Die Zelle

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lietzensee

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Die Zelle​

Ich schüttle den Kopf. Was den Großeltern noch als modernes Wunder schien, ist uns Enkeln antiquiertes Kuriosum. Wir nennen es Nostalgie und wollen die Technik von gestern mit der Kultur der letzten Jahrhunderte vollstopfen. Man kommt leicht ins Philosophieren, wenn man die Büchertauschbörse in der alten Telefonzelle sieht. Besonders philosophisch wird einem, wenn man dabei Bier trinkt und es Nacht ist. Ich stehe in der Leonhardstraße, Ecke Knesebeck und aus Etagenfenstern über mir dringt blaues Bildschirmlicht. Eine Birne glimmt hinter den Scheiben der Bücherzelle. Ich trinke von meinem Pils. Oh, Glanz und Elend des Abendlandes!
Öffnet man die Tür, riecht es gleich nach Urin. Das riecht aber nicht so stark, wie in den Telefonzellen meiner kleinen Heimatstadt früher. Oder übertreibt die plötzlich aufgetauchte Erinnerung den Gestank von damals? Ich war ja noch jung. Die kleine Stadt war groß und wir fanden es sehr lustig, Hundekacke an die Hörmuscheln zu schmieren.
Also, was haben wir hier? Ich schiebe meine Bierflasche in die Lücke zwischen der "Geschichte der Hethiter" und dem "Aktuellen Handbuch für Windows 2000". So habe ich die Hände frei. Band Zwei des Lexikons der Kunstgeschichte enthält hübsche Kupferstiche. Ich blättere unter dem Lämpchen der Zelle. Das Lexikon sieht wie neu aus. Offensichtlich wurde mit ihm sehr ehrfurchtsvoll umgegangen oder es hat nie jemand benutzt. Leider fehlt der Band Eins. Ich überlege. Künstler, die mit A und B anfangen, da würden mir gleich Apelles, Beckmann und Bosch einfallen. Aber Künstler mit X oder Y? Nein, der zweite Band bringt mir nichts und ich schiebe ihn zurück ins Regal. Aus Erfahrung konzentriere ich mich dann auf die Leinen-Einbände. "Der Golem" von Meyrink habe ich schon gelesen. "Das Glasperlenspiel" von Hesse hat mir mein Bruder empfohlen. Beide Bücher bleiben also hier.
Die unteren Regale liegen in tiefem Schatten. Das obere Brett ist gut ausgeleuchtet, aber enthält nur Schund. Man sieht das meist an den schrecklich detaillierten Umschlagbildern, manchmal auch an der Schriftart des Titels. Was die Leute für schlechte Bücher lesen. Mehr als einmal habe ich hier falsch gegriffen. Titel, die anfangen mit "Schicksal von..." und "Gefahr aus..." oder enden auf "..der Liebe" taugen nichts. Frustriert schiebe ich Paperbacks über Regalbretter. Solche Bücher sind nicht nutzlos, sondern schlimmer, weil sie Platz belegen, der in so einer kleinen Zelle knapp ist.
Schlechte Bücher machen mich böse. Ich trinke von meinem Pils und überlege. In so eine Tauschbörse stellt jeder die Bücher, die er loswerden will und nimmt die Sachen raus, die ihm wertvoll erscheinen. Es ist kultureller Darwinismus in Richtung des größten Mülls. Die Zelle ist ein Verbannungsort für Literatur, ein Abschiebeknast, ein Sibirien für Werke, die sich nicht mehr ins Leben ihrer Besitzer fügen. Einziger Lichtblick ist, dass ins Leben anderer Menschen manchmal andere Bücher passen.
In dem trüben Licht kämpfe ich mit meiner Enttäuschung. Ich erinnere mich. Einmal, in einer stürmischen, glorreichen Nacht, da machte ich einen goldenen Griff. Ich hatte schon ein paar Bier getrunken. An einer Bücherzelle am S-Bahnhof blieb ich kurz stehen und sah direkt durch die Scheibe diesen Band mit Shakespeares historischen Stücken. Oxford Press, direkt nach dem Krieg gedruckt. Vielleicht das Geschenk eines Besatzungssoldaten an sein Berliner Mädchen, von ihr sehnsuchtsvoll aufbewahrt und achtlos von ihren Erben entsorgt. Ich weiß noch, wie exotisch der Kleber der englischen Nachkriegsbindung gerochen hat. Die Bücherzelle am S-Bahnhof ist letztens abgebrannt, ein wahrhaft shakespearesches Ende. Doch alle Blicke in andere Bücherzellen verblassen seitdem. Das Bier schmeckt bitter. Die Bewohner der Leonhardstraße scheinen mir Banausen. Darauf deuten schon die Fußmatten hin, die vor ihren Wohnungstüren liegen. "Hier wohnt das Glück", sagt mir, dass Geschmack und Bildung schon lange ausgezogen sind. Ist unsere Kultur zum unaufhaltbaren Verfall verdammt? Auf einem Umschlagrücken lese ich "Aufbauverlag". Ich greife zu und finde einen Band von "Bastei-Lübbe" darin. "Die romantischen Abenteuer der Gräfin zu Kosel." Durch meine lauten Flüche bleibt eine alte Frau vor der Zelle stehen.
Irgend was muss doch übrig bleiben von der westlichen Kultur. Hier kann doch nicht alles nur Verfall und Westernromane sein. Ich lasse den Kopf hängen und blicke hinab ins Dunkle. Dort unten ahne ich Bände mit Flecken und Eselsohren. Bücher, die wie billiges Vergnügen behandelt wurden, so hat es meine Oma immer ausgedrückt, wenn ich mir Bücher zu Weihnachten heiß gewünscht hatte und sie zu Silvester schon mit Schokoladenflecken übersät waren. Wehmütig seufze ich. Die Birne flackert. Ich beuge mich zu den unteren Regalen hinab und versuche zu entziffern: "... aus Lö...". Ich wanke etwas, ziehe mein Feuerzeug aus der Tasche und konzentriere mich. Dann juble ich über ein unerwartetes Wiedersehen. "Michel aus Lönneberga" von Astrid Lindgren, die Lektüre meines kindlichen Stubenarrests! Im Schein der Flamme betaste ich den verdreckten Einband. Da fliegt die Tür auf und die alte Frau fährt mich an: "Was tun Sie hier!"
Ich blicke auf, Feuerzeug in der Hand, "Was tun denn Sie hier?" frage ich zurück, mit gutem Recht und Bier im Atem.
"Aus Sicherheitsgründen wird diese Zelle Nachts geschlossen und Sie sollen sich aus dem Staub machen!", ruft sie, grob wie Michels Vater. Sie will mich also vertreiben, was mir die Kultur in der Zelle plötzlich wieder wertvoll erscheinen lässt.
Drohend hebt sie einen Schlüssel. Aber mit meinen drei Bier im Blut bin ich schneller als die Alte mit ihren paarundsiebzig Jahren. Ich greife den Michel Lönneberga und springe aus der Zelle. Sie will die Tür zudrücken, aber ach, die Bierflasche darf ich auch nicht vergessen.
"Fertig?", fragt sie böse und will die Tür vollends schließen.
Nein, ich bin noch nicht fertig. Was sollte es, die romantischen Abenteuer von Gräfin Kosel nehme ich auch noch mit.
 

Matula

Mitglied
Eine hübsche Geschichte ... habent sua fata libelli. In Wien begnügt man sich leider nicht mit Telefonzellen, sondern stellt Bücherschränke aus Holz, Stein oder Blech in die Stadtlandschaft. Frei nach dem Motto: Büchern muss man ausweichen.

Beste Grüße,
Matula
 

wiesner

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Es mag sein, dass Generalfeldmarschall v. Knesebeck und Justizminister Adolph Leonhardt sich mal in Berlin getroffen haben, die beiden nach ihnen genannten Straßen aber nie, sie liegen recht deutlich auseinander ;). Hat es diese 'Bücherstube' mal gegeben?

Unterhaltsame Prosa!

Gruß
Béla
 

lietzensee

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Hallo Matula,
vielen Dank für deine Antwort. Den lateinischen Spruch musste ich erstmal nachgoogeln. Ja, Bücher haben ihre Geschichten. Sie sind nicht nur Container für Text, sondern reizen auch als physische Objekte. Mit Benjamin könnte man von einer Aura sprechen. Das ist ein wichtiger Gedanke hinter der Geschichte. Wenn man die Ironie weg lässt, mag ich solche Bücherbörsen auch. Ich kann mich erinnern, nahe des Wiener Hauptbahnhofs freudig in einem Regal gestöbert zu haben.

Hallo Wiesner,
vielen Dank für deine Antwort. Dass die Straßen sich nicht kreuzen, ist tatsächlich Absicht. Namen wurden geändert, um Bücherzellen zu schützen ;-) Die beschriebene Bücherstube gibt es tatsächlich. Den Shakespeare Band hatte ich wirklich gefunden und leider war in der Nähe mal eine Bücherzelle abgebrannt. Ich habe die Dinge nur etwas durcheinander gerührt.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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