black sparrow
Mitglied
Dr. Caligari
Albert erwachte mit trockenem Mund aus einem Traum vom Krieg.
Anders als die meisten seiner Altersgenossen litt er nicht an Albträumen.
Er erinnerte sich gerne an diese Zeit.
Kurz nach Ausbruch des Krieges hatte er sich freiwillig zur Marine gemeldet, weil er der Meinung war, zu diesem frühen Zeitpunkt noch einen einigermaßen sicheren Platz zu finden, und wurde Koch auf einem Versorgungsschiff in der Ägäis. Alles, was er während dieser Zeit tat, war kochen, braun werden und Lebensmittel mit der griechischen Bevölkerung tauschen. Sein einziger Feindkontakt hatte darin bestanden, dass sich die Mannschaft den Alliierten ergab und Angst hatte er nur gespürt, wenn er auf dem Weg in den Heimaturlaub Jugoslawien durchquerte, wo Partisanen täglich Anschläge auf Truppentransporte durchführten.
Im Grunde hatte ihm seine Intuition nur ein großes Abenteuer beschert, in dem die meisten seiner Freunde umgekommen waren.
Beunruhigend waren nicht die Träume, sondern das Erwachen, wenn ihm täglich aufs Neue bewusst wurde, dass er alt war, denn in seinen Träumen blieb er jung.
Diesmal fühlte er sich noch unbehaglicher als sonst, denn er stellte fest, dass er nicht zu Hause war. Schon mit geschlossenen Augen hatte er bemerkt, dass die Matratze seltsam dreigeteilt war, und das Bett war zu klein, kein Doppelbett, auf dem er sonst erwachte.
Es fehlte auch die einen spaltbreit geöffnete Schlafzimmer-
tür, durch die immer ein wenig Licht ins Zimmer fiel, weil Thea ohne Licht nicht schlafen konnte und im Flur immer eine Lampe brennen ließ.
Hier aber fiel das Licht durch ein Fenster am Kopfende seines Bettes in den Raum. Er erkannte die Umrisse eines Schrankes, eines Waschbeckens und einer Tür. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, wie in einem Krankenzimmer oder einer Gefängniszelle. Aber er fühlte
sich gesund und konnte sich an kein Verbrechen erinnern, für das man einen alten Mann ins Gefängnis werfen würde.
„Thea?“ rief er fragend, “Thea?“
Er versuchte es noch einmal etwas lauter.
„Thea?“
Dann ging er zu einem neutralen „Hallo?“ über und wiederholte es, bis ihn sein Unbehagen aus dem Bett trieb.
Auf dem Bettrand sitzend, erreichten seine Füße nicht den Boden, ein weiterer fremder Eindruck, der seine Unruhe verstärkte und ihn an der Realität zweifeln ließ. Er fragte sich, ob er immer noch träumte, aber die Eindrücke, die Kälte unter seinen Füßen, als er stand, und der Schwindel in seinem Kopf, das alles war zu nahe bei ihm, ohne den
Abstand zu den Geschehnissen in einem Traum.
Er konnte seine Pantoffeln nicht finden und taumelte barfuß zur Tür.
Als er sie öffnete, sah er in einen Flur, der so hell beleuchtet war, dass er die Lider zusammenkneifen musste.
„Hallo?“
Albert erhielt wieder keine Antwort, nur seine Stimme hallte durch den leeren Flur.
Am linken Ende des Ganges befand sich ein Fenster. Auf dem Sims stand eine Heiligenfigur aus Holz. Der Heilige hatte die rechte Hand erhoben, als würde er um Ruhe bitten. Albert fühlte sich ein wenig schuldig und hörte auf zu rufen.
Der Gang bog rechts von ihm ab, und schien dort weiter zu führen.
Albert ging in diese Richtung, immer an der Wand entlang, weil seine Beine ihn kaum tragen wollten.
Seine Vermutung bestätigte sich. Der Gang führte dort weiter, lag vor ihm und endete im Dunkeln. Nur ungefähr das erste Drittel war beleuchtet .
Links von ihm standen fünf Rollstühle in einer Reihe an der Wand.
Es sah aus wie die Abteilung eines Krankenhauses, oder einer psychiatrischen Anstalt. Ein Irrenhaus, dachte Albert. Sein Lieblingsfilm spielte in einer Anstalt.
Albert war noch ein Kind gewesen, als er „Das Cabinet des Dr. Caligari“ zum ersten Mal gesehen hatte, zusammen mit seinem Vater, Anfang der dreißiger Jahre. Kein anderer Film danach hatte ihn wieder so verstören können. Nicht die windschiefen Kulissen hatten ihm Angst gemacht, nicht die blassen Gesichter der Schauspieler mit ihren großen, geränderten Augen. Das alles trug nur dazu bei, dass sich sein Verstand um die eigene Achse drehte und sein Gleichgewicht verlor, wegen einer Erkenntnis, die er
weder akzeptieren noch leugnen konnte.
Er musste, wie jeder Mensch, seiner Wahrnehmung trauen, um zu überleben, doch der Film bewies das Gegenteil und seine gegenwärtige Situation auch.
Im hinteren Drittel des Flurs öffnete sich eine Tür. Licht fiel in die Dunkelheit.
Eine weißgekleidete Frau verließ den Raum dahinter und kam in seine Richtung, nachdem sie ihn bemerkt hatte.
„Herr Stricker, was ist denn los? Können Sie nicht schlafen? Jede Nacht dasselbe, was?“ fragte die Frau, die Albert auch nicht erkannte, als sie neben ihm stand.
Trotzdem benahm sich die Frau, als würden sie sich kennen.
„Ich, Sie...Wo bin ich hier und warum?“
Die Frau verschränkte die Arme.
„Kennen Sie mich denn nicht?“
„Sollte ich?“ Albert wünschte sich, wieder zu träumen, aber der Traum hatte zu viele Einzelheiten, der weiße Kittel der Frau, ihre Unterwäsche, die sich deutlich unter der Kleidung abzeichnete und ihr rechtes Auge, das starr blieb, während sich das linke bewegte. Blaue Augen.
„Ich bin Schwester Andrea und habe seit einer Woche Nachtdienst! Sie sind seit zwei Wochen hier, wegen Herzbeschwerden. Erinnern Sie sich nicht?“
„Nein, ich war doch eben noch zu Hause, und wo ist denn meine Frau?“
„Ihre Frau?“
„Ja, Thea, meine Frau. Warum hat sie mich hierhin gebracht, und warum weiß ich davon nichts?“
Alberts Unbehagen wich Grauen. So hatten sich seine Freunde wohl in den Schützengräben gefühlt.
Die Schwester blickte ihn besorgt an.
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber, Herr Stricker, Sie sind alt, 83, da wird man langsam vergesslich. Sie sind schon seit zwei Wochen hier.“
Ihr rechtes Auge sah durch ihn hindurch.
„Und was ist mit meiner Frau?“
„Ihre Frau ist vor zehn Jahren gestorben! Seitdem leben Sie bei ihrer Tochter!“
Alberts Beine und Hände zitterten. Die Schwester griff unter seine Achseln, um ihn zu stützen.
Alles in ihrer Mimik deutete darauf hin, dass sie es ernst meinte.
„Sehen Sie, dass Sie krank sind? Wollen Sie sich setzen?“
„Ja!“
„Kommen Sie. Ich bring Sie in die Küche und mache ihnen einen Tee!“
„Das ist nett von ihnen!“
Albert ließ sich in den Aufenthaltsraum führen und versuchte zu verstehen, was die Schwester ihm gesagt hatte.
Er konnte es nicht glauben. Alles was er wusste, sprach dagegen, aber er fühlte nicht genug Trauer, als würde sein Körper die Situation schon kennen, als wüsste er mehr als sein Verstand. Andererseits waren seine Gefühle vielleicht gedämpft, weil er unter dem Einfluss von Medikamenten stand.
Andrea führte ihn zu einem Stuhl, und er setzte sich.
„Sagen Sie mir, dass das alles nicht wahr ist, Schwester!“
„Es tut mir leid, Herr Stricker. Möchten Sie einen Arzt sprechen?“
„Nein!“ Albert sah ihn vor sich, den Doktor mit dem irren Blick, den dicken Brillengläsern und dem strohigen, grauen Haar, „Lieber nicht!“
Andrea stellte eine Tasse Tee vor ihn auf den Tisch.
„Kennen Sie das „Cabinet des Dr. Caligari“, Schwester?“
„Hört sich nach einer Station in diesem Haus an. Aber im Ernst, nein. Warum fragen Sie?“
„Weil das alles hier ein Albtraum ist. Dr. Caligari ist ein Stummfilm aus den Zwanzigern. Das Beunruhigende daran ist, dass alles, was man für real hält, ins Gegenteil verkehrt wird, solange, bis man nichts mehr für echt hält.
Der Held entpuppt sich als Irrer, und der Irre ist ein Arzt.“
„Nein, den hab ich nicht gesehen.“
„Das sollten Sie aber. Es ist ein wirklich guter Film. Man kann ein Leben lang darüber nachdenken, und am Ende holt er einen ein! Kann ich eine Zigarette haben?“
„Ja, sicher. Ist zwar ungesund, aber ich glaube, wir können beide eine brauchen!“
Sie bot ihm eine Zigarette aus ihrer Schachtel an. Dann setzte sie sich, gab ihm Feuer und zündete sich ebenfalls eine an.
„Sind Sie ganz alleine hier?“ fragte Albert.
„Nein, Thomas, unser Schüler, ist auch noch da. Er hilft im Moment auf einer anderen Station, ist aber gleich wieder da.“
„Darf ich fragen, was mit Ihrem Auge ist?“
Albert wollte nicht taktlos sein, aber die Frage ließ ihm keine Ruhe.
„Es ist nicht echt. Ich hatte als Kind einen Tumor.“
„Sind Sie deshalb Krankenschwester geworden?“
„Unter anderem, ja!“ Andrea nickte.
Die folgende Stille wurde durch Schritte unterbrochen.
Eine weitere weißgekleidete Person betrat die Küche.
„Ihr habt´s euch ja schön gemütlich gemacht!“ stellte er fest.
„Sind Sie Thomas?“ fragte Albert.
„Stimmt. Haben Sie mich erkannt?“
„Nein, aber Ihre Kollegin hat von Ihnen erzählt.“
Thomas schien etwas enttäuscht zu sein.
Albert zitterte immer noch, weniger aus Angst, sondern weil ihm immer kälter wurde.
„Was halten Sie davon, wenn Thomas Sie wieder ins Bett bringt. Morgen können Sie dann mit dem Stationsarzt sprechen, und ihre Tochter kommt auch zu Besuch!“
schlug Andrea vor.
„Ja, gerne!“
Thomas brachte ihn in sein Zimmer und half ihm ins Bett.
„Können Sie die Tür einen Spalt offen lassen?“ bat Albert, „Ich bin das gewohnt.“
„Sicher! Gute Nacht, Herr Stricker!“
„Gute Nacht!“
„So langsam halt ich´s nicht mehr aus!“
Andrea saß am Schreibtisch des Schwesternzimmers und bearbeitete Krankenakten.
Thomas zuckte mit den Achseln. Er füllte verschiedene Tabletten in Medikamentenschälchen.
„Er kann ja nichts dafür!“
„Ich bin ja auch nicht sauer auf ihn! Ich hab nur keine Zeit. Theoretisch müsste dauernd jemand auf ihn aufpassen. Ich muss aber vierzig Patienten versorgen und den Schreibkram vom Nachmittag bearbeiten. Wenn du nicht hier wärst, wär ich völlig aufgeschmissen! Das war jetzt das zehnte Mal!“
„Und jedes Mal die gleiche Geschichte!“
„Schrecklich, nicht? Jedes mal erfährt er aufs Neue, dass seine Frau tot ist.
Ob es uns auch mal so geht?“
Thomas´ Schultern zuckten erneut.
„Kein Grund sentimental zu werden. Noch ist es ja nicht soweit!“
Andrea sah das anders. Immer, wenn sie sich vorstellte, mit zwei Augen zu sehen, wurde sie daran erinnert.
„Wenn du meinst!“
Sie zuckte zusammen, wegen lauten Geräuschen auf dem Flur. Jemand schien in die Rollstühle gefallen zu sein.
„Siehst du mal nach?“
Thomas ging zu den Rollstühlen und war nicht überrascht.
„Herr Stricker, wollen Sie einen Rekord brechen?“
„Was? Lassen Sie mich in Ruhe! Ich will hier raus!“ schrie Albert.
Er lag halb in einem Rollstuhl, halb auf den Fliesen.
Thomas wollte ihm aufhelfen, aber Albert trat nach ihm.
„Ich bin nicht verrückt! Fassen Sie mich nicht an!“
Andrea kam dazu. Zusammen zogen sie ihn hoch und brachten ihn in sein Zimmer.
Albert hörte erst auf zu schreien, als er mit einem Bauchgurt fixiert auf dem Bett lag.
„So geht´s nicht weiter!“ Andrea schwitzte. „Wir lagern jetzt schnell die Pflegefälle, und dann setzt du dich zu Herrn Stricker und bleibst bei ihm. Ich lös dich dann später ab!“
„Klar!“ sagte Thomas.
„Was reden Sie da?“ fragte Albert.
„Herr Stricker, Thomas bleibt bei Ihnen, damit Ihnen nichts passiert! Ich schicke ihn in zehn Minuten zu Ihnen. Meinen Sie, Sie schaffen es, bis dahin ruhig zu sein?“
„Dann machen Sie mich los!“ Albert zog an dem Gurt.
„Ich will doch nur, dass Sie sich nichts brechen! Der Gurt ist ganz locker!“
Andrea schob ihre Hand zwischen Gurt und Bauch.
„Sehen Sie, ist noch Platz genug! Sie sollen nur nicht aus dem Bett fallen und nicht alleine aufstehen!“
Das schien Albert zu beruhigen, und er ließ sich entspannt zurück sinken.
„Machen Sie doch, was Sie wollen!“ sagte er und schloss die Augen.
Andrea und Thomas verließen das Zimmer, die Tür blieb offen.
Eine Viertelstunde später, sie säuberten gerade eine ziemlich füllige Frau, sagte Andrea: „Ich seh mal eben nach Herrn Stricker. Ich hab so ein komisches Gefühl!“
„Soll ich lieber gehen?“
„Nein, ich mach das schon. Bin gleich wieder da!“
Andrea ging über den Flur zu Alberts Zimmer. Er hatte zu schnell seinen Widerstand aufgegeben. In dem Moment war sie erleichtert gewesen, aber es war doch zu einfach für seinen gestörten, aber komplexen Verstand.
Je näher sie seinem Zimmer kam, desto besser hörte sie ein regelmäßiges, dumpfes Geräusch. Als sie im Türrahmen stand, bemerkte sie zuerst den kalten Luftzug, dann das leere Bett und das offene Fenster, das vom Wind bewegt an die Wand schlug.
Andrea durchquerte das Zimmer und sah hinaus.
Albert lag zwei Stockwerke tiefer in einem Beet zwischen Büschen.
Seine Arme und Beine waren seltsam verrenkt.
Sie hörte ihn stöhnen.
Wie die Marionette eines Puppenspielers, dachte sie.
Dann löste sie den Alarm aus.
Albert starb zwei Wochen später auf der Intensivstation an einer Embolie, ohne noch einmal aufzuwachen.
Andrea ging nicht zu seiner Beerdigung. Stattdessen lieh sie an diesem Tag eine DVD in der Stadtbibliothek.
Zu Hause öffnete sie eine Flasche Wein und legte den Film ein.
Als der erste Zwischentitel auf dem Bildschirm erschien, konnte sie ihn vor Tränen kaum lesen.
Es gibt Geister...
Überall sind sie um uns her...
Albert erwachte mit trockenem Mund aus einem Traum vom Krieg.
Anders als die meisten seiner Altersgenossen litt er nicht an Albträumen.
Er erinnerte sich gerne an diese Zeit.
Kurz nach Ausbruch des Krieges hatte er sich freiwillig zur Marine gemeldet, weil er der Meinung war, zu diesem frühen Zeitpunkt noch einen einigermaßen sicheren Platz zu finden, und wurde Koch auf einem Versorgungsschiff in der Ägäis. Alles, was er während dieser Zeit tat, war kochen, braun werden und Lebensmittel mit der griechischen Bevölkerung tauschen. Sein einziger Feindkontakt hatte darin bestanden, dass sich die Mannschaft den Alliierten ergab und Angst hatte er nur gespürt, wenn er auf dem Weg in den Heimaturlaub Jugoslawien durchquerte, wo Partisanen täglich Anschläge auf Truppentransporte durchführten.
Im Grunde hatte ihm seine Intuition nur ein großes Abenteuer beschert, in dem die meisten seiner Freunde umgekommen waren.
Beunruhigend waren nicht die Träume, sondern das Erwachen, wenn ihm täglich aufs Neue bewusst wurde, dass er alt war, denn in seinen Träumen blieb er jung.
Diesmal fühlte er sich noch unbehaglicher als sonst, denn er stellte fest, dass er nicht zu Hause war. Schon mit geschlossenen Augen hatte er bemerkt, dass die Matratze seltsam dreigeteilt war, und das Bett war zu klein, kein Doppelbett, auf dem er sonst erwachte.
Es fehlte auch die einen spaltbreit geöffnete Schlafzimmer-
tür, durch die immer ein wenig Licht ins Zimmer fiel, weil Thea ohne Licht nicht schlafen konnte und im Flur immer eine Lampe brennen ließ.
Hier aber fiel das Licht durch ein Fenster am Kopfende seines Bettes in den Raum. Er erkannte die Umrisse eines Schrankes, eines Waschbeckens und einer Tür. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, wie in einem Krankenzimmer oder einer Gefängniszelle. Aber er fühlte
sich gesund und konnte sich an kein Verbrechen erinnern, für das man einen alten Mann ins Gefängnis werfen würde.
„Thea?“ rief er fragend, “Thea?“
Er versuchte es noch einmal etwas lauter.
„Thea?“
Dann ging er zu einem neutralen „Hallo?“ über und wiederholte es, bis ihn sein Unbehagen aus dem Bett trieb.
Auf dem Bettrand sitzend, erreichten seine Füße nicht den Boden, ein weiterer fremder Eindruck, der seine Unruhe verstärkte und ihn an der Realität zweifeln ließ. Er fragte sich, ob er immer noch träumte, aber die Eindrücke, die Kälte unter seinen Füßen, als er stand, und der Schwindel in seinem Kopf, das alles war zu nahe bei ihm, ohne den
Abstand zu den Geschehnissen in einem Traum.
Er konnte seine Pantoffeln nicht finden und taumelte barfuß zur Tür.
Als er sie öffnete, sah er in einen Flur, der so hell beleuchtet war, dass er die Lider zusammenkneifen musste.
„Hallo?“
Albert erhielt wieder keine Antwort, nur seine Stimme hallte durch den leeren Flur.
Am linken Ende des Ganges befand sich ein Fenster. Auf dem Sims stand eine Heiligenfigur aus Holz. Der Heilige hatte die rechte Hand erhoben, als würde er um Ruhe bitten. Albert fühlte sich ein wenig schuldig und hörte auf zu rufen.
Der Gang bog rechts von ihm ab, und schien dort weiter zu führen.
Albert ging in diese Richtung, immer an der Wand entlang, weil seine Beine ihn kaum tragen wollten.
Seine Vermutung bestätigte sich. Der Gang führte dort weiter, lag vor ihm und endete im Dunkeln. Nur ungefähr das erste Drittel war beleuchtet .
Links von ihm standen fünf Rollstühle in einer Reihe an der Wand.
Es sah aus wie die Abteilung eines Krankenhauses, oder einer psychiatrischen Anstalt. Ein Irrenhaus, dachte Albert. Sein Lieblingsfilm spielte in einer Anstalt.
Albert war noch ein Kind gewesen, als er „Das Cabinet des Dr. Caligari“ zum ersten Mal gesehen hatte, zusammen mit seinem Vater, Anfang der dreißiger Jahre. Kein anderer Film danach hatte ihn wieder so verstören können. Nicht die windschiefen Kulissen hatten ihm Angst gemacht, nicht die blassen Gesichter der Schauspieler mit ihren großen, geränderten Augen. Das alles trug nur dazu bei, dass sich sein Verstand um die eigene Achse drehte und sein Gleichgewicht verlor, wegen einer Erkenntnis, die er
weder akzeptieren noch leugnen konnte.
Er musste, wie jeder Mensch, seiner Wahrnehmung trauen, um zu überleben, doch der Film bewies das Gegenteil und seine gegenwärtige Situation auch.
Im hinteren Drittel des Flurs öffnete sich eine Tür. Licht fiel in die Dunkelheit.
Eine weißgekleidete Frau verließ den Raum dahinter und kam in seine Richtung, nachdem sie ihn bemerkt hatte.
„Herr Stricker, was ist denn los? Können Sie nicht schlafen? Jede Nacht dasselbe, was?“ fragte die Frau, die Albert auch nicht erkannte, als sie neben ihm stand.
Trotzdem benahm sich die Frau, als würden sie sich kennen.
„Ich, Sie...Wo bin ich hier und warum?“
Die Frau verschränkte die Arme.
„Kennen Sie mich denn nicht?“
„Sollte ich?“ Albert wünschte sich, wieder zu träumen, aber der Traum hatte zu viele Einzelheiten, der weiße Kittel der Frau, ihre Unterwäsche, die sich deutlich unter der Kleidung abzeichnete und ihr rechtes Auge, das starr blieb, während sich das linke bewegte. Blaue Augen.
„Ich bin Schwester Andrea und habe seit einer Woche Nachtdienst! Sie sind seit zwei Wochen hier, wegen Herzbeschwerden. Erinnern Sie sich nicht?“
„Nein, ich war doch eben noch zu Hause, und wo ist denn meine Frau?“
„Ihre Frau?“
„Ja, Thea, meine Frau. Warum hat sie mich hierhin gebracht, und warum weiß ich davon nichts?“
Alberts Unbehagen wich Grauen. So hatten sich seine Freunde wohl in den Schützengräben gefühlt.
Die Schwester blickte ihn besorgt an.
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber, Herr Stricker, Sie sind alt, 83, da wird man langsam vergesslich. Sie sind schon seit zwei Wochen hier.“
Ihr rechtes Auge sah durch ihn hindurch.
„Und was ist mit meiner Frau?“
„Ihre Frau ist vor zehn Jahren gestorben! Seitdem leben Sie bei ihrer Tochter!“
Alberts Beine und Hände zitterten. Die Schwester griff unter seine Achseln, um ihn zu stützen.
Alles in ihrer Mimik deutete darauf hin, dass sie es ernst meinte.
„Sehen Sie, dass Sie krank sind? Wollen Sie sich setzen?“
„Ja!“
„Kommen Sie. Ich bring Sie in die Küche und mache ihnen einen Tee!“
„Das ist nett von ihnen!“
Albert ließ sich in den Aufenthaltsraum führen und versuchte zu verstehen, was die Schwester ihm gesagt hatte.
Er konnte es nicht glauben. Alles was er wusste, sprach dagegen, aber er fühlte nicht genug Trauer, als würde sein Körper die Situation schon kennen, als wüsste er mehr als sein Verstand. Andererseits waren seine Gefühle vielleicht gedämpft, weil er unter dem Einfluss von Medikamenten stand.
Andrea führte ihn zu einem Stuhl, und er setzte sich.
„Sagen Sie mir, dass das alles nicht wahr ist, Schwester!“
„Es tut mir leid, Herr Stricker. Möchten Sie einen Arzt sprechen?“
„Nein!“ Albert sah ihn vor sich, den Doktor mit dem irren Blick, den dicken Brillengläsern und dem strohigen, grauen Haar, „Lieber nicht!“
Andrea stellte eine Tasse Tee vor ihn auf den Tisch.
„Kennen Sie das „Cabinet des Dr. Caligari“, Schwester?“
„Hört sich nach einer Station in diesem Haus an. Aber im Ernst, nein. Warum fragen Sie?“
„Weil das alles hier ein Albtraum ist. Dr. Caligari ist ein Stummfilm aus den Zwanzigern. Das Beunruhigende daran ist, dass alles, was man für real hält, ins Gegenteil verkehrt wird, solange, bis man nichts mehr für echt hält.
Der Held entpuppt sich als Irrer, und der Irre ist ein Arzt.“
„Nein, den hab ich nicht gesehen.“
„Das sollten Sie aber. Es ist ein wirklich guter Film. Man kann ein Leben lang darüber nachdenken, und am Ende holt er einen ein! Kann ich eine Zigarette haben?“
„Ja, sicher. Ist zwar ungesund, aber ich glaube, wir können beide eine brauchen!“
Sie bot ihm eine Zigarette aus ihrer Schachtel an. Dann setzte sie sich, gab ihm Feuer und zündete sich ebenfalls eine an.
„Sind Sie ganz alleine hier?“ fragte Albert.
„Nein, Thomas, unser Schüler, ist auch noch da. Er hilft im Moment auf einer anderen Station, ist aber gleich wieder da.“
„Darf ich fragen, was mit Ihrem Auge ist?“
Albert wollte nicht taktlos sein, aber die Frage ließ ihm keine Ruhe.
„Es ist nicht echt. Ich hatte als Kind einen Tumor.“
„Sind Sie deshalb Krankenschwester geworden?“
„Unter anderem, ja!“ Andrea nickte.
Die folgende Stille wurde durch Schritte unterbrochen.
Eine weitere weißgekleidete Person betrat die Küche.
„Ihr habt´s euch ja schön gemütlich gemacht!“ stellte er fest.
„Sind Sie Thomas?“ fragte Albert.
„Stimmt. Haben Sie mich erkannt?“
„Nein, aber Ihre Kollegin hat von Ihnen erzählt.“
Thomas schien etwas enttäuscht zu sein.
Albert zitterte immer noch, weniger aus Angst, sondern weil ihm immer kälter wurde.
„Was halten Sie davon, wenn Thomas Sie wieder ins Bett bringt. Morgen können Sie dann mit dem Stationsarzt sprechen, und ihre Tochter kommt auch zu Besuch!“
schlug Andrea vor.
„Ja, gerne!“
Thomas brachte ihn in sein Zimmer und half ihm ins Bett.
„Können Sie die Tür einen Spalt offen lassen?“ bat Albert, „Ich bin das gewohnt.“
„Sicher! Gute Nacht, Herr Stricker!“
„Gute Nacht!“
„So langsam halt ich´s nicht mehr aus!“
Andrea saß am Schreibtisch des Schwesternzimmers und bearbeitete Krankenakten.
Thomas zuckte mit den Achseln. Er füllte verschiedene Tabletten in Medikamentenschälchen.
„Er kann ja nichts dafür!“
„Ich bin ja auch nicht sauer auf ihn! Ich hab nur keine Zeit. Theoretisch müsste dauernd jemand auf ihn aufpassen. Ich muss aber vierzig Patienten versorgen und den Schreibkram vom Nachmittag bearbeiten. Wenn du nicht hier wärst, wär ich völlig aufgeschmissen! Das war jetzt das zehnte Mal!“
„Und jedes Mal die gleiche Geschichte!“
„Schrecklich, nicht? Jedes mal erfährt er aufs Neue, dass seine Frau tot ist.
Ob es uns auch mal so geht?“
Thomas´ Schultern zuckten erneut.
„Kein Grund sentimental zu werden. Noch ist es ja nicht soweit!“
Andrea sah das anders. Immer, wenn sie sich vorstellte, mit zwei Augen zu sehen, wurde sie daran erinnert.
„Wenn du meinst!“
Sie zuckte zusammen, wegen lauten Geräuschen auf dem Flur. Jemand schien in die Rollstühle gefallen zu sein.
„Siehst du mal nach?“
Thomas ging zu den Rollstühlen und war nicht überrascht.
„Herr Stricker, wollen Sie einen Rekord brechen?“
„Was? Lassen Sie mich in Ruhe! Ich will hier raus!“ schrie Albert.
Er lag halb in einem Rollstuhl, halb auf den Fliesen.
Thomas wollte ihm aufhelfen, aber Albert trat nach ihm.
„Ich bin nicht verrückt! Fassen Sie mich nicht an!“
Andrea kam dazu. Zusammen zogen sie ihn hoch und brachten ihn in sein Zimmer.
Albert hörte erst auf zu schreien, als er mit einem Bauchgurt fixiert auf dem Bett lag.
„So geht´s nicht weiter!“ Andrea schwitzte. „Wir lagern jetzt schnell die Pflegefälle, und dann setzt du dich zu Herrn Stricker und bleibst bei ihm. Ich lös dich dann später ab!“
„Klar!“ sagte Thomas.
„Was reden Sie da?“ fragte Albert.
„Herr Stricker, Thomas bleibt bei Ihnen, damit Ihnen nichts passiert! Ich schicke ihn in zehn Minuten zu Ihnen. Meinen Sie, Sie schaffen es, bis dahin ruhig zu sein?“
„Dann machen Sie mich los!“ Albert zog an dem Gurt.
„Ich will doch nur, dass Sie sich nichts brechen! Der Gurt ist ganz locker!“
Andrea schob ihre Hand zwischen Gurt und Bauch.
„Sehen Sie, ist noch Platz genug! Sie sollen nur nicht aus dem Bett fallen und nicht alleine aufstehen!“
Das schien Albert zu beruhigen, und er ließ sich entspannt zurück sinken.
„Machen Sie doch, was Sie wollen!“ sagte er und schloss die Augen.
Andrea und Thomas verließen das Zimmer, die Tür blieb offen.
Eine Viertelstunde später, sie säuberten gerade eine ziemlich füllige Frau, sagte Andrea: „Ich seh mal eben nach Herrn Stricker. Ich hab so ein komisches Gefühl!“
„Soll ich lieber gehen?“
„Nein, ich mach das schon. Bin gleich wieder da!“
Andrea ging über den Flur zu Alberts Zimmer. Er hatte zu schnell seinen Widerstand aufgegeben. In dem Moment war sie erleichtert gewesen, aber es war doch zu einfach für seinen gestörten, aber komplexen Verstand.
Je näher sie seinem Zimmer kam, desto besser hörte sie ein regelmäßiges, dumpfes Geräusch. Als sie im Türrahmen stand, bemerkte sie zuerst den kalten Luftzug, dann das leere Bett und das offene Fenster, das vom Wind bewegt an die Wand schlug.
Andrea durchquerte das Zimmer und sah hinaus.
Albert lag zwei Stockwerke tiefer in einem Beet zwischen Büschen.
Seine Arme und Beine waren seltsam verrenkt.
Sie hörte ihn stöhnen.
Wie die Marionette eines Puppenspielers, dachte sie.
Dann löste sie den Alarm aus.
Albert starb zwei Wochen später auf der Intensivstation an einer Embolie, ohne noch einmal aufzuwachen.
Andrea ging nicht zu seiner Beerdigung. Stattdessen lieh sie an diesem Tag eine DVD in der Stadtbibliothek.
Zu Hause öffnete sie eine Flasche Wein und legte den Film ein.
Als der erste Zwischentitel auf dem Bildschirm erschien, konnte sie ihn vor Tränen kaum lesen.
Es gibt Geister...
Überall sind sie um uns her...