Drei Friedhöfe

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St. Johannis ist ein spätmittelalterlicher Friedhof in Nürnberg. Er lag lange vor der Stadt, heute umgibt ihn eine der älteren Vorstädte mit hohen Mietshäusern. Der Autoverkehr neben dem Friedhof ist dicht und laut, Straßenbahnen rattern vorbei. Der Friedhof St. Johannis ist nicht von unserer Welt.

Natürlich, das Dürergrab ... Aber deshalb müssen Sie nicht hin. Es gibt dort viele Patriziergräber aus Dürers Zeit, die die Zeiten überdauert haben. Jede Grabstelle ist vollkommen abgedeckt von ihrer Steinplatte, kein Stück Erde bleibt frei. Der Raum zwischen den Gräbern ist abgestreut. Es sieht aus, als warteten alle unter ihrer Grabplatte auf den Jüngsten Tag. Am Tag des Gerichts öffnen sich die Gräber, die Steinplatten heben sich, die Skelette steigen heraus. Die Zeit beginnt rückwärts zu laufen. Dürer steht als junger Mann vor seinem Selbstbildnis, es wird zur Skizze, zur leeren Leinwand ... Halt, halt!

Außerdem müssten am Jüngsten Tag erst die Blumentöpfe weggeräumt werden. Da es keinen freien Fleck Erde gibt, sind alle Pflanzen in Töpfen auf den Grabplatten untergebracht. Es sind vor allem Geranien, eine Farbsymphonie aus Rot, Rosa und Weiß auf den grauen Steinen. Kein Blau, kein Gelb. Gehen Sie im Sommer hin und lassen Sie den Anblick auf sich wirken. Ein Bild wie von Milch und Blut, wie das Leben selbst.

Aus den Gräbern, unter den Steinplatten wachsen Rosenstöcke zur Seite heraus, uralte, sehr knorrige Rosenstöcke. Auch sie blühen rot, rosa, weiß neben den grauen Steinen. Ein Bild von Schönheit und Dauer, selten schön.


Der Heidelberger Bergfriedhof beginnt in der Rheinebene und steigt den unteren Hang des Königstuhls ein Stück an. Auf dem meterdicken Lössboden wuchert eine fast tropisch dichte Vegetation. Der Bergfriedhof ist auch einer der schönsten Botanischen Gärten Mitteleuropas. Er atmet in seiner Fülle, mit seiner Überladenheit an Monumenten den Geist der Spätromantik. Das Leben ist, auch nach dem individuellen Tod, ein unentwirrbares Rätsel, ein ewiges Labyrinth. Hier liegen die einheimischen Größen, die Professoren, hohen Beamten, reichen Kaufleute, die Generäle und die besten Ärzte ihrer Zeit. Heidelberg war, vor und nach 1900, ein beliebter Altersruhesitz. Einige adlige Großgrundbesitzer haben sich hier ihre Grabkapelle errichten lassen. Man sieht viele geborstene Säulen. Ein Kruzifix verrät, dass Reichspräsident Ebert, der Sozialdemokrat, katholischer Herkunft war.

Beim Umherwandern verstieß ich ungewollt gegen ein Verbot. Man darf die jüdische Abteilung nur mit Genehmigung der Kultusgemeinde betreten. So las ich es später am Haupteingang zu dieser Abteilung. Ich näherte mich ihr jedoch an einem Nebenzugang. Er war offen, ein Hinweis auf das Verbot fehlte. Ich ging weiter und sah mich um. Die jüdischen Gräber sind zumeist gut instandgehalten. Man kann feststellen, wie die hebräische Schrift um 1900 allmählich der lateinischen wich. Auffällig ist, dass auf den jüdischen Gräbern Amts- oder Berufsbezeichnungen weitgehend fehlen. Anders bei den Gojims: Dort bleibt ein Ordentlicher Professor auch nach seinem Ableben ein solcher, ebenso der Hauptpastor, der Oberlandesgerichtspräsident usw. Hinter manchen jüdischen Namen fehlen Sterbedatum und -ort. Dafür z.B. der Hinweis: Verschollen 1943 in Frankreich.


Geborstene Säulen fehlen auf dem Friedhof Stöcken in Hannover fast ganz. Auch dieser Friedhof stammt aus dem späten 19. Jahrhundert. Er ist heute ein weiter Parkfriedhof mit großen und kleinen Wiesenflächen zwischen alten Baumgruppen und Wänden aus Blütensträuchern. An den Hauptalleen haben sich zahlreiche Gräber aus Großväter- und Urgroßväterzeit erhalten. Ich spreche von dem sehr gehobenen Bürgertum der Stadt damals: Großindustrielle, vermögende Kaufleute, hohe Militärs. Auch ein Pastor von St. Ägidien, als die Kirche noch nicht Ruine war, liegt unter ihnen. Die Grabdenkmäler sind preußisch schlicht und verraten zugleich das barocke hannöversche Erbe. Man weiß, was man sich schuldig ist – aber alles mit Maß.

Aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gibt es eine makabre Sehenswürdigkeit: die Grab- und Gedenkstätte der Opfer des Massenmörders Haarmann. Richtig, der mit dem Hackebeilchen ... Die dreiflüglige Steintafel imitiert ein Gefallenendenkmal aus gleicher Zeit. Siebenundzwanzig Namen stehen darauf. So viele waren es?! Der Älteste war zweiundzwanzig, der Jüngste zehn. Als meine Mutter ein kleines Kind war, wurde ihr ab und zu mit Haarmann gedroht, sollte sie nicht artig sein. Der schon tote Knabenmörder als Kinderschreck für ein kleines Mädchen - die wahren Schrecken lernen wir später selbst kennen.

Es gibt auch einen See mit einer Toteninsel, wie von Böcklin. Ein einsamer Schwan zieht auf dem See seine Kreise. Entdeckt er einen neuen Friedhofsbesucher am Ufer, rudert er rasch auf ihn zu. Will er sich als Transportmittel zur Verfügung stellen? Lohengrins Schwan als Charons Nachen? Niemand will zur Toteninsel übergesetzt werden. Der Schwan dreht ab und hält weiter Ausschau.
 

Wladimir

Mitglied
Lieber Arno Abendschön, habe es gerne gelesen, schön geschrieben. Unregelmäßig kommt ein 'Ich' vor, das weckt Erwartungen an den Text. Er endet mit Schwan und 'man'. Um Weiterzuarbeiten müsste 'man' da tiefer gehen.
 
Danke, Wladimir, für die freundliche Aufnahme des Textes. Die Schwan-Impression soll hier eine Art "Rausschmeißer" sein in dem Sinne, dass der Berichterstatter genügend Friedhofseindrücke gesammelt hat. Vielleicht hätte ich den vorletzten Satz besser so formuliert: "Keiner will jetzt zur Toteninsel übergesetzt werden, auch ich nicht."
 



 
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