Dramatis Personae

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sohalt

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Ich weiß nicht mehr, wodurch genau die bedauernswerte Dolly Vivis Zorn auf sich gezogen hatte und ich war auch nicht da, als er sich schließlich entlud. Fern läge es mir, meine eigene schwachbrüstige, untrainierte Vorstellungskraft mit der dichterischen Beschwörung eines vivianischen Wutausbruchs zu überfordern. Mir fehlt also sowohl Höhepunkt als auch Hintergrund dieses Dramas, das ich nun vor euch ausbreiten will, weil ich ja am Ende die Nutznießerin war - alles was ich habe, sind die handelnden Personen:

Dolly - meine Doppelzimmerkollegin; die junge Naive, verfolgte Unschuld, letztlich aber harmlos.
Vivi - Studentenheimmitbewohnerin; klein, zart, furchteinflößend, Furie in Puppengestalt.
Abel - ihr Freund

Dolly war vor einem Jahr aus dem zweiten Stock zu uns in den dritten geflüchtet vor dem gehässigen Getuschel und den bösen Blicken der stockwerkbewohnenden Mädchen, die sich in einem Anfall weiblicher Solidarität zusammengerottet und es auf sie abgesehen hatten wegen einer unglücklichen Männergeschichte, einem Missverständnis, wie Dolly beteuerte. („Er war da eh schon länger nicht mehr mit ihr zusammen und ich lieb ihn halt so, was hätt ich denn tun sollen“) Im Wintersemester war sie sehr eng mit meiner damaligen Zimmerkolleginnen befreundet gewesen, deutlich habe ich noch ihr Kichern im Ohr, wenn sich die beiden von der Videothek ausgeborgte Teenie-Komödien und Splatterfilme anschauten und erörterten, ob der männliche Hauptdarsteller nun haargenau so aussehe wie Dolly’s Freund oder etwa nicht. Von daher kannte sie mich also schon ein bisschen, und daher kam wohl auch ihr Vorschlag zusammenzuziehen, als meine Ex-Zimmerkollegin am Semesterende auszog (zur großen Erleichterung Dollys übrigens, die sich bis dahin schon längst mit ihr überworfen hatte – ein unglückliches Missverständnis natürlich, denn „Erstens war da ja gar nichts, ich hab ja einen Freund, und zweitens hat sie doch immer behauptet, sie will eh nichts von dem“).

Bei Dolly geschah alles immer mit großer Unschuld. Nie konnte sie begreifen, warum denn gewisse Burschen so unbedingt darauf bestanden, ihr bei ihren Hausarbeiten zu helfen oder abends für sie zu kochen, wo sie doch immer, immer sofort darauf hinwies, dass sie ja einen Freund hatte. Natürlich war sie hübsch. Und so groß auch die Verlockung war, ihr eine gewisse Schwäche zu attestieren (ein etwas überdurchschnittliches Bedürfnis nach männlicher Aufmerksamkeit fiel auf), so kann ich doch niemand ernstlich für willensschwach befinden, dem es ab zwanzig noch gelingt, eine solche Figur zu halten.

Diese Dolly schlug mir also vor, ein Doppelzimmer zu teilen und ich dachte, warum nicht. Ich war weder ein Mann, noch hatte ich einen, den sie mir hätte ausspannen können. Und ansonsten konnte es ja keinen Grund geben, gegen dieses heitere, freundliche Geschöpf einen Groll zu hegen, glaubte ich zumindest. Bis die Sache mit Vivi passierte.

Natürlich war es wieder ein Mann, Abel nämlich, der im Zentrum der Auseinandersetzung stand - allerdings nicht in der Rolle, die Männern bisher in Dollys kleinen Dramen zugeteilt worden war.


Meine Mutter erfüllte es immer mit großer Bitterkeit, wenn besonders große Männer besonders kleine Freundinnen hatten. Es sei für große Frauen schwierig genug, einen Mann zu finden, der wenigstens nicht kleiner ist als sie, kleine Frauen hätten es leichter und große Männer gar nicht nötig. Ich sehe die Logik in dieser Argumentation, aber ich sehe die Logik in vielen Dingen. Ich hielt Vivi und Abel immer für ein ausgesprochen schönes Paar.

Die Vorstellung, dass Vivi sich um Abel Sorgen hätte machen müssen, noch dazu wegen Dolly, ist aus verschiedenen Gründen auch komplett absurd.

Gut, Dolly war hübsch – auf eine konventionelle Art. Vivi, hingegen… Natürlich hatte auch Vivi all die üblichen Argumente auf ihrer Seite, die Sanduhrfigur, die blonden Locken, das Kindchenschema - und zu alldem auch noch makellose Brüste, im Verhältnis zum zierlichen Rest überraschend … groß. (Verzeiht das einfallslose Adjektiv, ich bin etwas ungeübt im Besingen von Brüsten; da gibt es berufenere Barden. Meine neidlose Bereitschaft, mich der Peinlichkeit einer solchen Beschreibungsimpotenz auszusetzen und dieses Attribut überhaupt zu erwähnen, spricht hoffentlich für sich). Zusätzlich aber hatte Vivi etwas Besonderes, nämlich schiefe Zähne.

Ein Verbrechen wäre es gewesen, Vivis Zähne regulieren zu lassen. Die schiefen Zähne erst setzten den nötigen Kontrapunkt zur Lieblichkeit der restlichen Erscheinung. Ohne die schiefen Zähne wäre Vivis Gestalt nur niedlich gewesen - ein bezauberndes Püppchen und was für ein Trug! Das schiefe Grinsen stand ihr so viel besser als ein liebliches Lächeln und entsprach auch viel eher ihrer so gar nicht puppenhaften Persönlichkeit. Hinter den blumigen Lippen ein Raubtiergebiss. Habe ich schon erwähnt, dass sie sich in ihrer wilden Jugend mit den örtlichen rechten Schlägern anlegte und an Judo-Wettbewerben teilnahm? Aber das Schönste an Vivi war, dass sie ihr Raubtiergebiss auch bei jeder Gelegenheit bleckte, denn sie lachte gerne. Nein, ihr Lachen war nicht immer gutmütig, und ja, auch ich, die ich stets recht gut mit ihr ausgekommen bin, fühlte manchmal, dass ich mich davor in Acht nehmen sollte. Nicht immer gutmütig, aber immer freimütig war dieses Lachen und ich habe es immer gerne gesehen.

Und Abel liebte es, seine bissige Freundin zum Lachen zu bringen. Er war in seinem Bestreben für Gelächter zu sorgen aber auch bei uns anderen sehr erfolgreich und somit eine große Bereicherung für die Tratschrunde um den Aschenbecher im Gang vor der Küche, in die sich ansonsten eher selten ein Mann verirrte. Denn wenn Abel sonst auch eine sehr traditionelle, fast schon archaische Auffassung von Männlichkeit zelebrierte (Jagen, Fischen, Waffen Sammeln), so er war gewiss kein stoischer Schweiger und konnte beim Lästern und Spotten mühelos mit jeder von uns mithalten. Abel sah ein bisschen aus wie der dritte Sohn des Bauern im Märchen, denn alle zuerst für einen Tölpel halten und der am Schluss als einziger alle Prüfungen besteht. Er konnte wirklich sagenhaft dumme Gesichter schneiden - meistens, um jemand anderen nachzuäffen, mitunter aber auch mit gewisser Selbstironie. Hinter allen dummen Gesichtern blitzte eine Schläue, die nur bedauernswerte Narren übersehen konnten.

Abgesehen von dieser mir fremden Schläue war Abel im Geheimen aber auch auf eine vertraute Weise gescheit – ich sage im Geheimen, weil ich zumindest von seinen Standpunkten in ernsthafteren Diskussionen nicht unbedingt darauf geschlossen hätte; er hatte eine gewisse Neigung zur Stammtischargumentation. Heute glaube ich dass seine Polemik zu großen Teilen auch seiner Spottlust geschuldet war – er hatte schnell heraus gefunden, dass ich gewisse Sachen nicht im Raum stehen lassen konnte und genoss es sichtlich, mich in Rage zu versetzen. Obwohl Abel nur Spott übrig hatte für jene armseligen Gestalten, die in einem tragischen Beispiel von falscher Prioritätensetzung in Stress geraten, weil sie sich einbilden, irgendeinen Professor beeindrucken zu müssen (also für mich, zum Beispiel), äußerte er doch auch Respekt für jene, die eine gewisse Leidenschaft für ihr Fach aufbrachten und das Studium ernst nahmen (also für mich, zum Beispiel), weshalb ich geneigt war, den Spott im Allgemeinen unter liebevoll zu verbuchen.

Von Dolly hielt er in dieser Hinsicht etwas weniger. Zu ihrem Unglück studierte sie auch noch dasselbe wie er und war von ihm trotz der Bundesheerverzögerung innerhalb eines Semesters eingeholt worden. Abel und Dolly kannten sich noch von der Schulzeit her, die beiden kamen aus demselben Bundesland. Abel nannte sie deshalb „die Landsfrau“. Dolly musste – wie alles und jedes – gelegentlich herhalten für Abels Scherze und Vivis Raubtierlachen, aber sie war von beiden ausreichend wohlgelitten, um Abel bei seinen Heimaturlauben als Mitfahrgelegenheit nutzen zu können.

Ich vermute, das Dollys Verderben begann, als sie anfing, dieses Entgegenkommen für selbstverständlich zu halten. Dunkel erinnere ich mich an einen Vorfall mit einer von Dollys Freundinnen, die von Dolly aufgrund ihres mitleiderregenden Zustandes (Gipsbein, glaube ich) ohne Absprache mit Abel in das Arrangement miteinbezogen worden war und extra vom anderen Ende der Stadt abgeholt werden musste. Nun hatten Vivi und Abel gewiss nichts dagegen, einer weiteren Landsfrau in Not aus der Patsche zu helfen, aber sie wären wohl gerne vorher gefragt worden. Gerade Vivi war bereit, viel auf sich zu nehmen, um Freunden zu helfen (Betonung auf Freunde), aber sie konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn jemand von Vornherein auf ihre Gutmütigkeit baute. Dolly war keine Freundin und Vivi verdächtigte sie schon länger der Undankbarkeit.

So geriet Dolly also unter Vivis Radar. Und dann muss Dolly etwas getan haben, dass Vivi nicht nur erbitterte, sondern erboste. Sie sprach hinter Abels Rücken über Abel. Sie erzählte jemand etwas über Abel, das nicht stimmte. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr was, obwohl mir Vivi den Vorfall bei einer Zigarette vor der Küche, befeuert von der Rechtmäßigkeit ihrer Empörung, in großer Ausführlichkeit auseinandersetzte. Ich vermute nur, es kann nichts wahnsinnig Skandalträchtiges gewesen sein, sonst hätte ich es mir ja schließlich gemerkt. Es war nur einfach und offensichtlich falsch. Und ich schätze, allein die Tatsache, dass Dolly sich erdreistet hatte, dass Dolly es gewagt hatte, überhaupt – hinter Abels Rücken! – über Abel zu reden, war Vergehen genug. Sofort sah Vivi ihren Abel als Opfer einer Intrige und zog in den Krieg.

Und weil Vivi einen direkten Kampfstil bevorzugte, ist der Rest der Geschichte schnell erzählt. Noch am selben Tag bestellte sie Dolly auf ihr Zimmer und was immer da drin auch geschehen sein mag, es muss einen gewissen Eindruck bei Dolly hinterlassen haben. Von diesem Tag an hatte ich mein Doppelzimmer für mich allein.
 



 
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