Dinah

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Buffy

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Dinah
© 2003 by KW <Buffy>

Ich habe eine tief verwurzelte Aversion gegen Festtage. Egal um welche Art es sich dabei auch handeln mag. An diesen Tagen denke ich besonders stark an meine Kindheit zurück. Ich hasse sie.
An Sylvester zum Beispiel. Den verbrachte ich auf der Elbe. Auf einem Bagger. Bei eisiger Kälte. Alle waren vom Grog und Punsch so zugeschüttet, das man am Neujahrsmorgen die Leiche eines Schiffsjungen aus einer der Schaufeln barg. Er fand im Dunkeln sein Bett nicht mehr.
An Ostern, wo jedes Mal mein Karnickel geschlachtet wurde. An diesen zwei Tagen machte ich eine Zwangsdiät.
An Pfingsten. Jedes mal bekam ich ein neues Kleid angezogen und durfte es nicht schmutzig machen. Was kann man als Kind spielen, wenn man keine Spielsachen hat und auf dem Land lebt. Nichts, ohne sich schmutzig zu machen.
Mein Geburtstag, an dem ich immer mit fünf Mark auf die Kirmes geschickt wurde. Allein, versteht sich.

Oder, „Ach du fröhlich, Ach du Selige“ auch so ein Desaster. Immer gab es Karpfen blau. Nur wegen dem Karpfen kam die Polizei nicht. Der wurde auch nie in die Ausnüchterungszelle gesteckt. Ich habe mich immer gefragt, warum das ganze Getue von heiler Welt und so. Warum musste man an solchen Tagen die bucklige Verwandtschaft besuchen? Das ganze Jahr ließ man kein gutes Wort an ihr und an solchen Tagen kreuzte man einfach auf. Tat vertraut, alles war wieder Friede, Freude, Eierkuchen. Versprach sich gegenseitig eine Besserung der momentanen Situation und kaum auf dem Heimweg, ging die alte, bekannte Leier von vorne los.
Wie gesagt, ich hasse Feiertage. Noch mehr hasste ich sie als Kind.

Doch es gab eine Ausnahme. Diese Ausnahme hieß Dinah und war eine alte Schäferhündin. Immer, wenn sie mich erblickte, verkroch sie sich unter dem Bett. Sie spürte genau, dass ich mit ihr spazieren gehen wollte. Normalerweise durfte ich nicht mit ihr gehen, aber an solchen Tagen, wenn der Alkohol in Strömen floss, bekam ich die Erlaubnis. Ich wusste, das Dinah ein altes Mädchen war und das Gassigehen ihr schon sehr schwer fiel. Aber wie sollte ich ohne den Hund, im Dunkeln allein, durch die Straßen laufen? Wie dem bevorstehenden Chaos, den die Erwachsenen in Kürze veranstalten würden, entgehen. Es blieb nur das Gassigehen übrig.
So ging ich mit dem Hund durch die menschenleeren Straßen. Meistens schneite es, alles war friedlich und still. Meine Fußspuren und die Hundepfoten, das Alibi von zwei einsamen Geschöpfen.
Damals machte man noch sehr viel Hausmusik. Dann blieben wir stehen und lauschten. Man roch das verbrannte Holz aus den Kaminen. Aus manchen geöffneten Fenstern duftete es nach Selbstgebackenen oder nach Gebratenem.
Dann holte ich tief Luft. Spürte die Kälte des eisigen Windes und die Wärme meines Herzens.
Aber auch Neid.
Dann wünschte ich mir, ich könnte ein Instrument spielen, oder hätte eine andere Familie.
Am allermeisten wünschte ich mir jedoch, dass die heile Welt, die, die Erwachsenen versuchten mir, einem Kind, vorzumachen, keine Lüge wäre.
Liebe Dinah, ich hoffe du hast mir verziehen.
 



 
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