Die zwölf Jesusse zu Haselünne

Hagen

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Die zwölf Jesusse zu Haselünne
Als die Wunderbare Ulrike mit mir kürzlich an unserer ScheinBAR saßen und einen von mir kreierten Cocktail, den Holy Gral of Atimathäa, genossen, bemerkte sie, nachdem sie das Glas nach dem ersten Schluck abgesetzt hatte:
“Wunderbar, dieser Cocktail! - Zudem erinnert mich dieser bizarre Name an eine Geschichte aus Haselünne!“
“Erzähl’ mir bitte“, meinte ich. “An guten Geschichten bin ich immer interessiert. Dabei ist es mir egal ob sie stimmt oder nicht.“
“Diese Geschichte ist aber wahr! Die Annalen Haselünnes beweisen es!“
“So erzähl bitte von Anfang an.“
Die Wunderbare Ulrike nahm noch einen Schluck Holy Gral of Atimathäa und begann mir die wahre Geschichte zu erzählen:
“Es begab sich eines Tages, dass im >Gasthaus zum grünen Jäger< zu Haselünne ein junger Mann einkehrte und den Wirt um ein Quartier für die Nacht bat. Der Wirt merkte auf, taxierte den jungen Mann und fragte:
"Bett oder Heu?"
"Im Heu, Herr Wirt", antwortete der junge Mann.
"So so, im Heu! - Sind's ein Handwerksbursche?"
"Ja, Herr Wirt, ich bin ein Handwerksbursche auf der Walz."
"So so, auf der Walz. - Was sind's denn für ein Handwerksbursche? Wie heißen's denn, Herr Handwerksbursche?"
"Ich bin Maler, Herr Wirt und ich heiße Georg."
"So so, Maler sind's, - Georg! Dann hab' ich eine Arbeit für Sie! Gestern sind Tische und Gestühl von der Brauerei gekommen. Die können's anstreichen."
"Ich bin ein anderer Maler, Herr Wirt." Der junge Mann legte sein Bündel auf den Tisch, öffnete es und zog einige Pinsel heraus, große und kleine, Kohlestifte sowie ein Fläschchen mit Terpentin.
"Sind's Schriftenmaler? Einen solchen brauch ich auch. Schreiben's draußen meinen Namen aufs Haus und >Zum grünen Jäger<! Oder sind's zu stolz dazu?"
"Für eine ehrliche Arbeit bin ich nie zu stolz. - Freilich nehme ich die Arbeit gerne an! Ich dank' halt schön, Herr Wirt.“
Die Wirtin brachte daraufhin dünn geschnittenes Rindfleisch in Essig und Öl, mit vielen Zwiebelscheiben. Neugierig schaute sie den fremden Maler an, und der junge Maler blickte ihr lange nach. Schön war sie, die Wirtin, gewandet in langem Kleide, welches sie derart raffte, dass wohlgeformte Beine sichtbar wurden, als sie ihm statt des vorjährigen schlechten Mostes ein großes Glas des guten Bremer Bieres kredenzte.
"Prost", sprach sie, "es soll euch wohl bekommen!"
Zurück in die Küche ging sie mit wogendem Busen und wiegenden Hüften.
Georg blieb in Haselünne.
In den nächsten Tagen schliff und grundierte Georg, anschließend strich er Kübel voll Farbe über Stühle und Tische, Theke und Gebälk in der Gaststube, über Zäune und Latten im Garten. Alles strich er dreimal, damit er länger bleiben und die Frau Wirtin länger betrachten konnte. Die indes schnürte ihr Mieder derart, dass ihr Busen weiß und prall aus dem Dekolleté ihres Kleides hervorquoll. Georg verstand es wunderbar, dem Herrn Wirt einzureden, dass alles im Wirtshaus ‘Zum grünen Jäger‘ mit grüner Farbe zu verschönern sei. - Bald gab es im Wirtshaus keinen Flecken, der nicht neu gestrichen war, hellgrün, dunkelgrün, schattiert, brüniert und Metallteile wurden mit edler Patina versehen. Sogar die Wirtin schritt alsbald grün gewandet einher. Die Bauern staunten nicht schlecht über die Farbenpracht.
In der folgenden Zeit bekam Georg viel zu tun, die Bauern baten den Maler zu sich, viel Arbeit hatten sie für ihn:
"Geh, Maler, streich’ mir die Ofenbank, den Tisch, den Sessel, den Bilderrahmen, die Hoftür, den Giebel, den Zaun um mein Haus."
Georg logierte alsbald alle drei Tage bei einem anderen Bauern, für Speis und Trank sowie ein kleines Handgeld schmirgelte, grundierte, lasierte er und schwang seinen Pinsel. Mit Fleiß und Ausdauer kam er seinem Handwerk nach, und wenn die Bauern des Abends zum Kegelschieben gingen, arbeitete er weiter beim Schein von Kerzen und Laternen. Am liebsten hätten die Bauern die Schwanzspitzen ihrer Ochsen und Kühe farbenfroh anstreichen lassen, kübelweise kamen die Farben aus der nahen Stadt angefahren, jeder suchte seinen Nachbarn an Farbenpracht und künstlerischem Geschmack zu übertrumpfen.
Auch der Pfarrer überlegte, wie er den Maler beschäftigen könnte.
"Wissen‘s Herr Georg, der heilige Florian, der Schutzpatron der Feuerwehr, der fehlt noch in meiner Kirche. Können's mir den malen? In der Ecke neben der heiligen Barbara?"
Georg nickte verständnisvoll.
"Versteh' schon. Sie meinen den römischen Soldaten mit dem Wasserkübel in der Hand? Den kriegen‘s oder besser, ich mal die Kirche um! Alles neu und prächtig! Fürwahr, Ihr sollt die schönste Kirche im Umkreise Haselünnes bekommen."
Nun wohl, manch Fläschlein schmackhaften Bremer Bieres trank man noch den Abend, besprach die Einzelheiten und als die Sonne den Morgentau von den Gräsern küsste, überließ der Pfarrer dem Maler den Schlüssel zur Kirche. Die sonntägliche Messe wurde im Freien gelesen, und die nächste auch.
Der Pfarrer sprach davon, wie das große Volk aus der Stadt kam und Jesus zu ihnen predigte, und wie sie des Abends hungrig waren, aber Jesus und seine Jünger hatten nur fünf Brote und zwei Fische. Jesus nahm die fünf Brote und zwei Fische und sah auf gen Himmel, dankte und brach die Brote. Er gab die Brote unter sie, und sie aßen alle und wurden satt. Und die da die Brote gegessen hatten, waren ihrer fünftausend Mann.
Die Haselünner nahmen die Predigt hin wie jede andere auch, trafen alsbald im >Grünen Jäger< ein und unterhielten sich über die steigenden Preise für Rindfleisch.
Niemand durfte das Gotteshaus betreten, derweil sich Georg mit Witschequast, Kohlestift und Pinsel in ihm betätigte. Alleine wollte er sein und schaffen, nur des Pfarrers Haushälterin war es erlaubt, ihm dreimal täglich Speis und Trank herbeizutragen. Alles wurde zunächst strahlend weiß überstrichen, weiß und hell wie der Heiligenschein der Jungfrau Maria. Und dann malte Georg die Apostel, dann die Heiligen, die Seligen und zuletzt die Märtyrer. Allen diesen Himmelspersonen setzte er die Köpfe der Haselünner Bauern, bei denen er gearbeitet hatte, auf und nach zwei Wochen lieferte Georg den Schlüssel zur Kirche beim Pfarrer wieder ab.
"So, ich bin fertig!"
Sprach's, schnürte sein Bündel und schritt gar munter fürbass.
Der Pfarrer konnte es nicht lassen, umgehend die Arbeit des jungen Malers zu begutachten und sogleich die Glocken zu läuten, um alle Einwohner Haselünnes herbei zu rufen. Diese eilten auch flugs herbei. Mund und Augen rissen sie auf, als sie sich im Kirchengewölbe verewigt sahen: Der eine als heiliger Lukas, der andere als Evangelist Johannes, der dritte als Judas Thaddäus - Christophorus - Paulus – Petrus, niemand war ausgelassen, auch sich selbst hatte Georg nicht vergessen. Als heiliger Florian stand er oberhalb der Tür Wache, in Kraft und Schönheit und mit mildem Lächeln auf der Lippe.
Auch die Frauen waren in voller Schönheit vertreten, doch eine davon war wunderschön. Es war die Wirtin des >Grünen Jägers< als Madonna. Glücklich lächelnd trug sie ein Knäblein im Arm.
"Das Jesuskindlein!", stellte der Pfarrer fest und rieb sich erstaunt die Augen, als er noch einer Frau mit Kind ansichtig wurde, mit beseeltem Lächeln wiegte seine Haushälterin ein Knäblein im Arm.
"Maria Magdalena", murmelte der Pfarrer, daraufhin fiel die Frau des reichsten Bauern in Ohnmacht, war sie doch ihres Konterfeis ansichtig geworden, ebenfalls mit einem Knäblein im Arm. Schon erschütterte der nächste Schrei des Entsetzens die Kirche, es war die Magd desselben Bauern, auf ihrem Bildnis trug auch sie ein Knäblein in ihres Armes Beuge. Und so ging es fort, jede Frau, bei dessen Mann Georg gearbeitet hatte, fand sich zauberhaft gemalt wieder; - mit einem Knaben im Arm.
Der folgende Tumult in dem Gotteshaus konnte nur besänftigt werden, indem der Pfarrer den Messwein unter das Volk gab. Doch es waren nur fünf Flaschen Wein im Gotteshaus. Der Pfarrer nahm diese fünf, sah auf gen Himmel, dankte und entkorkte sie. Er gab den Wein unter sie und ließ sie trinken, um die Wogen der Verdrossenheit und des Unmuts zu glätten.
Und sie tranken alle, die Bauern, ihr Geweibe, die Knechte und Mägde, und alsbald waren sie friedlich, ließen ihre Hände über die Bäuche ihrer Frauen gleiten und liebkosten einander in inniger, liebevoller Umarmung. Da sie den Messwein getrunken hatten, waren alle wieder heiteren Gemüts. Es waren ihrer fünfhundert Haselünner Bürgerinnen und Bürger, und der Pfarrer hatte fünfhundert leere Flaschen, die er am folgenden Tage auf einer Lichtung im Haselünner Holz vergrub.
Nun, da die Haselünner Bauern von jeher stets sehr fleißig waren und nur selten dem Müßiggang frönten, konnte man sie nächsthin auf ihren Äckern bei der Arbeit antreffen. Als dann der Herbstwind die Blätter von den Bäumen fegte, fuhr man fünfzig Himten Roggen mehr ein als im Vorjahr. Ein fruchtbares Jahr, wie sich später zeigen sollte, jedoch nicht ganz so friedlich wie sonst.
Aus dem Strafregister Haselünnes geht hervor, dass der Wirt des Gasthauses am Vorabend zur Heiligen Nacht 'bruchfällig' wurde und zunächst mit zwei Thalern Strafe belegt worden war, weil er '36 königlich gewandete Herren', die Gold, Weihrauch und Edelstein mit sich führten, welche sie den Knäbleins in den Krippleins, die hiererorts weilen sollten, zu übereignen gedachten, auf das Übelste beschimpfte, der Hehlerei bezichtigte und ihnen unterstellte, 'krank im Kopfe' zu sein, weil sie den ihnen völlig unbekannten Knäbleins etwas unsinniges wie Weihrauch und Gold sowie Edelsteine, vermutlich Hehlerware, schenken wollten, bevor er sie mit Stockschlägen aus dem Orte jagte.
Nach dem Genusse einiger Krüge des vorzüglichen Bremer Bieres sah der Landvogt schließlich ein, dass kein Mensch, der 'klar bei Sinnen ist', die Beschwerlichkeit einer langen Reise auf sich nimmt, um fremden unbekannten Knäbleins Gold, solch ein unsinniges Zeug wie Weihrauch und Edelsteine darzubringen. Er reduzierte die Strafe auf einen Thaler und kehrte heim zu Weib und Kind, schließlich gab es Wichtiges zu tun, die Weihnachtsgänse mussten geschlachtet und die letzten Klaben gebacken werden. Und die Generalprobe zu dem Krippenspiel stand auch noch aus.
In den Annalen Haselünnes wurde die folgende Messe zur heiligen Nacht als 'mit Dornen versehen' bezeichnet, denn kaum dass die Glocken verklungen und die Kerzen entzündet waren, wurde nach der dicken Sophie gerufen; - zu der Zeit Hebamme in Haselünne.
Die dicke Sophie half der Wirtin des >Grünen Jägers< ein Knäblein auf die Welt zu bringen, und man legte es nach der Entbindung in das Krippelein unter dem Weihnachtsbaum, welches nach dem Krippenspiel am Nachmittag wie von Ungefähr neben das Bäumchen gestellt worden war.
Doch im Fortgang der heiligen Messe wurde die dicke Sophie erneut bemüht; - sie half auch der Frau des reichsten Bauern Haselünnes einen Knaben zu gebären. Auch diesen legte man ins Krippelein und fuhr mit der Messe fort.
Doch wenige Psalmen später, die dicke Sophie hatte sich kaum den Schweiß von der Stirn gewischt, musste sie erneut zur Tat schreiten, um auch die Magd des reichsten Bauern am Ort von einem Knäblein zu entbinden.
Zum Glück hatte der Schreiner Haselünnes, Hendrik Hobelsam, die Kirche bei Zeiten verlassen und kehrte zu dem Zeitpunkt mit drei Krippleins unter dem Arm zurück, als die dicke Sophie dem vierten Knäblein in dieser heiligen Nacht einen Klaps auf den Po verabreichte.
So ging es fort bis in den frühen Morgen; - in die vierte Krippe wurde beim ersten Hahnenschrei als dritter Knabe der Bube der Haushälterin des Pfarrers gelegt.
Die Weihnachtsmesse konnte nicht mehr gelesen werden, weil der Nachtwächter mit der Nachricht in die Kirche geeilt kam, dass die beiden Schafherden Haselünnes sowie die Ochsen und Esel ausgebrochen und in das Haselünner Holz gerannt waren. Die Hirten dieser Tiere wurden bei den Krippeleins angetroffen, wie sie den neugeborenen Knäbleins huldigten.
Obwohl die Hirten versicherten, dieses Geheiß von zwei weiß gewandeten Frauen erhalten zu haben, die sich nach einer freudigen Verkündung, welche sie allerdings nicht so recht verstanden hatten, ’in den Himmel gehoben haben’, wurden sie mit je drei Groschen Ahndung belegt. Zudem wurde ihnen bei weiterer Strafe untersagt, diese Kunde weiter in die Welt zu tragen, denn kein ehrbarer Hirte, der im Kopfe klar bei Sinnen ist, verlässt auf Anordnung einer Frau zu nächtlicher Stunde seinen Posten. Das sahen die Hirten ein und machten sich mit zerknirschter Mine auf, die entlaufenen Tiere wieder einzufangen, wobei ihnen die Männer Haselünnes behilflich waren. Bis auf einen Ochsen konnte man aller Tiere wieder habhaft werden.
Am folgenden Mittag traf man sich etwas unausgeschlafen zum Frühschoppen im >Grünen Jäger<, besprach die Ereignisse der letzten Nacht, empfand sie als nicht sonderlich erwähnenswert - Kinder werden schließlich überall geboren und hin und wieder bricht mal eine Schafherde aus, - trank köstliches Bremer Bier und verzehrte den Rinderbraten aus frischer Schlachtung, den der Wirt - weil Weihnachten war - zum halben Preis anbot.
Allmählich fühlte man sich wieder behaglich und der Pfarrer erinnerte daran, dass dereinst in einer fernen Stadt namens Bethlehem ein Knäblein geboren und in ein Kripplein gelegt worden war. Es habe ein Stern über der Stadt geleuchtet ...
„Na und?“, unterbrach der Wirt die Ausführungen des Pfarrers, „Hiererorts wurden vergangene Nacht zwölf Knäbleins geboren und in vier Krippleins gelegt. Das soll uns mal einer nachmachen!“
Alle stimmten ihm zu, nickten mit den Köpfen und waren stolz, Bürger Haselünnes zu sein, doch als der Nachtwächter von zwölf Sternen zu erzählen begann, die er während der vergangenen Nacht über Haselünne hatte leuchten gesehen, bis die Sonne die Nacht verdrängte, schalt man ihn einen Narren und verbot ihm den weiteren Genuss des die Fantasie beflügelnden Bremer Bieres.
In den Annalen Haselünnes findet sich über diesen Vorfall keine Notiz, nur das sorgsam geführte Geburtsregister gibt vage Auskunft über die Geburt von zwölf Knäbleins. Schließlich hatte man das Neujahrsfest vorzubereiten.
Was aus den zwölf Knäbleins, die während dieser schicksalhaften Nacht zum ersten mal das Licht der Welt erblickten, geworden ist, weiß niemand genau. In den Annalen Haselünnes findet sich hierüber keine Eintragung.
Gerüchten zufolge sollen die Knaben niemals einen ordentlichen Beruf ausgeübt haben, sondern nur mit ihren Kumpels rumgezogen sein und außer starken Sprüchen nichts zustande gekriegt haben. - So, das war’s, und jetzt möchte ich noch einen Holy Gral of Atimathäa! Der ist nämlich sehr lecker!“
Natürlich bereitete ich uns je einen Holy Gral of Atimathäa zu. Währenddessen fiel mir auf, dass die zwölf Knäbleins und ich irgendwie eins gemeinsam hatten: Ich pflege ab und zu nämlich auch mit meinem Kumpels rumzuziehen und starke Sprüche zu machen, zum Beispiel: Die Wunderbare Ulrike und ich lügen nie! Die Wunderbare Ulrike gestaltet nur manchmal die Wahrheit etwas interessanter ...
 



 
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