Dornröschens Erwachen - aus der Sicht der Betroffenen (Pantun)

Schreibfan

Mitglied
Dornröschens Erwachen - aus der Sicht der Betroffenen

Dem harten Schicksal - sie entflieht ihm nur durch Schlafen.
Die Dornenhecke zieht sich um sie fest.
Gestorben sind fast alle, die sie jemals trafen.
In tiefer Ohnmacht liegt der ganze Rest.

Die Dornenhecke zieht sich um sie fest.
Sie ist in ihrer Jugend grausam eingefroren.
In tiefer Ohnmacht liegt der ganze Rest.
Die Welt hat sie verlegt - so galt sie sie als verloren.

Sie ist in ihrer Jugend grausam eingefroren.
Ein Kuss wirft sie dem Leben wieder hin.
Die Welt hat sie verlegt - so galt sie als verloren.
Nun sieht sie im Erwachen keinen Sinn.

Ein Kuss wirft sie dem Leben wieder hin.
Die Zeit, die sie verstanden hat, ist längst vergangen.
Nun sieht sie im Erwachen keinen Sinn.
Ein fremder Mann begrapscht sie ständig an den Wangen

Die Zeit, die sie verstanden hat, ist längst vergangen.
Alleine gehen kann sie keinen Schritt.
Ein fremder Mann begrapscht sie ständig an den Wangen.
Wo sie auch ist - die Angst kommt immer mit.

Alleine gehen kann sie keinen Schritt.
Gestorben sind fast alle, die sie jemals trafen.
Wo sie auch ist - die Angst kommt immer mit.
Dem harten Schicksal- sie entflieht ihm nur durch Schlafen.

Hannah May im August 2022
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Schreibfan,
bzw. liebe Hannah,

jetzt bin ich mal gemein: Ich denke, man muss ein Prinzessinenmärchen nicht mit neuzeitlich emanzipatorischen Floskeln übertünchen.
So, wie ich die Sache sehe, hat sie außer Schloß und Hofstaat eh nie was mitbekommen - sie hat also nix verpasst, denn die wachten ja alle mit ihr auf.
Dass sie allein hätte irgendwohin gehen wollen, wage ich gleichfalls zu bezweifeln - das hätte ihr wohl eher Angst gemacht.
Dann war es ihre Bestimmung, irgendwann von irgendwem begrapscht zu werden. Das mag man nicht schön finden, aber Dornröschen im Nachhinein MeToo gerecht hinzubiegen, finde ich nicht besonders originell.
Was mich daran wirklich stört, ist der Versuch der Veränderung der Vergangenheit.
Man kann Dornröschen doof finden und darf sie ignorieren - aber lass sie bitte in Würde sterben.

Liebe Grüße
Petra
 

Schreibfan

Mitglied
Hallo Petra.
Danke fürs kommentieren, schön, dass dieses Gedicht nun nicht einfach so untergeht.
Schade natürlich, dass dir das Gedicht nicht so gefallen hat, aber du schneidest eine interessante Frage an:
Haben sich Menschen mit den Gegebenheiten ihrer Zeit wohl gefühlt, nur weil sie nichts anderes kannten?
Ich kann mir nicht so richtig vorstellen, dass es in Dornröschens Zeit schoen war, eine Frau zu sein. Ich finde sie auch nicht doof, bedauere aber ihr Schicksal. 100 Jahre konnte sie sich nicht weiter entwickeln... nun ist sie, mehr noch als andere weiblich gelesenen Personen ihrer Zeit auf ihren Gatten - den sie nicht mal wirklich kennt - angewiesen...

LG Schreibfan
 

petrasmiles

Mitglied
Haben sich Menschen mit den Gegebenheiten ihrer Zeit wohl gefühlt, nur weil sie nichts anderes kannten?
Ganz ehrlich: Ich finde diese Frage müßig - nicht nur, weil es sich um eine Märchenfigur handelt. Dein 'nur' führt in die Irre. Der Mensch ist die Summe seiner Geburtsfaktoren und seiner Erfahrungen. Das ist es, was er IST. Dadurch wird diese Frage nicht nur zu einer akademischen, sie nimmt sogar der Figur ihre Individualität und damit die Würde ihres Seins.
Ich kann mir nicht so richtig vorstellen, dass es in Dornröschens Zeit schoen war, eine Frau zu sein.
Du brauchst gar nicht so weit in die Ferne oder Vergangenheit zu gehen. Wenn Du Dich mal mit der Rolle der Frau in manchen muslimischen Ländern befasst, wirst Du sehen, dass die meisten im Einklang mit ihrem Schicksal sind, weil der Mann für sie sorgen muss. Das wird gerne vergessen bei der Fokussierung darauf, dass er über sie bestimmen darf. So darf man sich das auch bei Dornröschen vorstellen - und so ist es doch in jedem Leben: Man hat seine Licht- und Schattenseiten.
Solche Überlegungen sind sicher wichtig zur eigenen Standortbestimmung, aber sie dürfen nicht dazu führen, das Fremde und einem nicht Genehme herabzuwürdigen. Sich weiter entwickeln zu wollen, ist ein moderner Anspruch an das Leben.
Ich glaube, am Ende des Tages sind alle Menschen froh, überhaupt am Leben zu sein.

LG Petra
 

Schreibfan

Mitglied
Da stimme ich dir nicht zu, liebe Petra. Wären alle Menschen einfach nur froh am Leben zu sein, hätte es nie Menschen gegeben, die sich für eine - aus ihrer Sicht bessere - Nachwelt einsetzen. So ist ja auch die Frauenbewegung entstanden Natürlich ist Dornröschen ein Märchen. Aber eins, das ein sehr deutliches Frauenbild zeichnet. Währen nicht einige Frauen mit genau diesem Bild unzufrieden gewesen, hätte es nicht (nur etwa ein Jahrhundert nach Veröffentlichung dieses Märchens durch Jacob und Wilhelm Grimm) z.B. die Suffragetten gegeben...

LG Schreibfan
 

petrasmiles

Mitglied
Wären alle Menschen einfach nur froh am Leben zu sein, hätte es nie Menschen gegeben, die sich für eine - aus ihrer Sicht bessere - Nachwelt einsetzen.
Doch, ich glaube, genau so ist das!
Was Dein Ansatz übersieht: Es sind diejenigen, die es sich leisten können, die Veränderungen in Gang setzen. Auch die Suffragetten emtstammten nicht den arbeitenden Klassen. Ich sage ja gar nicht, dass das schlecht ist, dass sie das tun. Aber sie bringen ihren Veränderungswillen nicht immer im Einklang mit dem Bedürfnis der 'Geretteten' in Einklang. Man darf z.B. nicht verschweigen, dass die Sklavenbefreiung der Nordstaaten im Bürgerkrieg die in die Nordstaaten geflüchteten Schwarzen erst einmal ins nächste Elend gestürzt haben, weil es eben niemanden gab, der sie versorgen musste. Freiheit hat mehr als eine Seite und darum sind auch hierzulande die größten Verfechter der Freiheit diejenigen, die den größten Nutzen daraus ziehen können.
LG Petra
 

Tula

Mitglied
Hallo schreibfan
Immerhin ist die Idee inhaltlich recht originell. Tatsache ist: Mit dem Erwachen aus Vergangengeiten kommen nicht wenige Menschen überhaupt nicht klar. Die Gesellschaft schreitet schneller voran als sich manche anpassen können.

Ob der Mann, der ihre Wangen begrapscht, da als treffende Metapher dient, ist eine andere Frage. Wie dem auch sei: Augen zu, Ohren zu, weiterschlafen ... Mitunter hilft das sogar ;)

LG
Tula
 



 
Oben Unten