Dort drüben liegt Schweden

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HFleiss

Gast
Dort drüben liegt Schweden


Für Juni war es zu schwül in der Stadt. Sie entsann sich, dass es sonst immer erst im August so schwül wurde, früher, als sie die Herzsache noch nicht gehabt und man sie noch nicht mit dieser mageren Rente abgespeist hatte. Sie faltete den Prospekt, schlicht orange und mit noch schlichteren, verschwommenen Schwarzweißfotos, zusammen. Eine Fahrt könnte sie sich leisten, eine einzige. Vierzig Euro. Diesen Monat war die Bewagrate fällig: vierzig Euro. Erst schicken sie eine Mahnung, ehe sie den Strom abstellen. Aber die Ostsee wiedersehen, das lohnte sich doch, für vierzig lumpige Euro, ein paar Stunden nur, der Prospekt warb für Tagesfahrten mit dem Bus. Morgens losfahren, abends wieder am Alex, das ginge. Sofort dachte sie praktisch. Sie würde ein paar Tabletten einstecken, damit das Herz ruhig bliebe.
Doch es war riskant, ihre Rente gab die vierzig Euro eben nicht her.

Träumerisch blickte sie aus dem Fenster. Das einzige und auch letzte Mal, erinnerte sie sich, war sie als Kind an der Ostsee gewesen, im Kinderferienlager, in Binz. Sie hatten in einem Bootshaus geschlafen, am Rande der Bucht, dort, wo man bei klarem Wetter angeblich schon Schweden ausmachen konnte. Schweden hatte sie nie gesehen, immer nur hinübergeblickt, weil die anderen gesagt hatten, dort liege schon Schweden. Aber Binz, der Kindertraum, Binz mit seinem weißen Strand, den leeren Strandkörben am Morgen, den Muscheln im Sand. Sie stellte sich vor, dass sie barfuß durch die Brandung laufen würde, den weichen feuchten Sand unter den Fußsohlen, immer nur laufen, den ganzen Strand entlang, von einem Ende der Bucht bis zum anderen, so wie damals. Und die Buchenwälder, zum Schloss Granitz durch den Wald laufen und das trockene Vorjahreslaub mit dem Fuß aufwirbeln. Und immer einen Blick durch die Bäume auf die Ostsee werfen. Ein Traum, ihr ganzes Leben lang, immer wollte sie mal wieder an die Ostsee fahren. Aber es war nie was daraus geworden.

Einmal waren sie und ihre Freundin noch im Wasser herumgeschwommen, erinnerte sie sich, die Küste entlang, als die anderen Kinder schon längst wieder am Strand waren und sich abrubbelten. Das Meer war schon unruhig geworden, von Schweden her zog eine schwarze Wand, und der Gruppenleiter stand am Strand und rief ihnen zu, sie sollten aus dem Wasser kommen, es würde ein anständiges Gewitter geben. Sie hatte noch nicht gewusst, dass es gefährlich war, während eines Gewitters im Wasser zu bleiben. Sie tat, als hätte sie den Lagerleiter, der inzwischen auch an den Strand gekommen war und mit den Armen herumruderte, damit sie herauskämen, nicht begriffen, und dann schwammen sie ein Stück weiter hinaus, in die Ostsee hinein. Ein Blitz stand plötzlich am schwarzen Himmel, der erstaunlich rasch nähergekommen war, und dann fielen auch schon die ersten dicken Tropfen. Aber das machte den beiden nichts aus, sie waren doch sowieso schon nass. Erst als sie vor lauter Regen einander kaum noch erkennen konnten, entschlossen sie sich zurückzuschwimmen. Wenn sie heute daran dachte, fiel ihr das Gefühl von damals wieder ein, es war, als sei sie allein auf der Welt gewesen, plötzlich hatte sie begriffen, dass ein Mensch sehr allein sein konnte, ein Gefühl, das sie vorher niemals gehabt hatte. Und sie hatte begriffen, was die Leute meinten, wenn sie von Freiheit redeten. Noch einmal in der Ostsee schwimmen, die schwarze Wand von Schweden her kommen sehen, die Blitze, wie sie herunterzackten, ins Wasser. Und dieses Gefühl, das sie ein einziges Mal gehabt hatte, ihr ganzes Leben lang, noch einmal verspüren: frei sein. Vielleicht stand sogar das Bootshaus noch, es war solide gebaut gewesen.

Der Prospekt lag vor ihr, zusammengefaltet, ein wenig zerknickt, sie hatte sich jede Seite genau angesehen, bis sie auf die Juli-Fahrt gestoßen war, nach Binz, mit Besuch im Schloss Granitz. Vierzig Euro. Für vierzig Euro noch einmal die Ostsee sehen, diesen Geruch nach Schlick riechen, sich nach den Muscheln bücken, den Möwen zusehen, die in der Luft kreischten, und das Geräusch der auf dem nassen Sand zerfließenden Wellen hören. Ganz allein würde sie losgehen, sie würde sich niemandem anschließen, damit sie das Geschwätz der anderen nicht ertragen müsste. Einfach losziehen, mit den bloßen Füßen durch den Sand stöbern und noch einmal dieses Gefühl haben: Freiheit.

Einen Moment lang saß sie noch und betrachtete die Umschlagseite des Prospekts, erhob sich dann und warf ihn in den Mülleimer. Sie musste sich zusammennehmen. Natürlich würde sie eher die Bewag bezahlen, als eine Mahnung zu riskieren, sie ließ sich nicht gern nachsagen, dass sie eine säumige Zahlerin sei. Natürlich konnte sie sich die Fahrt nach Binz nicht leisten. Die Bewag war wichtiger. Wichtiger jedenfalls als irgend so ein Traum von Freiheit, sie war zu alt für solche Mätzchen. Und ob das Herz mitspielen würde bei dieser Klimaveränderung? Immerhin war das fraglich.

Ihre Wohnung lag in der Nähe der Spree. Zwei Möwen jagten stumm über das gegenüberliegende Dach. Doch schon beinahe wie Ostsee, dachte sie. Es war zynisch. Sie schloss die Augen. Plötzlich war es wie ein Rauschen in den Ohren, so als rauschten Wellen an einen Strand. Wie damals. Damals, als das Gewitter kam, von Schweden her.

(2006)
 

Rodolfo

Mitglied
Man muss vielleicht schon selbst ein wenig in die Jahre gekommen sein, um mit der alten Dame mitfühlen zu können. Eine einfache, anrührende Geschichte ohne dramatische Effekte, aber voll innerer Dramatik. Die Tür zu einer auch noch so kleinen Freiheit zugestellt durch die vielen Anpassungen, die man in einem langen Leben gemacht hat. Ab und zu flattert ein Mütchen auf, nur um gleich wieder mit der Fliegenklatsche der Vernunft totgeschlagen zu werden.

Mir gefällt deine Geschichte. Klare, einfache Sprache, die Tragik steht nicht zwischen, sondern hinter den Zeilen.
 
H

HFleiss

Gast
Lieber Rodolfo, ist gar nicht so einfach, dir danke zu sagen dafür, dass du was zum Text geschrieben hast. Zuerst will ich mal auf "in die Jahre gekommen sein" eingehen: Wieso muss man selbst in die Jahre gekommen sein, um einen alten Menschen zu begreifen - das begreife ich nicht. Das würde ja heißen, ein in die Jahre gekommener Mensch versteht also auch nicht den Jüngeren. Das aber, lieber Rodolfo, ist doch eine allseits als Vorurteil anerkannte Replik. Ich würde sogar behaupten, ein Älterer versteht den Jüngeren besser als dieser sich selbst. Und dann: Ich muss ja annehmen, du selbst, der du sicher jünger bist als ich, hast dir viel Mühe geben müssen, um überhaupt zu verstehen, worum es hier geht. Würde das dann nicht auch heißen, in der LL haben nur Leute bis sagen wir 30 zu schreiben? Meiner Erfahrung nach hat Jungsein sehr wenig mit den gelebten Jahren zu tun. Ich finde manchmal in der LL Texte, da frage ich mich, wann bei den Autoren der Zeitpunkt eingetreten war, an dem sie aufgaben und jetzt nur noch wiederholen - bis es ans Ende geht, ratata. Da ich mich selbst Gott sei Dank nicht mehr zu den Jüngeren zählen muss, habe ich mir auch vorgenommen, soweit es die Stoffe hergeben, Geschichten zu schreiben, deren Helden aus den Windeln heraus sind, und ich glaube, das ist nicht das schlechteste Anliegen. Seit meine Haare zu ergrauen anfingen, habe ich auch vermehrt mit Grauköpfen zu tun, habe ich eines Tages erstaunt festgestellt. Aber in einem hast du voll recht: Die Anpassungen haben das Leben meiner Heldin verbogen, das wollte ich auch darstellen. Und nun frage ich mal dich als Jüngeren, wie oft du dich schon hast verbiegen müssen? Und glaub mir, die Gelegenheiten summieren sich. Trotzdem, ich bin immer wieder entsetzt, wenn ich das bei Menschen (eben nicht nur Alten) feststelle, obwohl ich natürlich weiß, wie das funktioniert. Ach, wäre es schön, wenn wir alle so rein und ätherisch unverbogen blieben wie in dem Moment unserer Geburt. Nur wären wir dann keine Menschen, sondern Monster.

Das meint
Hanna
 
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Thalionmacilwen

Gast
Ich kann nur sagen: Schöne Geschichte ! *schnief*
 
T

Thalionmacilwen

Gast
Ich find die Geschichte ein bisschen traurig, weil die Frau sich ja nicht ihren Wunsch erfüllt oder erfüllen kann.
Also kein Happyend, aber trotzdem und gerade deswegen so toll.

lg
 
H

HFleiss

Gast
Überschlag dich nicht mit der Loberei, sonst werde ich eitel. Ich bin nämlich die Erfinderin der traurigen Schlüsse und düsteren Gedichte, ein bisschen Kassandra und ein bisschen Mephisto und ein bisschen die Dame aus Alzheim.

Gruß
Hanna
 



 
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