Bereits mit sechzig Jahren begann ich, mich für den Altersmarathon vorzubereiten.
Eigentlich hasse ich es, zu laufen. Fünf Kilometer auf Zeit erst recht.
Aber ich blieb eisern im Training und bin mit fünfundsiebzig immer noch gut in Form.
Auch dieses Jahr werde ich dabei sein, wobei mein einziges Ziel ist, unter die ersten fünfhundert zu kommen.
Ihr glaubt nicht, wie schwer das ist, wenn einem die linke Hüfte bei jedem Schritt schmerzt und das rechte Knie angeschwollen ist.
Aber egal, ich halte durch und bin eine Siegerin.
Wie seit zehn Jahren.
Meine Seite schmerzt, meine Knie können nicht mehr, allein mein eiserner Wille hält mich aufrecht.
Ich laufe, setze eisern einen Fuß vor den anderen und sehe weder zurück noch auf die, die vor mir sind.
Ich habe keine Ahnung, ob es diesmal reichen wird.
Der Läufer vor mir ist meine Marke. Wenn ich es schaffe, ihn zu überrunden, habe ich einen Konkurrenten weniger. Hinter mir keucht eine Frau so laut, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Ab und zu ist das der Fall, denn einige Teilnehmer überschätzen ihre Fähigkeiten, bekommen einen Schwächeanfall oder werden ohnmächtig.
Nichts, was mir passieren wird, denn ich bin stark und werde es bis ins Ziel schaffen.
Der Mann vor mir wankt, ein Apfel hat ihn getroffen. Es ist ihnen zwar verboten, nach den Läufern zu werfen, aber für die Jugendlichen ist es Mutprobe und Spaß zugleich, es dennoch zu versuchen und auf diese Weise einen von uns aus dem Rennen zu kicken.
Ich nutze die Chance und ziehe an meinem Vorläufer vorbei. Blut rinnt ihm über das Kinn, seine Nase ist abgeknickt, aber er hat sich bereits wieder gefangen und läuft weiter.
Als der nächste Apfel meine Schulter trifft, denke ich kurz, es wäre etwas gebrochen. Zum Glück ist es ist nur der Schreck und der dumpfe Schmerz, der mich kurz langsamer werden lässt.
Einen Fuß vor denn anderen, immer weiter. Nicht aufgeben, laufen.
Als wir abstimmten, den Altersmarathon und die Überprüfung der 'geistigen Reife' einzuführen, war ich dreißig Jahre und es klang alles so überzeugend.
„Wir müssen an die Zukunft unserer Kinder denken. Natürlich sind die Renten für uns alle sicher und jeder, der was anderes sagt, lügt! Aber wir müssen vernünftig sein. Es wird Prüfungen geben, die jeder mit etwas guten Willen leicht bestehen kann und wenn nicht, wird niemand leiden müssen.“
All diese Sprüche hatte ich so oft gehört, dass sie bis heute wie in mein Gehirn eingebrannt sind.
Auch ich hatte, wie so viele, dafür gestimmt, eine faire, gerechte Auswahl zu treffen.
Wir konnten uns keine debilen, sabbernden, undankbaren und lebensmüden Alten leisten, mussten eine Lösung für unsere negative Alterspyramide finden und es klang so einfach. Ab fünfundsechzig musste jeder von uns mit einfachen, leicht zu bewältigenden Tests nachweisen, dass er ein Anrecht auf eine Rente und Krankenversorgung hatte und nicht nur ein überflüssiger Kostenfaktor war und besser von seinem traurigen Zustand erlöst wurde.
Nur hatte uns niemand gesagt, dass das Niveau der Prüfungen den Zahlen der 'Auszusortierenden' angepasst werden musste.
Wobei die Matheprüfungen und Logiktests nie eine Schwierigkeit für mich darstellten. Gleichungen mit zwei Unbekannten mögen für andere unlösbar sein, nicht für mich. Zur Not könnte ich sogar eine Vektorrechnung und eine Integralrechnung schaffen. Das würde mich nicht umbringen.
Die Marathonläufe finden im Gegensatz zu den anderen Prüfungen in der Öffentlichkeit statt und sind über die Jahre zu wahren Volksfesten geworden. Nicht, dass ich vor meinem fünfundsechzigsten Geburtstag zu Unterhaltungszwecken daran teilnahm, ich besuchte sie, weil es wichtig war, zu wissen, was mich dort erwartete.
Dort sehe ich das Ziel! Endlich! Ein gelbes Schild. Ich habe keine Ahnung, welchen Rang ich habe, aber der Blick auf das nahe Ende lässt mich noch einmal schneller werden. Der Mann mit der gebrochenen Nase ist jetzt direkt hinter mir und ich weiß, dass er mich nicht überholen darf.
Im Ziel höre ich den jungen Mann, der mir gleich meine neue Ohrmarke mit dem Lebensberechtigungschip verpassen wird, laut rufen: „Nummer fünfhundert! Ab jetzt ist Schluss.“
Ich habe es unter die ersten fünfhundert geschafft! Ein weiteres Jahr für mich.
Hinter mir beginnt das leise Wehklagen und Jammern der Teilnehmer, die die Anforderung der körperlichen Tüchtigkeitsprüfung nicht erfüllt haben. Was nun folgt, geht schnell, denn die Sanitäter stehen bereit und sind gut geschult. Niemand soll unnötig leiden, ist die Devise.
Ich mache den Fehler und sehe zurück. Der Mann auf Platz fünfhunderteins blickt mich mit seinen ehemals wunderschönen blauen Augen an. Ich sehe keinen Vorwurf und keinen Hass in ihnen, nur Resignation, Erschöpfung und Trauer. Eine Sanitäterin ist bereits bei ihm und spritzt das Gemisch von Barbituraten und Kaliumchlorid in seine Armvene. Es wirkt schnell, seine geröteten Augen werden starr, bevor er zusammenbricht.
Der Tote ist nicht mehr mein Ehemann, den ich mehr als fünfzig Jahre kannte, nur noch seine Hülle.
Im nächsten Jahr werde ich an seiner Stelle sein.
Eigentlich hasse ich es, zu laufen. Fünf Kilometer auf Zeit erst recht.
Aber ich blieb eisern im Training und bin mit fünfundsiebzig immer noch gut in Form.
Auch dieses Jahr werde ich dabei sein, wobei mein einziges Ziel ist, unter die ersten fünfhundert zu kommen.
Ihr glaubt nicht, wie schwer das ist, wenn einem die linke Hüfte bei jedem Schritt schmerzt und das rechte Knie angeschwollen ist.
Aber egal, ich halte durch und bin eine Siegerin.
Wie seit zehn Jahren.
Meine Seite schmerzt, meine Knie können nicht mehr, allein mein eiserner Wille hält mich aufrecht.
Ich laufe, setze eisern einen Fuß vor den anderen und sehe weder zurück noch auf die, die vor mir sind.
Ich habe keine Ahnung, ob es diesmal reichen wird.
Der Läufer vor mir ist meine Marke. Wenn ich es schaffe, ihn zu überrunden, habe ich einen Konkurrenten weniger. Hinter mir keucht eine Frau so laut, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Ab und zu ist das der Fall, denn einige Teilnehmer überschätzen ihre Fähigkeiten, bekommen einen Schwächeanfall oder werden ohnmächtig.
Nichts, was mir passieren wird, denn ich bin stark und werde es bis ins Ziel schaffen.
Der Mann vor mir wankt, ein Apfel hat ihn getroffen. Es ist ihnen zwar verboten, nach den Läufern zu werfen, aber für die Jugendlichen ist es Mutprobe und Spaß zugleich, es dennoch zu versuchen und auf diese Weise einen von uns aus dem Rennen zu kicken.
Ich nutze die Chance und ziehe an meinem Vorläufer vorbei. Blut rinnt ihm über das Kinn, seine Nase ist abgeknickt, aber er hat sich bereits wieder gefangen und läuft weiter.
Als der nächste Apfel meine Schulter trifft, denke ich kurz, es wäre etwas gebrochen. Zum Glück ist es ist nur der Schreck und der dumpfe Schmerz, der mich kurz langsamer werden lässt.
Einen Fuß vor denn anderen, immer weiter. Nicht aufgeben, laufen.
Als wir abstimmten, den Altersmarathon und die Überprüfung der 'geistigen Reife' einzuführen, war ich dreißig Jahre und es klang alles so überzeugend.
„Wir müssen an die Zukunft unserer Kinder denken. Natürlich sind die Renten für uns alle sicher und jeder, der was anderes sagt, lügt! Aber wir müssen vernünftig sein. Es wird Prüfungen geben, die jeder mit etwas guten Willen leicht bestehen kann und wenn nicht, wird niemand leiden müssen.“
All diese Sprüche hatte ich so oft gehört, dass sie bis heute wie in mein Gehirn eingebrannt sind.
Auch ich hatte, wie so viele, dafür gestimmt, eine faire, gerechte Auswahl zu treffen.
Wir konnten uns keine debilen, sabbernden, undankbaren und lebensmüden Alten leisten, mussten eine Lösung für unsere negative Alterspyramide finden und es klang so einfach. Ab fünfundsechzig musste jeder von uns mit einfachen, leicht zu bewältigenden Tests nachweisen, dass er ein Anrecht auf eine Rente und Krankenversorgung hatte und nicht nur ein überflüssiger Kostenfaktor war und besser von seinem traurigen Zustand erlöst wurde.
Nur hatte uns niemand gesagt, dass das Niveau der Prüfungen den Zahlen der 'Auszusortierenden' angepasst werden musste.
Wobei die Matheprüfungen und Logiktests nie eine Schwierigkeit für mich darstellten. Gleichungen mit zwei Unbekannten mögen für andere unlösbar sein, nicht für mich. Zur Not könnte ich sogar eine Vektorrechnung und eine Integralrechnung schaffen. Das würde mich nicht umbringen.
Die Marathonläufe finden im Gegensatz zu den anderen Prüfungen in der Öffentlichkeit statt und sind über die Jahre zu wahren Volksfesten geworden. Nicht, dass ich vor meinem fünfundsechzigsten Geburtstag zu Unterhaltungszwecken daran teilnahm, ich besuchte sie, weil es wichtig war, zu wissen, was mich dort erwartete.
Dort sehe ich das Ziel! Endlich! Ein gelbes Schild. Ich habe keine Ahnung, welchen Rang ich habe, aber der Blick auf das nahe Ende lässt mich noch einmal schneller werden. Der Mann mit der gebrochenen Nase ist jetzt direkt hinter mir und ich weiß, dass er mich nicht überholen darf.
Im Ziel höre ich den jungen Mann, der mir gleich meine neue Ohrmarke mit dem Lebensberechtigungschip verpassen wird, laut rufen: „Nummer fünfhundert! Ab jetzt ist Schluss.“
Ich habe es unter die ersten fünfhundert geschafft! Ein weiteres Jahr für mich.
Hinter mir beginnt das leise Wehklagen und Jammern der Teilnehmer, die die Anforderung der körperlichen Tüchtigkeitsprüfung nicht erfüllt haben. Was nun folgt, geht schnell, denn die Sanitäter stehen bereit und sind gut geschult. Niemand soll unnötig leiden, ist die Devise.
Ich mache den Fehler und sehe zurück. Der Mann auf Platz fünfhunderteins blickt mich mit seinen ehemals wunderschönen blauen Augen an. Ich sehe keinen Vorwurf und keinen Hass in ihnen, nur Resignation, Erschöpfung und Trauer. Eine Sanitäterin ist bereits bei ihm und spritzt das Gemisch von Barbituraten und Kaliumchlorid in seine Armvene. Es wirkt schnell, seine geröteten Augen werden starr, bevor er zusammenbricht.
Der Tote ist nicht mehr mein Ehemann, den ich mehr als fünfzig Jahre kannte, nur noch seine Hülle.
Im nächsten Jahr werde ich an seiner Stelle sein.