Diener des Chronos

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James Blond

Mitglied
I
Mein kleines Dasein zieht sich seit Äonen hin,
die große Ewigkeit scheint mich immens zu lieben.
Ich weiß zwar nicht genau, ob ich geboren bin,
doch holte kein Gedanke mich aus seinen Sieben.


II
Denn ich bin winzig klein und viel zu schwach für Worte,
mich teilte auch kein noch so messerscharfer Geist.
Ich kenn auf dieser Welt die allerwundersamsten Orte
und bin doch jedes Mal mit Eile durchgereist.


III
Den Drang nach Änderung gab mir die Weltentante,
sie sonnte ein besonders anhängliches Kind,
das liebend gern mit Wellen, Wolken, Regen rannte;
mein bester Spielgefährte war der heiße Wind.


IV
Ich trieb schon mehrmals um die Welt in vierzig Tagen
und ruhte tausend Jahre lang im tiefsten Eis;
man könnte mich nach fernen Wüstenorten fragen,
doch gibt es nichts, von dem ich alles weiß.


V
Und dennoch teile ich mein ganzes Erdensein
mit einer ungeahnten Zahl von Artgenossen -
weit mehr als aller Universen Sternenschein
ist hier vereint zu dieser kleinen Welt entschlossen.


VI
So leicht sind wir und geben allem sein Gewicht;
man trägt mitunter schwer daran, dies einzusehen,
und blickt der Zeit nicht gern ins offene Gesicht,
doch tilgen wir diskret das menschliche Geschehen.


VII
Jetzt habe ich ein sonderbares Heim gefunden -
die Menschenhand verfüllte mich an diesen Ort.
Der Luft beraubt und eingesperrt im Glas der Stunden
wird nun die Zeit zu meinem stillen Schicksalshort.


VIII
Ich harre dort, vertraut mit tausenden Geschwistern,
und kein Besuch, kein Abschied ändert unsre Zahl;
die Stille drückt, nur manchmal zeugt ein zartes Wispern
vom Aufbruch aus dem knapp bemessnen Wartesaal.


IX
Dann tauschen sich die beiden gleichen Kugelsphären,
was unten lag, steht unversehens über Kopf -
schon drängt es jeden, dieses Ungemach zu kehren,
in einen Strudellauf zum leeren Stundentopf.


X
Gemächlich strömt zunächst ein breiter Zug zur Mündung,
der träge Strom verquirlt sich bald zum schnellen Bach;
ganz plötzlich schieße ich aus einer Quellengründung
zum freiem Fall hinab vom hohen Kuppeldach.


XI
In einem feinen Strahl aus glitzernden Momenten
werd ich zur Zeit, zum grellsten Lebensaugenblick,
zerstäubt im Fluss der abertausend Komponenten,
erfüllt im Sturze sich mein kurzes Freiheitsglück.


XII
Ich gebe Takt, Impuls zu tausenden Äonen -
mein Atem reicht für jede neue Ewigkeit,
und während dort vielleicht noch größre Götter thronen,
bleib ich zum allerkleinsten Schicksalssprung bereit.
 
Oh ... das ist gut ... sehr sehr gut, James.
Sechshebig und in einer Zwölfer Verstaktung (vielleicht etwas üppig?) rückt Chronos der Sekundenzeiger unaufhaltsam durch unser Leben, unsere Zeit, unser Universum. Ja, er steht über allem, auch wenn er von sich selbst nicht viel Aufhebens macht.

Unbeeinflusst durch seine Geschwisterchen (toller Vergleich) strebt er durch die Enge, um sich dann immer und immer wieder im Sprühregen vom Firmament zu ergießen.
Ob er sich mit diesem Stundenglasdasein abgefunden hat?
Ob er überhaupt nachdenkt oder er einfach nur IST im Sinne von SEIN?

Komm James, trag auch noch ein paar Eulen nach Attika... ich bin gespannt.

Gelungene Aphorismen, gehobene Sprache, keine Elisionen, keine Interjektionen... einfach klar und perfekt.
Gruß vom Beislhans
 
Zuletzt bearbeitet:

James Blond

Mitglied
Vielen Dank, lieber Hans,

für deine umfassende Beachtung meines historischen Chronometers!

Der 12x12-Takter war zwar durch unsere irdischen Chronometer vorgegeben, ihn mit kindlicher Sicht auszufüllen war mir eine große Freude.

Danke für den Beifall!

Liebe Grüße
JB
 
G

Gelöschtes Mitglied 23673

Gast
I
Mein kleines Dasein zieht sich seit Äonen hin,
die große Ewigkeit scheint mich immens zu lieben.
Ich weiß zwar nicht genau, ob ich geboren bin,
doch holte kein Gedanke mich aus seinen Sieben.


II
Denn ich bin winzig klein und viel zu schwach für Worte,
mich teilte auch kein noch so messerscharfer Geist.
Ich kenn auf dieser Welt die allerwundersamsten Orte
und bin doch jedes Mal mit Eile durchgereist.


III
Den Drang nach Änderung gab mir die Weltentante,
sie sonnte ein besonders anhängliches Kind,
das liebend gern mit Wellen, Wolken, Regen rannte;
mein bester Spielgefährte war der heiße Wind.


IV
Ich trieb schon mehrmals um die Welt in vierzig Tagen
und ruhte tausend Jahre lang im tiefsten Eis;
man könnte mich nach fernen Wüstenorten fragen,
doch gibt es nichts, von dem ich alles weiß.


V
Und dennoch teile ich mein ganzes Erdensein
mit einer ungeahnten Zahl von Artgenossen -
weit mehr als aller Universen Sternenschein
ist hier vereint zu dieser kleinen Welt entschlossen.


VI
So leicht sind wir und geben allem sein Gewicht;
man trägt mitunter schwer daran, dies einzusehen,
und blickt der Zeit nicht gern ins offene Gesicht,
doch tilgen wir diskret das menschliche Geschehen.


VII
Jetzt habe ich ein sonderbares Heim gefunden -
die Menschenhand verfüllte mich an diesen Ort.
Der Luft beraubt und eingesperrt im Glas der Stunden
wird nun die Zeit zu meinem stillen Schicksalshort.


VIII
Ich harre dort, vertraut mit tausenden Geschwistern,
und kein Besuch, kein Abschied ändert unsre Zahl;
die Stille drückt, nur manchmal zeugt ein zartes Wispern
vom Aufbruch aus dem knapp bemessnen Wartesaal.


IX
Dann tauschen sich die beiden gleichen Kugelsphären,
was unten lag, steht unversehens über Kopf -
schon drängt es jeden, dieses Ungemach zu kehren,
in einen Strudellauf zum leeren Stundentopf.


X
Gemächlich strömt zunächst ein breiter Zug zur Mündung,
der träge Strom verquirlt sich bald zum schnellen Bach;
ganz plötzlich schieße ich aus einer Quellengründung
zum freiem Fall hinab vom hohen Kuppeldach.


XI
In einem feinen Strahl aus glitzernden Momenten
werd ich zur Zeit, zum grellsten Lebensaugenblick,
zerstäubt im Fluss der abertausend Komponenten,
erfüllt im Sturze sich mein kurzes Freiheitsglück.


XII
Ich gebe Takt, Impuls zu tausenden Äonen -
mein Atem reicht für jede neue Ewigkeit,
und während dort vielleicht noch größre Götter thronen,
bleib ich zum allerkleinsten Schicksalssprung bereit.


Das ist ein Brett.
Daran hast du bestimmt lange gebosselt,

und du kannst stolz drauf sein:

nach fernen Wüstenorten fragen
zu meinem stillen Schicksalshort
zum leeren Stundentopf
aus einer Quellengründung


sind große Wort/Sinnfügungen,
die noch lange in mir nachklingen werden



Ich kenn auf dieser Welt die allerwundersamsten Orte


ist eine Silbe zuviel,
da bleibe ich beim Lesen jedesmal hängen,
was ja nicht falsch sein muß,
denn sonst wird es langweilig,

und du gibst die Silbe ja zurück in diese Zeile,
wo sie fehlt:

doch gibt es nichts, von dem ich alles weiß.
 

James Blond

Mitglied
Hallo prakaduum,

danke für die eingehende Betrachtung meines Chronos!

Du liegst mit deiner Vermutung schon richtig: Dieses Gedicht ist nicht aus einem (Er)Guss entstanden, da habe ich mehrfach dran gesessen, bis das Dutzend Strophen vorlag, denn zwölf sollten es hier schon sein, auch wenn - oder gerade weil es hier um einen denkbar kurzen Augenblick geht. Und es tat gut, den Blick einmal auf die banalen Dinge zu richten und ihren Zauber zu entdecken.

Vielen Dank auch für die metrische Auswertung. Und es stimmt auch, dass ich die Unregelmäßigkeit, die ja leicht zu vermeiden gewesen wäre, aufgesucht habe, um den Versen einen zusätzlichen Reiz zu geben. Die überschießende Mannigfaltigkeit der 'allerwundersamsten Orte' wird so deutlich abgesetzt von ihrer eingeschränkten (verkürzten) Kenntnis.

Grüße
JB
 
G

Gelöschtes Mitglied 23673

Gast
War mir ein Anliegen!

Das ist zwar nicht die Art von Gedicht, das ich gerne geschreiben haben möchte, denn ich mag es lieber lieber fleischlich konkreter und nicht so philosphisch überhöht und mit mehr Herzschmerz, aber ich kann es nur anerkennen und das mache ich gerne.


Wie ich es wußte, daß du dir dabei etwas gedacht hast, aber ich bin mir nicht sicher, ob Die überschießende Mannigfaltigkeit der 'allerwundersamsten Orte'
nicht ein Müh zu fett ist.



Ich harre dort


warum nicht einfach:
ich warte dort?

Von solchen altbackenen Redewendungen gibt es einige, die du überdenken solltest, aber ich will dir das nicht kleinreden: du hast ein starkes Gedicht geschreiben!!
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ein wunderbares Gedicht, James!

Es klingt wie ein Rätselgedicht, und in gewisser Weise ist es auch eins: Die "Zeit" gibt sich als "klein", unterscheidet sich von den periodischen Kreisen der großen Weltalter. Das ist erstaunlich.

Gemächlich strömt zunächst ein breiter Zug zur Mündung,
der träge Strom verquirlt sich bald zum schnellen Bach;
ganz plötzlich schieße ich aus einer Quellengründung
zum freiem Fall hinab vom hohen Kuppeldach.
In den letzten Wochen habe ich Coleridges "Kubla Khan" auswendiggelernt. Da wurde mir das Dreieck deutlicher, in dem die Entwicklung der vulkanischen Steinschleuder-Fontäne, des "pleasure dome" und der "caves of ice" aufsteigt, mäandriert und wieder hinabstürzt. Dein "Kuppeldach" hat etwas von diesem pleasure dome, zumal dessen landschaftliche Oberfläche von dem "sacred river", dem "Alf", in trägen Mändern durchströmt wird, der dann aber in den bodenlosen "tumult" hinabfällt, aus dessen Tosen der Khan die Prophezeiungen seiner Vorfahren hört.

grusz, hansz
 

James Blond

Mitglied
Es klingt wie ein Rätselgedicht, und in gewisser Weise ist es auch eins
Stimmt, es ist angelegt wie ein Rätselgedicht. Allerdings ergibt sich seine Auflösung beim Durchlesen fast schon von selbst: Die Zusammenfassung von Mikro- und Makrokosmos in einem einzelnen Sandkörchen.

Ich harre dort

warum nicht einfach:
ich warte dort?

Von solchen altbackenen Redewendungen gibt es einige, die du überdenken solltest, aber ich will dir das nicht kleinreden: du hast ein starkes Gedicht geschreiben!!
Danke für dein Lob. Doch die "altbackenen Redewendungen" habe ich bereits zuvor überdacht und mich dafür entschieden. Für den kleinen Blick in die Ewigkeit spielen solche Überlegungen kaum eine Rolle, aber wenn ich mich hier z. B. für 'harren' entschieden habe, so ist das nicht ohne guten Grund geschehen. Es ist ja nicht allein so, dass ich den flachen Neusprech häufig verabscheue, das schöne Wort 'harren', das nur noch gelegentlich Verwendung findet (verharren, ausharren), besitzt gegenüber dem geläufigeren, neutralen 'warten' ein weitaus höheres Potential, denn wer harrt, der wartet nicht nur, der leidet und hofft auf Erlösung. Ein spannungsgeladenes Wort also.

Habt beide vielen Dank für eure anregenden Kommentare!

Grüße
JB
 
G

Gelöschtes Mitglied 23673

Gast
das Wort "warte" ist ja nun kein Beispiel für flachen Neusprech, den du mit Recht verachtest: mit "harre" verortest du dein Gedicht aber in ein vorvergangenes Jahrhundert, was ihm nicht gut tut, denn obwohl es für den kleinen Blick in die Ewigkeit kaum eine Rolle spielt, spielt es für den großen Überblick eine große Rolle: das neutrale Wort "warte" hat ein größeres Potential, weil mit ihm dein Lyrisches Ich gestärkt wird, das zwischen Jahrhunderten und Augenblick existiert
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
"harren" klingt ganz anders als "warten". Klangfarbe von Silben ist die sinnliche Substanz der Verse in einem Gedicht.
Wörter können nicht veralten, wenn sie kommunikativ eingesetzt werden. Sie werden gesprochen und gedacht, gehört und verstanden, das heißt: sie sind so alt wie die Zeit, in der sie gesprochen, gedacht, gehört und verstanden wurden. Und haben außerdem noch einen überzeitlichen Anteil von Sinn.
"warten" klingt weicher als "harten".

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 23673

Gast
"harren" klingt ganz anders als "warten". Klangfarbe von Silben ist die sinnliche Substanz der Verse in einem Gedicht.
Wörter können nicht veralten, wenn sie kommunikativ eingesetzt werden. Sie werden gesprochen und gedacht, gehört und verstanden, das heißt: sie sind so alt wie die Zeit, in der sie gesprochen, gedacht, gehört und verstanden wurden. Und haben außerdem noch einen überzeitlichen Anteil von Sinn.
"warten" klingt weicher als "harten".

grusz, hansz
"warten" klingt weicher als "harten".

löl - lustiger freudscher Tippfehler.


Aber natürlich können Worte veralten.
 

James Blond

Mitglied
Danke, prakaduum für deine Entgegnung und danke auch, Mondnein, für deine Erwiderung, der ich eigentlich nichts mehr hinzuzufügen brauche. Es spielt für mich auch keine Rolle, in welches Jahrhundert meine Gedichte - von wem auch immer - verortet werden. Ich wähle die Begriffe nach meinem Gusto und wenn ich sie (noch) verstehe, so kann ich mich in der Regel darauf verlassen, dass sie auch von anderen noch verstanden werden (können).
Vielleicht ist der 'flache Neusprech' nicht ganz der passende Begriff gewesen. Ich meinte damit, dass es viele Begriffe gibt, die im alltäglichen Normalgebrauch derart ausgewaschen wurden, dass sie ihre innere Kraft verloren haben. In dieser Reihe sehe auch das 'warten', das von 'abwarten' bis 'erwarten' ein weites Spektrum abdeckt, transitiv gebraucht sogar noch die Herstellung einer Funktionstüchtigkeit umfasst.
Mondneins Freud'scher Vertipper trifft den Kern des 'harren', es klingt eben härter und kontrastierender als das 'warten'.

Allgemein möchte ich allen an- und ab-gehenden Lyrikern empfehlen, ihre Scheu vor sog. 'altbackenen' Begriffen abzulegen und bei der Suche nach den Wurzeln der Sprache gründlich und sorgfältig vorzugehen.

Nicht der Dichter ist altbacken, der solche Begriffe benutzt, sondern der, der sie scheut. ;)

Grüße
JB
 
G

Gelöschtes Mitglied 23673

Gast
wir haben ja den gleichen Bildungshintergrund: und von dem ausgehend klingt "harren" einfach abgedroschen.
 

James Blond

Mitglied
Nein, ich kenne deinen Bildungshintergrund nicht. Und ich weiß auch nicht, ob du meinen kennst. Wenn mir das Wort an dieser Stelle missfallen hätte, dann hätte ich es auch nicht verwendet. :cool: Ich denke aber, dass es sich hier gut in den Kontext einfügt.

Und ich denke, wir sollten es dabei belassen – das Gedicht besteht aus 364 Wörtern, da braucht man sich nicht unbedingt an einem Wörtchen festzubeißen ...

Grüße
JB
 
G

Gelöschtes Mitglied 23673

Gast
Nein, ich kenne deinen Bildungshintergrund nicht. Und ich weiß auch nicht, ob du meinen kennst. Wenn mir das Wort an dieser Stelle missfallen hätte, dann hätte ich es auch nicht verwendet. :cool: Ich denke aber, dass es sich hier gut in den Kontext einfügt.

Und ich denke, wir sollten es dabei belassen – das Gedicht besteht aus 364 Wörtern, da braucht man sich nicht unbedingt an einem Wörtchen festzubeißen ...

Grüße
JB

Jetzt enttäuschst du mich aber.
Ich dachte, es würde wenigstens um 365 Worte gehen, und ja, man muß sich immer in jedes Wort verbeißen.
 



 
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