dionysos

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
dionysos


singe mir ein neues lied
die welt ist verklärt und alle himmel​
freuen sich​

spiralige naniten
stürmen den tempel und den vorhang​
zerreiszen sie​

von oben an bis unten
aus ein ander stoff ist scharlach ein ander​
ist purpur​

die spiro chaeten bohren
sich in mein ohr und nähren mich ei leik​
boring things​

dryaden entflechten den
hirn dendriten kranz cosi meist​
ariadne​
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Die erste Strophe ist Zitat:

einer der "Wahnsinnszettel", Kurzbriefe, postkartenknapp,
die der in Turin zusammengebrochene (wegen "dementia praecox") Nietzsche
an seine Freunde und Cosima Wagner ("Ariadne ich liebe dich!") schickte, unterschrieben mit "der Gekreuzigte" oder "Dionysos".

"I like boring things" ist das coole Motto Andy Warhols.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Wenn es eine Todsünde ist, sein Gedicht zu erklären, dann bin ich hier in der Hölle der absoluten Ignoranz ja richtig.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
hi hansz

"singe mir ein neues lied
die welt ist verklärt und alle himmel
freuen sich"

was mich an dem späten nietzsche immer fasziniert hat, ist nicht leicht in worte zu fassen und würde eigentlich ein buch erfordern. sagen wir mal, ich fand es immer erstaunlich, dass nachdem er seinen jesus im antichristen als eine figur zu begreifen versucht hat, in der alle grenzziehungen sich aufheben, er selber eine art grenzaufhebung erfahren hat. es schert ihn plötzlich nicht mehr die rollen, figuren, narrative und geschichten, die in seinem werk ja immer vorhanden waren, durch philosophisches erklären von sich abzugrenzen. die rollenspiele nehmen die überhand und er redet nicht mehr von dyonisus, dem gekreuzigtem, buddha usw, sondern er sagt zu diesen rollen ich. alle schon bekannten narrative seiner denkgeschichte laufen am ende auf die auflösung ihrer individualität in seinem ich zu, dem, der jetzt wirklich in seiner verklärungsblase zu alldem "ich" sagt. eine irgendwie unheimlich kalkulierte art seinen verstand zu verlieren.


"
spiralige naniten
stürmen den tempel und den vorhang
zerreiszen sie

von oben an bis unten
aus ein ander stoff ist scharlach ein ander
ist purpur"


gut beobachtet, die gotteserklärung, die bei dem gekreuzigten von alleine kam, durch den zerissenen vorhang, wird hier per kalkulation, oder sagen wir durch eigeninitiative vorgenommen. es steckt wohl tatsächlich auch eine form von agression, gewalt, stürmen darin.


"
dryaden entflechten den
hirn dendriten kranz cosi meist
ariadne"

ob ihm wagner noch so wichtig war, wie die cosima? seltsame rollenzuteilung, die er da mit seinem mythos schafft, ariadne ist nicht lou von salome, die gar nicht mehr vorkommt, sonder cosima wagner. zweite frage; hätte sie diese zuschreibung auch bekommen, wäre sie nicht richards frau? ich glaube nicht ...

p.s: du arbeitest so oft mit unrhythmischen rhythmen, wie es bei extra -systolen beim herzen ist. rhythmisch auftretend und doch unrhythmisches bewirkend. die einzelnen, aufgespaltenen laute ergeben ein brüchiges klangbild, das sich dennoch flüssig liest... schon ziemlich geil ...

pps; ich habe erst vor kurzem verstanden, das mond nein auf son ja anspielen soll, oder?

l.g
patrick
 
G

Gelöschtes Mitglied 21884

Gast
Ja, Mondnein, über die Todsünde konnte ich auch nur den Kopf schütteln. Wenn ich das richtig erinnere, warst du es, der davon sprach, dass der Dichter der erste Leser seines Werkes ist. Please - seit wann darf der Leser ein Werk nicht erklären?

Dieses Gedicht ist außerordentlich schwierig, für mich nicht richtig erkennbar, ob die Wortbrüche versteckte Aussagen beinhalten, sie sogar versteckt lassen wollen, oder 'nur' klanglich wirken (Wagner geschuldet?) und hierüber zu Assoziationsketten - erinnerungsartig - führen sollen. Ich wünschte mir einen leichteren Zugang, Sprachbündelung incl.
Auf Nietzsche als Dionysus muss man erstmal kommen, Brahms war doch so ein Weinseliger. Natürlich, du spielst auf Wahnsinn und Ekstase an ...

Béla
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
"Auf Nietzsche als Dionysus muss man erstmal kommen"

dionysus ist die konstante in nietzsches werk schlechthin, am ende unterschreibt er seine briefe sogar mit diesem namen ...
 
G

Gelöschtes Mitglied 21884

Gast
Jetzt hat mich aber mein "Ironie-mus" verlassen ... ich habe es gar nicht ernst gemeint, ebenso die Weinseligkeit Brahms' (den ich als Gegenspieler Wagners anmerkte, der wiederum mit Nietzsche usw. usw.). Nicht gut abgeliefert ...

Béla
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ich gehe mal rückwärts vor, also zuerst @ bela:

Das mit dem Selbsterklärungsverbot ist ein altes Dogma in der alten Lelu. Die einzige Möglichkeit, es zu durchbrechen, war: Zu erklären, daß der scheinbare Autor in Wirklichkeit nur noch Leser sein kann, wenn er sein Werk der Außenwelt ausgeliefert hat.

Ja: An der Oberfläche "bloße" Assoziationsketten, die auch dann, wenn sie in die Tiefe führen, einen größeren Assoziationen-Raum eröffnen, ohne daß der Text einen geschlossenen Sinn umrahmt.

Aber der Titel kann dem polyphonen Gedankenspiel und der Melodien-Fuge eine Achse geben, vergleichbar dem dux-Thema, das von den comes in Tonartenverschiebung aufgegriffen wird. "Dionysos" ist eigentlich kein Weinvertreter, sondern der Gott der Bewußtseinsregungen unterhalb der Wachbewußtseinsschwelle, beim frühen Nietzsche ("Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik") sogar unterhalb der Traumebene, in der die schlafenstiefen Wahnsinnsorakel von Apollon bildhaft bewältigt, "gedeutet" werden. Die Dionysos-Apollon-Polarität ist paradoxerweise im Wagners Spätwerk, im Parsifal, besonders deutlich durchgeführt.

Oh, ich muß abbrechen, weil einiges an Hausarbeit und Einkäufen erledigt werden muß.

Später also mehr.

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
oder 'nur' klanglich wirken (Wagner geschuldet?)
in diesem Klammereinschub lugt ein schlimmes Unverständnis der Wagnerschen Polyphonie, komplexen Harmonik und Modulationstreppen hervor. Nichts bei Wagner ist "nur klanglich".

Der späte Nietzsche ist skandalös paradox. Er schimpft auf Wagner rum, macht das aber in Satzmelodien, in zu unendlichen Melodien ausufernden Syntaxwogen, also in einer Übernahme Wagnerscher Musikformulierungskunst, in plakativer Ausrufezeichendeklamatorik, mit bestürzend antimythologischen Flachheiten (b.B. über die scheinbaren Inzeste der Götter, als ob das bei den Griechen "klassischer" gewesen wäre), - es ist das Verhalten eines zurückgewiesenen Verliebten. Nietzsche ist bis zu seinem Zusammenbruch ein radikaler Wagnerianer. Kenntnisreich, aber paradox selbstwidersprüchlich.

Es ist so, wie mit dem kruden Materialismus der "ewigen Wiederkehr", ein Gedankenspiel von bestürzender Flachheit. Als Philosoph ist Nietzsche eine Katastrophe, als Sprachmusiker ist er ein extremer Wagnerianer, als Dichter einsame Spitze.

***

Ich denke noch immer über die Ich-Archetypen-Inflation des Wahnsinns nach, das ist ausgezeichnet getroffen, Patrick!

grusz, hansz
 



 
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