Drei in sechs Stunden

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GerRey

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Manchmal kommt es zu Begegnungen oder Begebenheiten, die keine große Bedeutung haben, aber dennoch leichte Verwunderung hinterlassen, sodass sie nicht sofort vollständig aus der Atmosphäre des Bewusstseins abgleiten, sondern allmählich in ihr verglühen. Aus ihnen entstehen Anekdoten, die, je öfter man sie hervorholt und erzählt, immer ein bisschen breiter und schöner werden. Wie Schnipsel, die man ungerne wegwirft, bewahrt man sie auf - in der Hoffnung, ihnen eines Tages Glanz in einem größeren Rahmen zu verschaffen. Meist bleibt es aber nur bei der Hoffnung, die eine leichte Wehmut auslöst, eine Wehmut wie die nach schönen, unnahbaren Frauen.

1.

Es ist Anfang Jänner, das Jahr noch keine Heiligen Drei Könige alt. Sonntag. Ich verlasse das Haus wie üblich gegen 16:15 Uhr, um zur Arbeit zu fahren. Es hat neun oder zehn Grad plus - eine Realität, die in den letzten Jahren zugenommen hat. Früher wurde es zu dieser Jahreszeit oft klirrend kalt, sodass man manchmal sogar fürchtete, die Wasserrohre im Haus könnten einfrieren und beim Auftauen platzen.
An der Kreuzung entdecke ich drei Buben, die im verdorrten Gras, das man kurz vor dem Winter noch einmal geschnitten hat, hinter der Busstation hocken. Da ich zwischen ihnen etwas Helles aufblitzen sehe, vermute ich bereits aus einiger Entfernung, dass sie mit Silvesterkrachern spielen, und bin auf einen lauten Knall gefasst, weil ich die Gfraster kenne - war ich doch selber einmal eines. Aber es explodiert nichts, je näher ich komme. Sie sprengen weder sich noch mich in die Luft. Als ich die Autobusstation passiert habe, sitzen die drei Knaben keine zwei Meter von mir entfernt im braunen Gras. Neben sich haben sie einen gelben Metalldetektor liegen (zuerst hatte ich sie als Gruppe vor mir; wahrscheinlich leuchtete das Gelb des Suchgerätes zwischen ihnen hervor, sodass ich annahm, sie würden hier konspirativ zündeln).
Beim Anblick der Sonde, muss ich lachen. Sie ist wahrscheinlich ein Weihnachtsgeschenk, das sogleich ausprobiert und Teil der spitzbübischen Entdeckergeschichte geworden ist. Die Gschrappen sind nicht dumm; hier stand bis vor zwei, drei Jahren ein altes Eckhaus, das mehr als vierzig Jahre unbewohnt und angeblich ein Spekulationsobjekt war, weil man dort einen Supermarkt bauen wollte. Da man sich aber nicht einigen konnte, blieben in den Fenstern die Rollos dauerhaft heruntergelassen und wurden von der Witterung braun und fleckig. Der Putz bröckelte an der Fassade; in den Mauern entstanden teilweise fingerdicke Risse. Einzig das doppelflügelige, schwere Holztor, das mit seinen Verzierungen aus der Gründerzeit stammte, blieb eine Schönheit. Was man beim Abbruch des Hauses wohl damit gemacht hat?
Jetzt ist das ehemalige Anwesen am Rande eines Feldes eine kleine Wiese mit Bäumen, die da schon hoch waren, als das Grundstück noch von einer Mauer umfasst war. Zu den beiden Straßenseiten hin, hat man Plakatwände aufgestellt, die eine breit angelegte Aktion der “Kinderhilfe” zeigen - der Rest mündet frei in den Acker. Ich kann mich erinnern, dass die letzte Besitzerin, die in dem Haus gewohnt hat, eine alte, dürre Frau war - aber wie sie hieß, weiß ich nicht mehr; da war ich selber noch in dem Alter dieser drei Acht- bis Neunjährigen.
“Nau hobt ‘s scho’ an Schotz g’fund’n?” frage ich in gepflegtem Dialekt die im Gras kauernde Runde.
“Nur einen alten Nagel”, sagt geschäftig einer der Jungen im schönsten Schriftdeutsch. Dabei fasst er den neben sich am Boden liegenden rostigen, stark verbogenen Hunderter-Eisennagel und hebt ihn mir zur Ansicht entgegen.
Ich muss erneut lachen und winke mit der Hand ab. Hätte in diesem Alter jemand mit mir so gesprochen wie der Bursche jetzt geantwortet hat, hätte ich einen Dolmetscher gebraucht. Niemand von uns sprach außerhalb der Schule so geschwollen. Heutzutage ist das wohl umgekehrt.

2.

Etwa eine Stunde später steige ich an meinem Zielort aus der S-Bahn. Der Bahnhof ist unterirdisch. Gerade mal eine Handvoll Reisende streben nach der Rolltreppe, die steil nach oben führt. Ungefähr zehn Meter vor mir geht ein junger Mann ebenfalls auf die Rolltreppe zu. Ihm steht das blonde Haar wirr vom Kopf; er trägt eine dunkelgraue Jacke und eine schwarze Jogginghose; seine Füße sind nackt. In der Hand hält er ein durchsichtiges Plastiksackerl, in dem zwei Wurstsemmeln und eine Getränkepackung Fruchtsaft sind.
Meine Schritte werden langsamer, als mein Blick auf die schwarzen Fußsohlen fällt.
(Neun bis zehn Grad plus!)
Plötzlich stockt der Kerl. Scheinbar will er nicht auf die Rolltreppe, kann sich aber trotzdem nicht entscheiden, den Weg zum Aufzug, der hinter der Rolltreppe liegt, zu nehmen.
Ich werde noch langsamer, weil ich den Entscheidungsprozess abwarten will. Aber als er schon den Weg zum Lift eingeschlagen hat, entscheidet er sich noch einmal um und nimmt dann doch die Rolltreppe. Wahrscheinlich erschienen ihm ursprünglich die hart nebeneinanderliegenden Eisenrillen der Treppe zu anspruchsvoll, um ihnen mit nackten Sohlen im Aufstieg zu folgen. Aber jetzt nimmt er diese Hürde tapfer und bleibt vier oder fünf Stufen oberhalb von mir stehen, während ich mich frage, ob die Distanz zwischen uns ausreichend ist.
Langsam geht es nach oben. Ich wage ihn nicht zu überholen. Schließlich kommt er vor mir oben an und geht auf dem schmutzigen Fliesenboden zum Ausgang der gläsernen Überdachung. Als gleich darauf auch ich zum Endpunkt der Treppenreise gelange, sehe ich, wie er rechts nach draußen abgeht, während meine erwählte Seite die linke ist. Verwundert bemerke ich noch, wie er an einem Gratiszeitung-Behälter vorbei geht und - da stehen Sportschuhe, so als hätte sie dort jemand eilig ausgezogen, um ohne Schuhe rascher abhauen zu können. Im Zusammenhang mit Gratiszeitung, die mehrere Tage alt ist? frage ich mich zweifelnd. Oder ließ die Schuhe dort etwa der Typ, der eben bloßfüßig mit mir hochgekommen ist? Aber er geht doch daran achtlos vorbei. Außerdem ist er aus der Bahn gestiegen. Ich habe ihn dort gesehen. Ist das versteckte Kamera - oder was?
Der Mann verschwindet - die Schuhe bleiben.

3.

Es ist ein paar Minuten nach 22 Uhr. Ich gehe den abschüssigen Weg zum Parkdeck hinunter. Die Temperatur ist immer noch frühlingshaft; die Umgebung ruhig: Alles wirkt wie ausgestorben. Auf der Hälfte des Weges, bemerke ich zwei hellere Lichtstrahlen, die aus der Parkgarage, in der immer die Notbeleuhtung brennt, auf die Zufahrt heraus strahlen und sich gleich darauf langsam nach rechts abwenden. Wer kurvt hier so spät noch herum? frage ich mich und beschleunige neugierig meine Schritte. In der Einfahrt angekommen, sehe ich auf der darüberliegenden Etage einen weißen Renault gemächlich herankommen. Ich warte an der Mündung der Abfahrt. Der Wagen rollt langsam herunter und hält auf meiner Höhe. Das Fenster auf der Beifahrerseite, an der ich stehe, senkt sich zur Hälfte. Nach einem Grußwechsel frage ich den dunkelhaarigen jungen Mann, warum er hier - auf einem Privatgelände - herumfährt.
“Ich kontrolliere, ob irgendwo Graffitis aufgesprayt wurden, um sie - gegebenenfalls - zur Anzeige zu bringen”, sagt er durch das geöffnete Seitenfenster.
Ich bleibe auf Distanz.
“Wieso Graffitis?” frage ich verwundert. “Haben sie schon das Treppenhaus kontrolliert?”
“Das habe ich gestern gemacht”, antwortet er selbstbewusst, als wäre die Sache damit erledigt. “Dort hat es nach Marihuana gerochen.”
“Marihuana?” frage ich, übertrieben überrascht. “Wir haben hier ein Problem mit Jugendlichen aus dem nahen Gemeindebau. Sie halten sich in dem Stiegenhaus unerlaubt auf, rauchen Zigaretten und hinterlassen ihren Müll. Auch zwei, drei Feuerlöscher aus der Einrichtung der Garage haben sie dort drin schon unnötig versprüht. Die Reinigung des Treppenhauses und die Wiederbefüllung der Feuerlöscher kostet Geld. Von Marihuana oder Graffitis war nie die Rede.”
“Ja”, sagt er darauf und wendet den Blick schnell ab, um dem unangenehmen Teil des Gesprächs auszuweichen. “Ich muss weiter.”
Das Seitenfenster geht wieder hoch. Der junge Mann blickt nun geradeaus und lässt das Auto anfahren. Verdutzt wegen des abrupt abgebrochenen Gespräches, hebe ich die Hand zum zögerlichen Gruß. Das Auto verschwindet auf der Zufahrtsstraße. Ich gehe ganz nach oben, betrete das Stiegenhaus und laufe die Stufen bis hinunter durch. Es wundert mich immer wieder, dass die Jugendlichen sich hier so gerne aufhalten. Auch Mädchen sind dabei.
Staub, von Feuchtigkeit verschmiert, und Trittspuren. Überall liegen Zigarettenreste, Getränkedosen, Papierfetzen. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch, abgestandener Luft und Urin.
Marihuana! denke ich belustigt. Wo hat der das erkannt?
Als ich unten aus dem Stiegenhaus trete, lache ich auf, weil vor meinem inneren Blick das abgewandte Gesicht von “007” erscheint, wie er seine Aufmerksamkeit auf das Wegfahren konzentriert. Dann murmle ich der Schimäre nach, die eben wieder durch die feuchte Kühle des Unterdecks entschwindet:
“Ich habe schon Marihuana geraucht, da hat dein Vater noch seine Windeln vollgemacht!”
 



 
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