiliale.

„0,25% Auszahlungsgebühr“, murmelte Sandra, als sie den Aushang sah. „Das wäre zwar weniger als eine Minute bei den vier Stunden, die ich abheben will, aber dennoch. Eine ganze Menge Lebenszeit, welche die Bank erhält. Und die Gebühren in Bargeld sind noch happiger.“

Dennoch entschied sie, nach Ablauf des kostenlosen Jahres lieber in Bargeld zu zahlen als mit ihrem Leben.

Rasch fuhr sie zu der Aktivierungskabine an der Grundschule, die sie schon mit Jeanette genutzt hatte. Sandra startete die vier abgehobenen Stunden, raste in verdoppeltem Zeitablauf nach Hause...

...und ging zu Bett.

Es war kurz nach 22 Uhr.

Sie würde nun ausschlafen. Und obwohl sie ziemlich müde war, sollte das, extern betrachtet, viel weniger Zeit erfordern als bis zum Morgen. Sie würde nun schneller schlafen, dann noch ein wenig in Normalzeit.

Aber wenn sie aufwachte, würde es noch dunkel sein. Vielleicht konnte sie dann wieder etwas einzahlen, weil die Dämmerung noch weit weg war. Aber auf jeden Fall würde sie das gesamte Sonnenlicht des längsten Tages des Jahres genießen können.

Ausgeschlafen, fit, und völlig ohne Beschleunigungsphänomene.

***

In der nächsten Woche betrat Sandra am Montagmorgen pünktlich um 8 Uhr das Architekturbüro, in dem sie ihr einwöchiges Berufspraktikum, welches die Schule verlangte, absolvieren würde. Jeanettes Vater kannte den Inhaber und hatte so für sie den Kontakt hergestellt.

„Hi, Sandra“, grüßte eine Frau mittleren Alters, die gerade ihre Hornbrille absetzte. „Ich bin Elisabeth Groß. Wir duzen uns hier alle. Also nenn mich einfach Elisabeth.“

Sandra lächelte freundlich zurück und schüttelte der Frau die dargebotene Hand. „Guten Morgen. Vielen Dank, dass ich bei euch ein wenig Einblick bekommen darf.“

„Immer gerne. Die Welt kann Architektinnen mit guten Ideen gebrauchen. Das Wohnen wird sich in der Zukunft stark ändern. Doppelte Zeitgeschwindigkeit oder linearer Ablauf. Es wird für jeden Menschen mehr Wechsel geben, auch an einem Tag, privat wie beruflich. Ich bin sicher, unsere Lebensgewohnheiten werden sich weiter ändern. - Aber so philosophisch wollen wir gar nicht werden. - Komm mit, ich zeige dir deinen Arbeitsplatz.“

Elisabeth drehte sich um und ging den langen Flur hinunter. Sandra folgte ihr.

„Ich denke, es ist am besten, wenn du am ersten Tag einfach immer mit mir mitkommst. Dann siehst du, was hier so abläuft.“

„Gerne“, stimmte Sandra zu.

Die beiden betraten ein recht geräumiges Büro. Zwei Schreibtische standen Kopf an Kopf. Hinter einem ließ sich die Mitarbeiterin nieder.

„Dein Reich“, sagte Elisabeth und deutete auf einen kleineren Schreibtisch an einer der Seitenwände, auf dem ein aufgeklappter Laptop stand. Zwei Zimmerpflanzen in großen Kübeln und ein Strauß Blumen auf der Fensterbank gaben dem Raum eine kleine persönliche Note. Ansonsten war alles sehr funktionell gehalten.

„Das erste, das wir machen, ist, einen Zeitkreditantrag zu stellen“, verkündete Sandras Chefin.

„Zeitkredit?“

„Ja. Einer unserer Kunden hatte so viele Änderungswünsche, dass wir mit dem Neuzeichnen der Pläne kaum nachkamen. Aber die Deadline für das Projekt wurde natürlich nicht verlängert. Wir müssen deshalb Überstunden machen, die durch Fremdzeit ermöglicht werden.“

Sandra schaute überrascht. „Warum kauft ihr euch nicht einfach Zeit an den Märkten?“

Elisabeth verzog ein wenig das Gesicht. „Die Umrechnungskurse sind miserabel und außerdem hochvolatil. Die Mengen, die wir brauchen - wir sprechen hier von etwa zwanzig Stunden -, erhalten wir nicht am Stück. Wir müssten einige Transaktionen mit womöglich verschiedenen Händlern durchführen. Und das ist nicht Aufgabe eines Architekten. Riesige Firmen haben extra Finanzabteilungen für so etwas. Aber wir können das gar nicht sinnvoll leisten. Dem Chef ist es ohnehin viel zu risikoreich. Er setzt auf das bewährte System: einen Kredit bei einer Zeitsparkasse.“

Den Vormittag über trug Sandra Daten aus den letzten Geschäftsberichten zusammen, denn Elisabeth meinte, sie könnte am ehesten lernen, wenn sie selbst etwas tat anstatt nur zuzuschauen.

Nach drei Stunden war die Schülerin fertig und hatte eigenständig, unterbrochen von gelegentlichen Fragen an Elisabeth, wenn sie etwas nicht verstand, einen Kreditantrag aufgesetzt.

Die Mitarbeiterin verglich ihn mit ihrem selbst ausgefüllten Dokument. Dann lobte sie Sandra. „Sehr schön. Kurz und prägnant formuliert.“

Nach der Mittagspause rief der Geschäftsführer alle Mitarbeiter zu einer Krisenbesprechung zusammen. Zumindest deutete Sandra das aufgeregte Getuschel im Konferenzzimmer so. Niemand schien zu wissen, warum alle aus ihren eigentlichen Arbeiten herausgerissen worden waren.

Wenig später betrat der Chef den Raum. Er war noch erstaunlich jung für diese hohe Position. Aber Sandra hatte erfahren, dass er das Büro von seinem Vater, der es aufgebaut hatte, vor wenigen Jahren geerbt hatte, selbst aber ebenfalls ein ausgezeichneter Geschäftsmann und Architekt war.

„Um es kurz zu machen. Wir haben zwei Probleme.“

Er blickte in die Runde, und Sandra wusste nicht, worauf er wartete.

„Die neue Software zur Modellberechnung hat einen Bug, wie mir deren Chefentwickler gerade mitteilte. Wir haben ein Update bekommen, müssen aber sämtliche Werte für Projekt B überprüfen. Ein Glück, dass die anderen Projekte noch die alte Version verwenden.“

Ein vielstimmiges Seufzen ertönte. Sandra erkannte sofort am genervten Gesichtsausdruck, wer von den Mitarbeitern in diesem Projekt arbeitete.

„Heißt das Überstunden?“, fragte ein Mann, der besonders sauer schien.

Der Chef nickte. „Ich brauche drei Leute, die jeder vier Stunden doppelt schnell arbeiten. Das Neuberechnen benötigt ja nur wenig Interaktion mit der Normalzeit. Das sollte also ohne Komplikationen klappen. - Die gesetzlichen Kompensationsregeln kennt ihr ja.“

Sechs Personen, die nebeneinander saßen, schauten sich an und tuschelten für einen Moment. Dann erklärten sich drei Mitarbeiter bereit.

„Und das zweite Problem ist wohl der Kredit für Projekt E“, warf Elisabeth in die Runde. „Der Antrag ist am Vormittag raus. Ich bin sicher, als Premiumkunde erhalten wir heute noch die Zusage. Ich werde aber öfters mal nachfragen. Das kann nicht schaden.“

Der Chef stand auf und beendete mit einem „Danke“ die Besprechung.

***

Am nächsten Morgen beschäftigte sich Sandra mit einer der CAD-Softwarelösungen, welche das Büro verwendete. Sie übertrug einen Papierplan in das Programm und änderte die Werte der Abmessungen. Fenster wurden größer, doch dann trugen die Wände nicht mehr. Einen ganzen Raum mit Wasserbetten belegen, erwies sich auch als eher suboptimale Idee, da dann Stahlseile zur Verstärkung in den Bodenbeton eingezogen werden musten.

Immer wieder kamen Mitarbeiter vorbei, machten sich mit ihr bekannt. Alle waren hilfsbereit. Sandra gefiel das Arbeitsklima. Niemand schien sie für einen Störenfried zu halten, obwohl ihr Mehrwert für die Firma doch sicherlich sehr überschaubar bleiben würde.

Als sie mit Elisabeth auf dem Weg zum Archiv im Keller war, sah Sandra, wie einer der Mitarbeiter von Projekt B im Zeitraum verschwand. Sie sprach Elisabeth darauf an.

„Erneute Überstunden?“

Ihre Chefin schüttelte den Kopf. „Nein. Wir haben auch eine Einzahlkabine, denn der Gesetzgeber verlangt einen möglichst unverzüglichen Ausgleich von Überstunden. Robert hier hat gestern ja vier Doppelzeitstunden gearbeitet und damit seinen - tut mir leid, dass ich es so direkt benennen muss - Todeszeitpunkt nähergeholt.“

„Sein Körper ist ja um acht Stunden gealtert“, warf Sandra ein.

„Genau. Nun wird er vier Stunden auf das Firmenkonto einzahlen, damit seine biologische Zeit wieder normalisiert wird, er also so gestellt ist, als habe er keine Überstunden geleistet.“

„Aber einen Teil der Zeit bekommt er doch als Bonus, oder?“

Elisabeth öffnete die Tür zum Treppenhaus.

„Der Bonus kann sowohl Geld als auch Zeit sein. Wir hier haben uns für Zeit entschieden. Die drei Mitarbeiter, die Überstunden geleistet haben, zahlen insgesamt zwölf Stunden ein, denn wir haben ja auch zwölf Stunden vom Softwarehaus erhalten. Allerdings wird dieser fehlerverantwortlichen Firma die Zeit nicht zurückgegeben, es ist also keine Leihe. Sondern ein Viertel wird an die drei Kollegen ausgezahlt, der Rest verbleibt im Büro als ganzes.“

„Also sind die zwölf Stunden Schadensersatz, denn effektiv kommen sie ja von dieser Softwarefirma?“

Elisabeth nickte. „In der Arbeitszeit, die Robert und die anderen für die Korrektur eingesetzt haben, hätten sie auch an anderen Projekten arbeiten können. Unser Büro hat also einen wirtschaftlichen Schaden durch den Bug davongetragen.“

Nach dem Besuch im Archiv mit kurzer Führung ging Sandra wieder an ihren Schreibtisch zurück.

Für einen Moment dachte sie darüber nach, dass es ziemlich viel Logistik bedurfte, seine Zeit aktiv zu managen. Einzahlen, Auszahlen, doppelt schnell leben, die Interaktionen mit der normalen Welt behutsamer angehen, damit man mit zu flinken Bewegungen nichts kaputt machte, und, und, und...

Nur schade, dachte sie, dass es der Wissenschaft noch nicht gelungen ist, Unsterblichkeit zu erreichen. Wir können Zeit verschieben, unser Leben teilweise in die Zukunft hieven, jedoch nicht verlängern.

Aber Zeit ist nun mal an Bewegung gekoppelt, sonst geschieht nichts, man erlebt nichts und nimmt nichts wahr. Und Bewegung bedeutet nun mal das Altern der Körperzellen.

Sandra glaubte nicht, dass die Physik alleine durch Raumzeitmanipulationen jemals den Unsterblichkeitstraum der Menschen würde verwirklichen können. Dazu benötigte man auch die Biologie.

Warum aber war der Beschleunigungsfaktor exakt 2? Der Wert erschien ihr absolut willkürlich. War es der Messgenauigkeit der Diskrepanzgeräte geschuldet? Aber warum erlaubte man vollzeitigen Menschen dann nicht, den Wert nach Belieben zu wählen?

Denn dass es funktionierte, hatte ja das Zeitdoping bewiesen.

Und konnte man auch einfach nur einzahlen, aber nie etwas abheben? Dann könnte man ja quasi, wie in einem fast lichtschnellen Raumschiff, das die Erde umkreist, zeitlos in die Zukunft gleiten und die dortigen Errungenschaften genießen.

Es gibt wohl noch einiges, was ich lernen muss, fasste Sandra ihre Überlegungen zusammen und widmete sich wieder ihrem Praktikum.



ENDE
 

Michael Kempa

Mitglied
Eine interessante Fiktion. Die vielen Absätze erleichtern das Lesen, das finde ich angenehm. Was mir fehlt, ist der Konflikt - ein handfestes Drama, etwas, was der Geschichte mehr Spannung bringen könnte.
 

marcm200

Mitglied
Interessanter Punkt: Spannung.

Ich persönlich finde es spannend zu lesen/lernen, was Sandra denn nun in den ersten Tagen ihrer Halbzeitigkeit mit dem Konto anfängt.

Es wäre natürlich auch möglich gewesen, die Welt aus Sicht der Bankräuber zu beschreiben, welche Zeit einzahlen, abheben und diese für ihren geplanten Raub verwenden.

Ich wollte aber eher eine Geschichte im kleinen Rahmen. Das "schlimmste Verbrechen" (begangen von Sandra) wurde daher das Abschreiben der Hausaufgaben :)
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber marcm200,

ich muss gestehen, ich bin 'unterwegs' verloren gegangen.
Mir ist auch nicht klar geworden,was es nun mit dieser 'Zeit' auf sich hat, die man sparen kann und verwendet, wie man dann möchte. Oder wodurch diese Doppelung der Zeit entsteht - und worin überhaupt der Vorteil bestehen soll - sie zu haben und sie zu kontrollieren.
Ich hatte weitergelesen in der Hoffnung, dass sich mir der Sinn noch erschließen würde, aber statt dessen wurde ich durch einen nicht gerade 'spannenden' Schüleralltag gelotst.
Beim Banküberfall war dann Schluss für mich, weil mir völlig das Verständnis fehlte, warum es Sinn machen soll, Zeit zu stehlen.

Vielleicht bin ich einfach nicht phantasievoll genug für diese Geschichte.

Dir aber trotzdem ein herzliches Willkommen auf der Leselupe!

Liebe Grüße
Petra
 

marcm200

Mitglied
Hallo Petra,

danke für dein ausführliches Feedback.

Welchen Sinn hat es, Zeit auf diese Weise zu sparen? Das ist es, was Sandra herausfinden will - für ihr Leben.

Ganz grundsätzlich war meine Idee: Wer gerade Langeweile hat, kann Zeit totschlagen - oder sie einzahlen (Sandra wacht nachts auf und ist fit) und damit überspringen und später abheben (und dann noch einen Film schauen, bevor man nach Hause muss). Man kann also sein Leben bewusst erleben, wenn man es möchte, nicht, weil gerade die Physik/Biologie einen wachhält.

Die Ganoven können profane Gründe haben - Zeit/Geld sind wechselseitig tauschbar an entsprechenden Börsen. Oder aber, sie nutzen die gestohlene Zeit, um in extern kürzerer Zeit doppelt so viel Planung für ein noch größeres Verbrechen zu haben (Termindruck - so wie am Ende der Geschichte im Architekturbüro).

Und das mit dem Schulalltag: so etwas schreibe und lese ich gerne. Das kommt auch in anderen Geschichten von mir vor :)

Mir gefällt der kleine Rahmen mit kleinen Problemen hier persönlich sehr gut. Ich wollte keine Geschichte schreiben, in der Sandra beispielsweise gleich in einen Unfall gerät und dann zwei Opfern parallel Herzdruckmassage geben muss (sie hat gerade Zeit abgehoben und aktiviert). In meiner Geschichte sollte man sich auf die Aspekte des Zeitmanagements konzentrieren können und nicht durch große, lebensbedrohliche Konflikte davon abgelenkt werden.

Konfliktpotential bietet sich, kurz angedeutet am Ende der Geschichte, dadurch, dass sich ja die persönliche Lebenszeit nicht verändert, sie wird nur aufgespalten. In der Folge läuft man asynchron zum Rest der Familie und der Welt. Aber das war mir zu groß und zu ernst, um es als Geschichte um die Zeitsparkasse zu nehmen.

Ich denke, da sind die Geschmäcker einfach verschieden, was ja nichts Schlimmes ist.

Gruß,
Marc
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Marc,

wenn die Geschichte Dir und mindestens einem weiteren Leser so gut gefällt, dann ist ja alles in bester Odnung!

Liebe Grüße
Petra
 



 
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