Doktor Brändli und das grosse Rennen gegen den wildgewordenen Suppentopf

snif

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Doktor Brändli war heute schneller wach als sonst. Ihm war, als hätte er auch pfeilschnell geträumt. Er war noch ganz ausser Atem. Es war so ein Tag, an dem man das Gefühl hatte, der untergehende Mond - nein, der abstürzende Mond - hätte der aufgehenden Sonne einen Tritt versetzt und dabei gegrummelt: „Mach vorwärts, Dicker!“
Doktor Brändli ahnte Kurioses.

Er richtete sich bewusst langsam auf, setzte sich bewusst langsam an seine Bettkante, streckte sich bewusst langsam und zog sich bewusst noch langsamer um.
„Doktor Brändli! Komm schnell!“
Doktor Brändli verdrehte die Augen.
Es war Tiger.
„Aufwachen! Komm schnell!“
„Warum schnell?“, fragte Doktor Brändli bewusst im Schneckentempo.
„Weil der Suppentopf wild geworden ist.“ Tiger wartete auf eine entrüstete Reaktion, so im Sinne von Was du nicht sagst! oder Ach, du meine liebenswerteste gute Güte! Etwas in der Art. Oder zumindest ein Na sowas. Aber nichts davon. Doktor Brändli zupfte ganz gemütlich an seinem Bart herum, schaute kurz auf und brummte: „Na und?“
„Der Suppentopf ist wild geworden. Wild. Weisst du. Ganz wild.“ Tiger wiederholte sich und wurde dabei nicht nur schneller, sondern auch lauter.
„Und jetzt?“ Doktor Brändli liess sich bewusst nicht aus der Ruhe bringen. „Der Suppentopf wird schon seine Gründe haben. Suppentöpfe sind von Natur aus wild. Manchmal vergessen sie einfach, dass sie gezähmt wurden.“
Doktor Brändli sortierte dabei weiter seinen Bart und tat so, als sei seine Bemerkung das Selbverständlichste der Welt und als wisse das jedes säugende Tigerbaby.
Tiger wusste das aber nicht und wurde barsch: „Jetzt komm einfach.“
Er packte Doktor Brändli am linken Arm, zerrte ihn aus dem Schlafzimmer, schleppte ihn die Treppe hinunter und schubste ihn nach draussen. „Dann schau doch einfach mal zu.“
Doktor Brändli bemühte sich sehr, seine Verblüffung zurückzuhalten. Denn das, was er sah, war gewiss nicht alltäglich.

Auf dem Vorplatz vor dem Haus standen nebeneinander drei weiss beschmierte Kisten. Die höchste Kiste stand in der Mitte. Auf der weissen Vorderseite war eine schwarze Nummer, eine „1“, aufgemalt. Die niedrigste Kiste stand links daneben. Sie war mit einer schwarzen „2“ versehen. Die Kiste auf der rechten Seite, deren Höhe irgendwo dazwischen lag, trug die Nummer „3“. Doktor Brändli erkannte in dem nicht sehr professionellen Gebastel trotzdem ein Siegerpodest.

Neben den Kisten stand Doktor Brändlis grosser Suppentopf. Er hatte sich eine Suppenkelle geschnappt, die er als Mikrophon benutzte. Im Halbkreis, rund um ihn herum, stand der wohl ganze Haushalt von Doktor Brändli und hörte der Ansage des Suppentopfes zu: „Und der Sieger des heutigen, heissblütig umkämpften Rennens ist ...“ Der Suppentopf legte eine Pause ein und liess seine quirligen Pupillen durch den Halbkreis wandern. „ ... ist der Einzigartigste von allen Einzigartigen, der Grösste aller Grossen, der Schnellste aller Schnellen, der Bescheidenste aller Bescheidenen, der Gebestetste aller in der Vergangenheit der Weltgeschichte je einmal Gebestetsten ...“ Seine Stimme schwoll an. „ ... Suppentopf!!!“

Der Suppentopf warf seine Hände jubelnd in die Höhe und liess dabei die Suppenkelle, sein Mikrophon, durch den Morgenhimmel fliegen - was, nebenbei gesagt, der Kelle nicht unangenehm war. Triumphierend näherte sich der Suppentopf dem selbst gebastelten Podest und tanzte freudestrahlend hinauf auf die Kiste Nummer eins. Als wäre er aus Leichtmetall.
Er verbeugte sich und legte sich eine selbstgebastelte Goldmedaille um. Er hatte aus einem gelben Schuhkarton einen Kreis herausgeschnitten und diesen an einer alten Hanfschnur befestigt. Zudem überreichte er sich selbst einen alten, verbeulten Dampfkochtopf. Als Pokal.
„Was ist eigentlich ein Gebestetster?“, fragte der Latz Doktor Brändli. Doch der zuckte nur mit den Schultern.

Inzwischen war der Suppentopf von Nummer eins hinuntergeklettert, hatte Medaille und Pokal zur Seite gelegt und fragte die Küchenuhr, wo sein Mikrophon sei. Die Küchenuhr wusste zwar wo die Kelle gelandet war, schien aber nicht willens, ihre Zeiger zu verdrehen, um die Richtung anzuzeigen. In Sachen Genauigkeit machte sie keine Kompromisse und wirkte dadurch manchmal etwas altbacken.
„Hier bin ich. Hier bin ich.“ Die Kelle rannte auf den Suppentopf zu. Es schien so, als erhoffte sie sich, noch einmal durch den Morgenhimmel zu fliegen.

Der Suppentopf griff nach der Kelle, holte tief Luft und machte mit tiefer Stimme weiter: „Auf dem zweiten Platz, nur knapp hinter dem Gebestetsten aller Gebestetsten, sozusagen nur ein Silberhaar hinter der Goldmedaille, der verdiente Gewinner der schier vergoldeten Silbermedaille, ... der Suppentopf!!!“
Wieder begannen die Festlichkeiten von vorn. Der Wurf des Mikrophons durch die Morgenluft und das siegestänzelnde Besteigen der Kiste Nummer zwei, die komischerweise niedriger war als die Kiste Nummer drei. Der Suppentopf verbeugte sich wieder und legte sich die Silbermedaille um den Hals. Diesmal war es ein grauer Schuhkarton gewesen.

Nachdem sich der Suppentopf selbst mit Handkuss vom Podest verabschiedet hatte, griff er wieder nach der mit Vorfreude herbeieilenden Kelle. Doch bevor er Luft holen konnte, meldete sich jemand anders zu Wort.
Es war der Latz: „Sag mal, du wildgewordener Suppentopf mit deinem wildgewordenen Suppenkopf. Ich weiss nicht, wer dir dein Hirn so weichgekocht hat, aber wie ist es möglich, dass du gleichzeitig Erster und Zweiter bist?“
Der Suppentopf schien mit dieser Frage gerechnet zu haben: „Das ist doch klar. Ganz einfach. Weil ich eben der Gebestetste aller Gebestetsten bin.“ Er grinste dabei und zeigte seine schneeweissen Zähne. „Und nun, zu Rang Nummer drei ...“
„Au weia. Ist das spannend. Wer ist wohl Dritter geworden?“ Tiger rieb sich nervös die Hände und war ganz aus dem Häuschen.
Der Latz kickte ihn ins Schienbein. „Das ist doch wohl klar, du Depp.“

„Auf dem dritten Rang, mit dem wertvollsten Bronze, das die Welt je gefunden hat, weniger als ein hauchdünnes Nichts hinter dem gebestetsten Zweitplatzierten seit Igor, dem zweitplatzierten Riesenfüdlisaurus beim Zähneweitspucken, ... auf dem dritten Platz, der ..., der ..., der ... Suppentopf!!!“
„Das ist ja unglaublich! Schon wieder er.“ Tiger war ganz begeistert.
Der Latz kickte ihn ins andere Schienbein.
Die Suppenkelle genoss ihren dritten Flug. Und der Suppentopf seinen dritten Auftritt. Er legte sich eine grüne Medaille um und erklärte, das Bronze seiner Medaille habe eben schon Patina angesetzt.

Der Latz konnte sich nun nicht mehr halten. Er trat aus dem Halbkreis hinaus, kippte mit dem Fuss Kiste Nummer eins und Kiste Nummer zwei um und holte zum Konter aus. „Nun sag mal, du dickbauchige Eisenbeule, wann hat das Rennen denn stattgefunden und wie viele Teilnehmer sind gestartet?“
„Wenn du nicht weisst, wann das Rennen stattgefunden hat, bist du selber schuld. Du hättest eben das Plakat lesen müssen“, erwiderte der Suppentopf.
„Ein Plakat?“ Der Latz schaute in den Halbkreis. „Hat jemand von euch jemals ein Plakat gesehen, auf dem das Rennen angekündigt war?“
Der Halbkreis schüttelte synchron den Kopf.
„Sag schon. Wo ist dein Plakat?“
„Was? Das Plakat habt ihr nicht gesehen? Oder könnt ihr eventuell nicht lesen? Oder wart ihr einfach nur zu feige, um gegen mich anzutreten? Tz.“ Der Suppentopf schnalzte ungläubig mit der Zunge.
„Sag schon. Wo ist es?“ Der Latz wurde langsam ungeduldig und hätte sich die Ärmel hochgekrempelt, wenn er welche gehabt hätte.
„Ach. Dass ihr das nicht gesehen habt. Das hängt schon über zweieinhalb lange Monate in der Küche.“
„In der Küche? Ein Plakat? Hat jemand von euch in den letzten zweieinhalb Monaten in der Küche ein Plakat entdeckt?“
Wieder schüttelte der Halbkreis synchron den Kopf.
Ausser Tiger. Er spurtete nämlich sofort in die Küche, um das Plakat zu suchen. Auch der Rest der Zuschauer wurde neugierig. Es dauerte nicht lange und der ganze Halbkreis hatte sich neu in der Küche formiert.

„Ich sehe hier nichts.“ Tiger hatte schon alles durchsucht.
„Wo nichts ist, kannst du auch nichts sehen.“ Der Latz war sich seiner Sache sicher.
„Na? Habt ihr alle Tomaten auf den Augen?“ Der Suppentopf drängte sich etwas unhöflich durch den Halbkreis, schritt in die Mitte der Küche, kletterte unter den Küchentisch, legte sich darunter auf den Rücken, streckte die rechte Hand in die Höhe und meinte vorwurfsvoll: „Hier ist es ja. Grösser, klarer und deutlicher könnte man es nicht ankündigen.“
Kaum rollte der Suppentopf zur Seite, kroch auch schon Tiger unter den Küchentisch und las vor: „Das grosse Rennen! bla bla bla Datum, Zeit bla bla zehnmal um Doktor Brändlis Haus ...“
„Was? Du hängst ein Plakat unter dem Küchentisch auf?“ Der Latz trat näher und kippte den Küchentisch so um, dass der ganze Halbkreis das Plakat lesen konnte. „Du kannst doch nicht ein Plakat unter dem Küchentisch aufhängen.“
„Warum nicht? Ich dachte mir, die Küche ist ja das meist aufgesuchte Zimmer im ganzen Haus. Also suchte ich darin eine freie Fläche. Um den Anlass für alle augenscheinlich anzukündigen, habe ich ein extra grosses Plakat gestaltet. Für die Wände war es jedoch zu riesig. Die einzige Fläche, die gross genug war, war die Oberfläche des Küchentisches. Und da die obere Seite für die Mahlzeiten reserviert ist, habe ich eben die untere Seite als Plakatfläche benutzt. Ist ja wohl klar, oder?“
Der Suppentopf fischte in all den Augenpaaren, die auf ihn gerichtet waren nach Verständnis und fand es in den Tigeraugen.
„Klingt logisch.“ Tiger nickte. „Mann. Warum habe ich das Plakat nicht gesehen. Ich hätte bestimmt gewonnen.“
„Apropos gewonnen ...“ Der Suppentopf fuhr fort. „Doktor Brändli, könntest du meiner Wenigkeit noch die Siegesprämie überreichen?“
„Was für eine Siegesprämie?“, fragte Doktor Brändli.
„Steht auf dem Plakat“, antwortete der Suppentopf.
Tiger bückte sich und las vor: „Hier:

1. Platz: Eine Flugreise an einen exotischen Ort
2. Platz: Ein Swimmingpool, ganz alleine für den Gewinner
3. Platz: Eine luxeriöse Wellnessmassage“

„Boah. Und das hast du alles gewonnen. Gratuliere.“ Tiger streckte die rechte Hand dem Suppentopf entgegen.
„Auch ich gratuliere dir, mein lieber Suppentopf.“ Der Latz klopfte dem Suppentopf auf seine stählerne Schulter. „Doktor Brändli, würde es dir etwas ausmachen, wenn ich die Preise überreiche?“
Doktor Brändli war verwirrt und zugleich entzückt. „Äh. Mach nur. Wenn du das gerne übernehmen möchtest.“
„Vielen Dank.“ Der Latz griff nach der Suppenkelle. „Meine verehrten Damen, Herren, Tiere, Bestien, Gegenstände und Lebensmittel. Wir kommen nun zur Preisverleihung an den Gebestetsten aller Gebestetsten. An den siegreichen Sieger, der alle drei Preise mehr als redlich verdient hat.“
Der Latz legte den Arm um die Schulter des etwas unsicheren, verlegenen und auch verblüfften Suppentopfes und liess den Griff nicht los.
„Hier der erste Preis: Eine Flugreise an einen exotischen Ort!“
Kaum hatte er den Preis angekündigt, drehte sich der Latz blitzschnell um und kickte mit grosser Wucht gegen den Suppentopf, so dass dieser in die nächste Ecke der Küche flog.
Er landete mitten in der Etagère mit den Früchten.
„Welch eine Flugbahn an einen exotisch-fruchtigen Ort“, fuhr der Latz fort. „Wie der grossartige Gewinner es doch geniesst, zwischen all diesen Mangos, Passionsfrüchten und Bananen ...“
Der Suppentopf war noch etwas benommen und befreite sich von den Tropenfrüchten, als der Latz herbeieilte und ihn erneut am Griff festhielt.
„Der zweite Preis: Ein exklusiver Swimmingpool, ganz alleine für unseren Ausnahmesportler.“
Der Latz trug den Suppentopf zum Abwaschbecken, drehte den Wasserhahn voll auf und badete den Suppentopf im Abwaschtrog. Der Suppentopf japste und rang nach Luft.
„Welch ein Luxus. Ein Swimmingpool aus purem Chromstahl. Tagtäglich reserviert für unseren Meister der Geschwindigkeiten.“
Tiger war entsetzt. Behandelte man so einen Helden?
Der Latz trat einen Schritt vom Becken zurück. „Und jetzt, du selbsternannter Olympiake. Komm raus. Dann kriegst du noch als Drittes deine luxeriöse Wellnessmassage!“ Der Latz ballte seine Fäuste und ging in Kampf-Massage-Stellung.
„Das reicht. Das reicht.“ Doktor Brändli stellte sich zwischen die beiden. „Du bist nicht gerade hilfreich, Herr Latz.“
„Aber so einer ist doch ein Scharlatan, ein Schelm, ein schlüpfriger, schlampiger Schaumschläger!“ Der Latz gab sich zornig, fand aber seine Stabreime ganz schön gelungen.
Doktor Brändli beschwichtigte: „Also, mir hat diese Idee des Suppentopfes ganz gut gefallen. Das war ausgefallen, das war witzig und unterhaltsam. Natürlich auch etwas selbstherrlich, aber was soll's.“
„Aber wir hatten doch gar keine Chance, an diesem Rennen teilzunehmen“, konterte der Latz.
„Dann startet doch eine Revanche.“ Doktor Brändli zwinkerte mit dem linken Auge.
Der Latz hellte auf. „Geennnaaauuu. Eine Revanche. Wo ist Papier und Bleistift. Wir gestalten ein Plakat. Heute Abend findet nochmals ein grosses Rennen statt.“
Alle jubelten und machten sich an die Arbeit.

Das Plakat verwandelte sich nach und nach in ein buntes Kunstwerk. Der Latz textete und legte die Eckdaten des Rennens klar fest. Als Titel wählte er Das grosse Rennen gegen den wildgewordenen Suppentopf.
Tiger malte sich selbst. Mit elf Beinen, wie der Latz meinte. Tiger erklärte ihm jedoch, dass das dritte Bein sein Schwanz sei und die anderen acht seine Tasthaare.
Der Kühlschrank verewigte sich im Superman-Kostüm.
Der Sitzsack malte nur einen schwarzen Strich. Er erklärte, er sei so schnell, das könne man gar nicht zeichnen.
Das fertige Plakat wurde aufgehängt. Natürlich auf der Unterfläche des Küchentisches. Ein Teilnehmer nach dem anderen rollte unter den Tisch, um sich zu informieren und um sich in der Teilnehmerliste einzutragen.
Der letzte, der sich eintrug, war der Suppentopf selbst. Er wirkte etwas geduckt.

„Auf die Plätze. Fertig. Uuuuund ... Los!“ Punkt achtzehn Uhr liess Doktor Brändli einen Korken knallen. Als Startschuss.
Der Sitzsack startete schon bei Fertig. Aber das kümmerte niemanden. Bereits nach zwei Sekunden musste er die Führung an Tiger abgeben und auch das weitere Feld überrollte ihn nach und nach. Das Schlusslicht bildete der Suppentopf. Er schien von den Ereignissen des Tages etwas ausgepumpt.

Das Rennen war nicht spannend. Tiger gewann haushoch. Mit zwei Runden Vorsprung. Zweiter wurde Tigers linker Rollschuh. Der dritte Rang ging an eine Blattlaus. Der Rollschinken (Rang 327) behauptete, die Blattlaus sei bestimmt gedopt. Dabei hatte sie sich einfach nur an den linken Rollschuh gekrallt und sich ins Ziel schleppen lassen.
Die Bratwurst schnappte sich die Suppenkelle und interviewte Tiger. Die Wurst fragte Tiger, ob Doping bei ihm ein Thema sei. Tiger meinte, ohne tägliches, intensives Doping gehe bei ihm gar nichts. Er meinte eigentlich Training. Fremdsprachen waren eben auch nicht seine Stärke.

Der Latz - natürlich Organisator, nicht Teilnehmer - hatte die Siegerehrung vorbereitet. Er schnappte sich von der Bratwurst die Suppenkelle und rief: „Alle mal herhören. Alle mal herhören. Wir kommen zur Siegerehrung. Auf dem ersten Platz, hochverdient und überlegen, wenn auch etwas dämlich, ... ist ... Tiger!“
Bevor alle in Jubel ausbrechen konnten, erklang eine Stimme aus den hinteren Reihen: „Einspruch! Meine Herren. Einspruch!“
Durch die Reihen nach vorne drängte sich wieder der Suppentopf. „Tiger hat nicht gewonnen. Einspruch.“
„Ach so. Der Herr mit dem eisernen Hirn kann nicht verlieren. Ach so.“ Der Latz spottete. „Natürlich hat Tiger gewonnen. Haushoch sogar“, doppelte er nach.
„Ne, ne, ne. Haushoch verloren ha er, mein lieber Herr Latz. Oder kannst du nicht lesen?“
„Was lesen ...“ Der Latz war verdutzt.
„Das Plakat natürlich. Du hast das Plakat nicht gelesen“, doppelte der Suppentopf nach und überreichte dem Latz das Plakat, das er vom Küchentisch sorgfältig entfernt und zusammengerollt hatte. „Lies. Unten links.“
Der Latz las. Unten links.
Dort stand etwas geschrieben, in kleiner, krakliger Schrift. Der Latz las laut vor: „Gewonnen hat, wer als Letzter ins Ziel kommt.“
Der Suppentopf hatte das hingeschmiert, als er sich als Letzter in die Teilnehmerliste eintrug. Er schnappte sich die Suppenkelle und erklärte schwungvoll: „Und das, meine verirrten und verwirrten dämlichen Herren und herrlichen Damen, heisst nichts anderes, als dass der Sieger dieses bombastischen Bombenrennens niemand anderes ist, als der von allen gefürchtete, von allen von jeder einzelnen seiner facettenreichen Seiten her bewunderte, von sämtlichen aller Sieger der Gesiegteste ... Suppentopf!“

Die Welt war auf den Kopf gestellt. Der Suppentopf feierte und der Latz kochte.
Der Latz drehte sich zu Doktor Brändli um, als verkünde dieser in Kürze das Urteil, das festlege, mit wie vielen Jahren Knast der Suppentopf bestraft werden sollte. Doch Richter Brändli sah ihn nur an, zuckte noch einmal mit den Schultern und lachte dann so herzhaft, dass auch der kochende Latz Dampf abliess.
Und mitlachte.

Der Latz holte aus dem Vorratsschrank der Küche eine runde Reiswaffel, stach mit einem Küchenmesser ein Loch hinein, holte ein breites Geschenkbank, fädelte ein und machte einen Knopf in die Schlaufe.
Er sammelte die Suppenkelle ein und rief: „Wir kommen nun zur Siegerehrung. Gold, Silber und Bronze hat er bereits gewonnen. Die Begehrteste aller begehrten Auszeichnungen soll ihm jetzt auch noch verliehen werden: Die Reiswaffelmedaille!“ Der Latz winkte den Suppentopf herbei. „Hier. Die hast du dir verdient. Du bist zwar nicht der grösste Sportler des Tages. Aber der grösste Spinner des Tages bist du alleweil.“
Der Suppentopf neigte sichtlich gerührt sein schweres Haupt und der Latz hängte ihm die Waffel um.
„Applaus für den furchtbaren Suppentopf“, rief der Latz nochmals.
Der Suppentopf riss seine Hände in die Höhe und liess sich feiern. Den ganzen Abend.

Während des Festes wollte jeder natürlich die Reiswaffelmedaille beäugen.
Tiger auch.
„Ist die echt?“, fragte er. „Aus echter Reiswaffel?“
„Natürlich ist die echt“, erwiderte der Suppentopf stolz.
„Darf ich mal schauen?“, fragte Tiger.
„Natürlich darfst du“, erwiderte der Suppentopf.
„Okay.“ Tiger nahm die Reiswaffel und biss hinein. Er hatte beobachtet, wie siegreiche Sportler dasselbe mit der Goldenen tun.
„Tiger hat meine Medaille gefressen!“ Der Suppentopf war ausser sich.
Tiger blickte verwirrt um sich. In der linken Pfote hielt er die angebissene Waffel. Er kaute noch.
Doktor Brändli legte den linken Arm um den Suppentopf, den rechten um Tiger: „Ach. Was soll's. Das ist doch kein Problem. Ich gehe und mache ein paar Neue.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf und verschwand in der Küche.

Es war ein Sonntagabend zum Anbeissen. Plakate wurden kreiert und versteckt. Reiswaffelmedaillen wurden gebastelt und verspiesen. Podeste wurden bestiegen und an den strahlenden Gesichtern gemessen, war wohl jeder ein Sieger.
Als die Suppenkelle ein letztes Mal begleitet vom silbernen Scheinwerferlicht des ausgelassenen Mondes durch den Nachthimmel schwebte, verabschiedete sich Doktor Brändli von allen und ging schlafen - um Kräfte für die nächste Woche zu sammeln.
 



 
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