Dreck

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lietzensee

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Dreck​

Grüner Spargel, Kalbsleberwurst und eine Flasche Weißwein, Heinrich legte seine Einkäufe auf das Kassenband. Beim Wein hatte er die richtige Sorte nicht finden können und wie oft, wenn ihn etwas beunruhigte, begann er, in seinem Kopf eine Geschichte darüber zu erzählen: Da war einmal ein Gastgeber. Der wollte seinen Gästen zum Spargel Wein anbieten. Statt harmonischem Riesling fand er aber nur trockenen Grauburgunder. Der Gastgeber bangte, ob auch dieser Wein den Gästen munden würde. Was würden sie denken, wenn er zu sauer war?
Immer versuchte Heinrich, anderen Menschen das Leben angenehm zu machen. Das war schon lange eine Gewohnheit von ihm. Er schaute auf seine Einkäufe. Ob andererseits nur eine Flasche Wein reichen würde? Heinrich hatte gerne viele Gäste und jeder sollte sich bei ihm wohlfühlen. Vor ihm sortierte eine alte Frau ihre Einkäufe auf dem Band. Knackwürste getrocknete Erbsen und eine Flasche Korn. Als eine abgepackte Wurst herunter fiel, bückte sich Heinrich sofort, um sie wieder auf das Band zu legen.
Beim Fischhändler musste Heinrich noch Steinbutt-Filets kaufen. Darum hatte er es eilig. Aber die Waren bewegten sich nur langsam vorwärts. Auf jedes Piepen der Kasse folgte eine lange Pause. Gab es schon wieder einen neuen Kassierer? Er sah auf und tatsächlich saß vorne an der Kasse ein ihm fremder Mann. Heinrich schaute auf dieses neue Gesicht. Er glaubte jemanden zu erkennen, der dort ganz sicher nicht saß, hier, in seinem Lieblings-Supermarkt, Jahrzehnte nach dem er die Schule verlassen hatte. Das konnte nicht sein. Trotzdem schlug sein Herz schneller. In seinem Kopf begann er, eine Geschichte zu erzählen:
Vor langer Zeit gab es einen kleinen Jungen, den jeder nur Dreck nannte. Dreck, wie Schmutz, das fanden alle lustig. Heinrich betrachtete sein penibel gepflegtes Gesicht im Spiegel einer Kosmetik-Reklame. Plötzlich hatte er alles wieder vor Augen. Die Lehrer nannten den Jungen Dreck. Auch die Schüler und Küchenfrauen nannten ihn Dreck. Nur Freunde nannten ihn nicht Dreck, weil Dreck keine Freunde hatte. Dafür trug er eine dicke Brille. Nervös griff Heinrich an sein Designer-Gestell. Er sah wieder den Essensraum der Schule mit seinen fleckigen Wänden. Er roch scharfe Putzmittel. Er hörte das Geschrei, wenn Horden von Schülern sich nach der vierten Stunde in den Raum drängten, Tellergeklapper und das Quietschen von Stühlen. In der Schulküche aß Dreck damals immer sehr schnell, aber selten schnell genug. Er zuckte zusammen, als Alfi sich neben ihm auf einen Stuhl fallen ließ.
Noch einmal blickte Heinrich auf das Gesicht an der Kasse. Dreißig Jahre veränderten jeden Menschen. Er rückte die Brille auf seiner Nase zurecht. Aber er sah scharf und manche Gesichter vergisst man nicht. Erinnerungen stiegen in ihm auf, die er eigentlich vergessen zu haben hoffte. Er hatte doch einen langen Weg zurückgelegt. Aber nun flimmerten die Szenen dieser Geschichte wieder vor seinem inneren Auge.
"Schmeckt das, Dreck?", fragte Alfi. Sein Gesicht zierten Bartflaum und Pickel. Er war zwei Jahre älter als Dreck, einen Kopf größer und schaute auf ihn herab.
"Es ist Soljanka." Dreck blickte bei dieser Antwort durch die dicke Brille in seinen Teller. Den anderen Schülern am Tisch war klar, dass nun etwas passieren würde. Sie warteten gespannt. Doch für einen langen Moment passierte nichts. Eigentlich ließ Alfi keine Gelegenheit aus, Dreck unter dem Esstisch zu treten. Aber seine Füße blieben still. Sonst machte Alfi sich über jeden lustig. Doch er schwieg. Die Luft roch nach Fett und Kinderschweiß. Die Schulglocke klingelte. Da griff Alfi zu. Er war schnell. Er nutzte all seine jugendliche Kraft, die ihn frustrierte, weil er nichts mit ihr anfangen konnte. Alfi schnappte Drecks Hinterkopf und stieß ihn in den Soljankateller. Rote Suppe spritzte. Brillenglas splitterte. Dreck weinte. Wegen der Flecken auf seinem Pionierhemd musste er dann nachsitzen. Alfi bekam natürlich keinen Ärger. Niemand petzte! Das war, erinnerte sich Heinrich wieder, das oberste Gebot in der Schulküche gewesen.
Die alte Frau vor ihm bezahlte mit einem Schein und plötzlich stand Heinrich vor der Kasse. Ihm wurden die Knie weich.
"Guten Tag." Der neue Kassierer blickte nicht auf. Die Kasse begann zu piepen.
Heinrich zwang sich zu einem Lächeln. Er sah, wie schlecht rasiert das Gesicht des Kassierers war. Unter dem billigen Firmen-Hemd ahnte er starke Muskeln. Es ist dreißig Jahre her, dachte er noch einmal. Dreißig Jahre fühlten sich plötzlich gar nicht so lang an.
Unsicher blickte Heinrich zu der alten Frau. Die packte Erbsentüten in ihren Trolley. Vielleicht ließ sie etwas fallen. Vielleicht konnte er ihr helfen und so von hier fliehen. Die Kasse piepte. Seine Hände schwitzten. Er war doch Herr Heinrich, mit dem Alter schon etwas kurzsichtig geworden, aber erfolgreicher Geschäftsmann. Alle mochten ihn. Sein Anzug saß makellos. Das war er! Aber konnte man vielleicht doch noch den Schüler in ihm erkennen? Auf der teuren Weinflasche suchte der Kassierer nach einem Barcode. Piep.
"Das macht achtunddreißig Euro siebzig."
"Vielen Dank! Kartenzahlung, bitte." Heinrichs Hand zitterte, als er mit seinem Namen unterschreiben musste. Ruhig bleiben. Lächeln! Doch konnte er nicht verhindern, dass seine Augen zum Namensschild des Verkäufers wanderten: Volker Waldreck. Seinen eigenen Namen schrieb er so undeutlich wie möglich: Alfons Heinrich. Wenigstens trug der Kassierer keine Brille. Heinrich hoffte inständig, dass Dreck nicht heutzutage Kontaktlinsen verwendete.
 

Matula

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Zwecks ausgleichender Gerechtigkeit würde man die Figuren gern austauschen, aber so läuft es leider nicht. Ich tröste mich damit, dass Alfi wenigstens zu seinen Gästen liebenswürdig ist.

Herzliche Grüße,
Matula
 

lietzensee

Mitglied
Hallo SilberneDelfine, hallo Matula,
vielen Dank für eure Bewertungen und freundlichen Kommentare. Bei der Wendung war ich mir tatsächlich nicht sicher, ob sie schwer verständlich oder vielleicht sogar übermäßig erklärt ist.
Und ja, ausgleichende Gerechtigkeit gibt es selten im Leben. Ich wollte Alfi auch nicht als einen bösen Menschen zeigen, nur halt als feige.

Viele Grüße an euch
lietzensee
 



 
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