seefeldmaren
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Ich wollte dir nicht das Gefühl geben, dich nicht zu verstehen, vielmehr wollte ich genau verstehen, woher diese Ablehnung rührt.Gegenständlichkeit, Inhalt, Wille zur Wahrheit. Weisheit auch. Zudem Berührungspunkte mit dem Empfinden. Kohärenz außerdem.
Ich habe es doch in obigen Beiträgen doch schon viel eindrücklicher beschrieben.
Um ehrlich zu sein: Vor einigen Jahren erging es mir ähnlich wie dir. Meine Dichterinnenidentität wuchs aus strenger Formlehre und Technik heraus: viel Rilke, Goll, Meerbaum, Kaléko, später Celan (und viele andere). Ich las sie alle und musste auf meinem Weg durch die Literatur lernen, meinen Dialekt abzulegen und Sprache vollständig neu zu erwerben; auch, weil ich eine milde LRS hatte. In meinem Fall steckte viel Fleiß darin, fast ein asketischer Wille zur Sprache.
Als ich dann zum ersten Mal mit lyrikline und der zeitgenössischen Lyrik in Berührung kam, empfand ich zunächst nur Ablehnung.
Was ist das für ein Scheiß? Da reimt sich nichts, da gibts keine tragende Botschaft, flacher Sound und viel prätentiöses Gewäsch, das scheinbar nicht einmal mehr die Sprache selbst zu heiligen sucht. Andererseits gab es schon vereinzelte freie Gedichte in meiner Schublade, von denen ich nicht mal wusste, dass das bereits Lyrik war.
Und du hast recht: Auch unter den Zeitgenossen gibt es viel, was flach bleibt: Texte, die über die Böden kriechen, ohne sich je wie ein Kissen aufzuschütteln. Doch der Lyrikmarkt ist eben, was er ist: modern, marktorientiert, von Trends durchzogen. Die Verlage wollen Bücher verkaufen. Ich wage die kühne These, dass heute Reichweite in sozialen Medien oft wichtiger scheint als Literarizität. Und ja, nicht immer werden die größten Talente verlegt. Man ist es auch einfach nur Glück: Mit der richtigen politischen Gesinnung zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Ich halte das alles für sehr gut möglich.
Aber mein Denken wollte verstehen. Also begann ich zu suchen, nach Gründen, nach inneren Gesetzen, nach dem, was diese Sprache antreibt. Und tatsächlich fand ich Autorinnen und Autoren, von heute, die das, was ich vermisst hatte, auf ganz eigene Weise verarbeiteten. Dazu braucht es aber Offenheit, einen Willen.
Plötzlich war ich mitten in dieser neuen Welt und das Alte, das ich einst so verehrte, fehlte mir nicht mehr. Ich war getrieben, wieder neu zu lernen, nur um das Gelernte danach wieder abstreifen zu können. Denn es geht weniger um technisches Können als um formale und inhaltliche Wachheit. Den Umgang mit zeitgenössischer Lyrik muss man lernen. Im Grunde ist es wie zu fotografieren - wenn der Fotograf mit seiner Kamera wie eine Fliege ums Motiv zischt, es studiert, sich nähert und wieder entfernt. Manchmal gelingt es, in diesem Prozess autonom zu werden.
Was aber hat mir die zeitgenössische Lyrik am Ende gebracht?
Ich glaube, sie hat mich toleranter, verständnisvoller, selbstkritischer gemacht.
Die klassische Lyrik heilte mein Herz, die zeitgenössische meinen Verstand.
Erst lernte ich, Schmerz lyerisch zu vertonen, dann, ihn im Abstrakten zu begreifen.
Für mich schließt sich da ying und yang.
Ich werde für ein paar Tage weg sein!
Maren
 
				 
 
		