Drittes Kapitel

Drittes Kapitel


Ich weiß es noch wie heute, wie er da stand, im blauen Pyjama, in Tränen aufgelöst. Der Arzt hatte ihm die Diagnose noch am Wochenende mitgeteilt. Von da an ging es rapide bergab mit Gerd. Er musste den ganzen Tag nur husten, hörte nicht mehr auf zu weinen. Ich fragte ihn, ob das hülfe, und er meinte nur: „Das ist der Stuhlgang der Seele.“ Dann fing er an, Blut zu spucken. Zu diesem Zeitpunkt war mir schon klar, dass er bald sterben würde. Der Tumor saß in den Bronchien, eine Operation schien nicht möglich. Er lag den ganzen Tag im Bett, war schwer depressiv. Gerd bildete sich ein, in seinem Leben nichts erreicht zu haben. Bis zuletzt quälte ihn die Angst, dass meine Mutter ihn verlassen könnte. Der Arzt kam mehrmals auf Hausbesuch, ihm wurde schlecht, als er sah, wie Gerd seine Lunge aushustete. Einmal hatte er einen Krampf und fiel in Panik. Es musste immer jemand da sein, der ans Telefon gehen konnte. Dann bekam er den ersten Erstickungsanfall. Der Arzt wies ihn in die Bonner Robert-Janker-Klinik ein. Dort war es beklemmend, mehrere Krebspatienten lagen auf einem Zimmer, alle rechneten mit einem baldigen Abgang. Mehrmals bekam Gerd keine Luft mehr, und die Pfleger rannten herbei, um ihn ins Sauerstoffzelt zu verlegen. Die Ärzte entschieden sich jetzt doch, eine Operation zu wagen, aber als sie seine Brust öffneten, sahen sie, dass hier nichts mehr zu machen war. Meine Mutter verbrachte die letzte Nacht an seinem Sterbebett. Meine Schwester und ich kamen zu spät.
Da lag er nun in seinem Krankenbett, im Schlafanzug, das Gesicht wächsern, der Körper aufgeschwemmt. Meine Mutter drückte ihm noch einen Kuss auf die Stirn, dann machten wir kehrt. Zu Hause erledigten wir die nötigen Telefonate. Ein Leichenbestatter holt Gerd aus der Klinik ab, wir schrieben einen Stapel Trauerbriefe. Nun war mein Vater aus der Kirche ausgetreten, und wir wussten nicht, wer ein paar letzte Worte bei seiner Bestattung sprechen könnte. Der Leichenbestatter empfahl uns einen freikirchlichen Pfarrer. Die Musik auf der Beerdigung spielte eine Jazzband. Gerd hatte sich in seinen letzten Lebenstagen gewünscht, dass zu seiner Bestattung New-Orleans-Jazz gespielt wurde. Die Musik war herzzerreißend, aber der Pfarrer redete nur Unsinn. Als er ausgesprochen hatte, meinte meine Mutter: „Das vergessen wir am besten ganz schnell, was er gesagt hat.“
Aber das Leben ging weiter, es war seltsam einfach ohne den Vater. Vielleicht lag es auch daran, dass meine Sympathien immer bei Jascho gelegen hatten. Jetzt waren sie beide über den Jordan, Jascho und Gerd, und es war niemand da, der mir hätte helfen können. Ich ging weiter zu den Vorlesungen an der Fachhochschule und machte meine ersten Scheine. Statt mir eine Kommilitonin anzulachen, baute ich mir ein Wolkenschloss. Ich wollte nur Sophie als Freundin, aber die liebte ihren Roland und wies mich kurzerhand ab. Wochenlang terrorisierte ich sie mit Briefen, aber als dann endlich eine Antwort kam, wollte ich diese schon gar nicht mehr lesen. Zu allem Überfluss bekam ich dann noch eine Mittelohrentzündung. Aber das ging vorbei, und irgendwann begriff ich dann endlich, dass von Sophie nichts mehr zu erwarten war. Dann kamen die Semesterferien.
Nach dem ersten Studienjahr an der Fachhochschule stand ein zweisemestriger Aufenthalt in Aix-en-Provence auf dem Programm. Ich wollte schon einmal die Lage erkunden und fuhr nach Südfrankreich. Aber ach – es war ein trauriges Rendezvous. Dort, wo vor zwei Jahren noch dichte Kiefernwälder gestanden hatten, war jetzt nur noch verbrannte Erde und Ruß. Ich erinnerte mich an die Radiomeldung über die Waldbrände vom Vorjahr. Später ließ ich mir vom Herbergsvater in Cassis ein paar alte Zeitungsausschnitte geben, die sich mit dem Waldbrand beschäftigten. Es hieß, der Brand sei in einem Vorort von Marseille entstanden, genau genommen in einer Psychiatrischen Anstalt, wo ein Irrer im Vorgarten eine Zeitung in Brand gesetzt hatte. Die Hügel über dem Meer waren im Sommer knochentrocken und glühten vor Hitze. Der heftige Mistral hatte das Feuer vermutlich noch angefacht. Nur die Jugendherberge war verschont geblieben. Ich erholte mich zwei Wochen lang in den Calanques von Cassis, bevor das Semester wieder anfing.
Es ging auf den Sommer zu, und ich bereitete mich auf den Studienaufenthalt in Frankreich vor. Ich hatte das Glück, einen Wohnheimplatz in Aix-en-Provence zugewiesen zu bekommen. Ich schaffte alle nötigen Scheine und hatte in dem ersten Studienjahr viel gelernt. Ich war auch recht fleißig, nur manchmal verfiel ich in Trübsinn. Dann holte ich mir eine Flasche Moselwein aus dem Schrank, Gerd hatte noch eine ganze Kiste zurückgelassen. Vorher hatte ich nie Alkohol getrunken, aber es war ein schönes Gefühl, für ein paar Stunden alles zu vergessen, obwohl am nächsten Tag das Leben ja weiterging.
Dann kamen die Semesterferien, und ich überlegte hin und her, was ich wohl tun könne. Ich wollte nach Spanien, den Jakobsweg erkunden. Zunächst dachte ich daran, mit dem Auto zu fahren. Meine Tante wunderte sich: „Dann bist du ja doch bequemer geworden.“
Dieser Einwand war zu viel für mich, und ich entschied mich kurzerhand, noch mal einen Fahrradurlaub in Angriff zu nehmen. Ich wollte von Toulouse aus über die Pyrenäen nach Jaca. Die Strecke führte über den 1792 Meter hohen Col de Portalet. Zu meinem Pech hatte ich den Drahtesel aber völlig überladen und schraubte mich unter Aufbietung aller Kräfte die Serpentinen hoch. Der Grenzer winkte mich durch, und dann ging es 50 Kilometer lang bergab, bis ich in Jaca ankam und dort auf einem Campingplatz mein Zelt aufschlug. Zwei Tage später rollte die Tour de France durch die Pyrenäen. Ich hatte das Glück, die Zielankunft live mitzuerleben. Miguel Indurain gewann die Etappe. Es war ein großes Brimborium. Eine riesige Leinwand übertrug das Rennen, die Werbekarawane zog vorbei, T-Shirts und Andenken wurden verkauft. Am darauffolgenden Tag zog der ganze Tross weiter, und es kehrte wieder Ruhe ein. Ich fuhr über den Jakobsweg weiter bis zu den Picos de Europeo. In Oviedo endete mein Urlaub. Drei Wochen lang hatte ich mit keinem Menschen gesprochen, ich war schon wieder psychisch angeschlagen. Zudem nahm ich auch keine Medikamente mehr, da der Neurologe in Köln mir empfohlen hatte, die Depotspritzen abzusetzen. Er meinte, ich käme auch so schon zurecht.
Als ich in Oviedo am Bahnsteig stand, wurde ich von einem Polizisten in voller Montur kontrolliert. Er zeigte seine Dienstmarke, schnappte sich meinen Pass und verschwand auf der Wache. Ich protestierte. „Gleich kommt mein Zug, ich brauche den Pass wieder.“
Er beschwichtigte mich. „Noch einen Moment.“ Er gab telefonisch meine Daten an die Zentrale weiter und bekam dann grünes Licht. Als der Zug in den Bahnhof einrollte, drückte er mir den Pass wieder in die Hand. Ich lud mein Fahrrad ins Gepäckabteil und machte mich auf eine sechsstündige Fahrt bis nach San Sebastian gefasst. „Blümchenpflücken während der Fahrt verboten“, stand in dem Reiseführer. Zu allem Überfluss demolierten die Spanier auf dem Transport das Rad. Als ich in San Sebastian ankam, war die Felge ruiniert, der Lenker verbogen, und das Lenkerband hing in Fetzen. Das Zugpersonal gab mir zu verstehen, ich sollte ohne das Rad weiterfahren. Der Göppel würde auf Kosten der RENFE repariert und dann nach Köln transportiert. Ich ließ mich auf den Handel ein, aber es sollte tatsächlich noch vier Wochen dauern, bis mein Bike am Kölner Hauptbahnhof eintrudelte. Bis das Studium in Aix-en-Provence beginnen sollte, hatte ich noch ein paar Wochen Zeit, die ich damit verbrachte, in einer Miederwarenfabrik im Kölner Norden zu jobben.
Als es dann so weit war, parkte meine Schwester den Golf vor dem Studentenwohnheim, und mit vereinten Kräften luden wir die Kartons in das Auto und befestigten das Fahrrad auf dem Dachgepäckträger. Sie hatte mir angeboten, mich über die Schweiz nach Aix-en-Provence zu fahren. Im ganzen waren wir drei Tage unterwegs, da wir zwischendurch noch Halt in Freiburg und ich Zürich machten. Meine Schwester stellte das Auto auf dem Campingplatz ab, und ich fuhr mit den Papieren zu dem Wohnheim, um die Zimmerübergabe abzuwickeln. Es lief problemlos. Am anderen Tag luden wir das Gepäck aus dem Auto, und meine Schwester machte sich auf den Heimweg. Nun war ich auf mich selbst gestellt. Meine Kommilitoninnen kamen ebenfalls nach und nach angereist, die meisten wohnten auch im Wohnheim, einige hatten eine Privatunterkunft. Das Wetter war traumhaft, die Temperaturen im Herbst lagen deutlich höher als in Deutschland. Das Zimmer im Wohnheim war gemütlich, nur die Putzkolonne störte. Jeden Morgen kam die Putzfrau auf das Zimmer und leerte den Mülleimer. Sie kontrollierten immer, ob alles in Ordnung war, von daher war es einfach unmöglich, einmal länger auszuschlafen. Ernähren konnte man sich billig in der Mensa, sonst gab es in der Nähe einige Supermärkte. Man traf sich auch regelmäßig im Waschsalon, denn in dem Wohnheim gab es keine Waschmaschinen. Also spannten wir eine Leine quer durchs Zimmer, um dort die Wäsche zu trocknen. Es gab ein kleines Kino in der Stadt und eine Flanierstraße, den Cours Mirabeau, auf dem man sich einmal am Tag blicken ließ. Dann begannen die Vorlesungen.
Der Unterricht fand in französischer Sprache statt. Das Problem war, dass wir auch Übersetzungen vom Französischen ins Englische anfertigen mussten und umgekehrt. Zudem gab es Kurse in Recht, VWL und BWL sowie Grammatik und Landeskunde. Nach zwei Wochen warf ich das Handtuch. Ich nahm keine Psychopharmaka mehr und reagierte psychotisch. Eine Kommilitonin fragte, was denn los sei, und ich sagte: „Ich geh jetzt erst einmal zwei Wochen auf Tauchstation.“
Ich versuchte, einen Arzt zu finden, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. In den Gelben Seiten fand ich einen Psychologen, der gerade eine Sitzung abhielt, als ich dort aufkreuzte. Er gab mir eine Telefonnummer sowie eine Adresse und sagte, „c’est un dispensaire.“ Dort könne ich meine Medikamente bekommen.
Ich wählte die Telefonnummer, dort meldete sich eine junge Frau. Ich hatte noch keinen Ton gesagt, da fragte sie: „Voulez-vous monter un cheval?“
Ich staunte Bauklötze. Es musste so eine Art Puff sein, ich blickte nicht ganz durch. Ich ließ mir einen Termin geben, und als ich die Praxis betrat, wickelte mich die Prostituierte um den Finger. Ich ließ mir Honig um den Bart schmieren und bekam ein Rezept für Schlaftabletten ausgehändigt. Das half natürlich überhaupt nichts. Ich ging wieder auf mein Zimmer und drehte nun völlig ab. Ich glaubte, mein Kassettenrekorder spiele von alleine Musik. Der französische Geheimdienst hatte mich in meiner Phantasie im Visier. Die Plakate, die ich an die Zimmerwände gehängt hatte, grinsten mich nachts fahl an. Ich glaubte, ich würde von Videokameras überwacht. Also ging ich spät abends bei zwei Kommilitoninnen vorbei, die ein Studio in der Stadt gemietet hatten, und fragte, ob ich dort eine Nacht verbringen könnte. Sie erlaubten es mir, wollten aber wissen, was los war. Ich erzählte von meiner Schizophrenie. Die beiden Mädchen meinten, sie würden für mich einen Arzt finden, aber nun checkte ich überhaupt nichts mehr. Ich redete wirres Zeug von Aids und dem Geheimdienst sowie von meiner Kindheit. In der Psychose beschuldigte ich Gerd, mich als Kind sexuell missbraucht zu haben. Nun konnte er sich nicht mehr wehren, da er im Jahr davor gestorben war.
Meine Kommilitoninnen packte die Angst, als ich immer mehr in Fahrt geriet. Sie waren wohl froh, als ich am nächsten Morgen das Weite suchte. Ich nahm den ersten Zug nach Paris. Ich bildete mir ein, vom Geheimdienst verfolgt zu werden und glaubte, meine Familie sei in Bedrängnis. Zu den unmöglichsten Zeiten rief ich daheim an, so dass meine Angehörigen sich schreckliche Sorgen machten. Ich hatte keinerlei Gepäck dabei und irrte planlos über den Gare du Nord. Es war schon spät. Ich entschloss mich, ein Hotelzimmer zu buchen. Geld hatte ich zur Genüge dabei. In der Nähe des Bahnhofes fand ich ein kleines Hotel, wo ich mich für ein paar Nächte einquartierte. Ich fragte den Portier, ob er mir helfen könnte. Ich hätte psychische Probleme und suchte einen Arzt. Er schüttelte nur den Kopf. „Wenn Sie Probleme haben, reden Sie doch mit den Leuten auf der Straße.“
In den oberen Zimmern ging es rund, und ich veranstaltete ebenfalls ein Höllenspektakel. Ich dachte, es wäre Besuch gekommen, und suchte das ganze Zimmer ab. Dann legte ich mich ins Bett und redete leise vor mich hin. Im Nebenzimmer saß jemand am Schreibtisch, rauchte eine Kippe nach der anderen, sagte keinen Ton. Man konnte die Glut der Zigarette im Dunkeln sehen. Ich wählte die Nummer der Rezeption, legte wieder auf. Dann ging ich eine Treppe höher. Dort saß eine deutsche Touristin, die penetrant nach Parfüm roch. Nebenan wurde eine Nummer geschoben. Ich ging wieder in mein Zimmer, versuchte zu schlafen. Vergeblich. Zu essen hatte ich auch nichts außer einem alten Baguette. Aber das war besser als nichts. Dann kam der Morgen, und ich traute mich wieder auf die Straße. Die Bistros hatten noch geschlossen. Ziellos irrte ich durch die Stadt. Ich warf meinen Personalausweis weg, sammelte ihn dann wieder ein. Dann verspürte ich ein Bedürfnis, aber weit und breit gab es keine öffentliche Toilette. Also verrichtete ich meine Notdurft an einer Straßenecke. Ein Briefträger kam vorbei, und eine alte Französin zischte ein paar böse Worte. Gegen Abend streunte ich durch das Chinesenviertel an der Porte de Choisy. Ich betrat einen Jeansladen und kaufte eine neue Jeans. Die alte warf ich in die nächste Mülltonne.
Plötzlich bemerkte ich, wie auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Schlägerei im Gange war. Ich warf mich dazwischen. Die beiden Kontrahenten stachen mit Messern aufeinander ein. Blut tropfte auf meinen Pullover. Dann suchten beide das Weite, da sie glaubten, die Polizei sei gleich da. An einer Straßenecke stand ein Abschleppwagen. Ich stieg zu dem Fahrer in die Kanzel, und er fing an zu schimpfen: „Was haben Sie sich dabei gedacht – so etwas ist doch Sache der Polizei!“ Er deutete auf meinen Pullover: „Sie hätten sich dabei Aids holen können!“
Ich kletterte wieder aus dem Fahrerhaus und fand tatsächlich den Weg zurück zu dem Hotel. Wieder verbrachte ich eine schlaflose Nacht in dem Hotelzimmer. Am anderen Morgen ging ich zur nächsten Bäckerei und trank einen Kaffee im Stehen. Ich rief meine Mutter in Köln an, hängte dann den Hörer ein. Jetzt hatte ich Angst, ich könnte mich mit HIV infiziert haben. Ich fand den Weg zu einem Krankenhaus, wo ich fragen wollte, ob sie mich aufnehmen könnten. Der Pförtner an der Rezeption runzelte nur die Stirn und ließ mich warten. Ich fasste das als Absage auf und suchte das Weite. Gegen Abend streunte ich am Montmartre herum, als mich ein Passant ansprach: "Ich wohne selbst noch nicht so lange in Paris und weiß, wie es ist, in einer fremden Stadt anzukommen und keinen Ansprechpartner zu haben. Kommen Sie mit, ich werde Ihnen helfen.“
Ich war erleichtert. Später überlegte ich mir, ob es vielleicht ein verdeckter Ermittler war, der mich beobachtet hatte, aber das sollte ich wohl nie herausfinden. Er ging mit mir auf die nächste Wache und redete ein paar Worte mit den Polizisten. Ein Krankenwagen kam angebraust, und ich wurde zur nächsten Ambulanz gebracht.
Ein Pfleger bot mir einen Kaffee an und fragte mich, was mir fehlte. Ich erzählte wirres Zeug. Er hängte sich ans Telefon, und bald darauf kamen mich zwei weitere Pfleger abholen. Es ging quer durch die Stadt bis nach Paris-Neuilly. Endstation Maison Blanche. Dies war wohl die übelste Anstalt von ganz Westeuropa. Die Pfleger nahmen mir meine Papiere und das Geld ab. Ich musste meine Kleider ablegen und bekam einen Schlafanzug dafür. Dann verabreichten sie mir einen Tranquilizer. Einer der Pfleger zählte das Geld und knurrte: „On va te donner le Prix Nobel.“
Offensichtlich hatten sie sich dazu entschieden, sich an mir zu bereichern. Sie sperrten mich in ein düsteres Zimmer und herrschten mich an, ich solle mich schlafen legen. Ich protestierte, aber durch den Tranquilizer war ich so geschwächt, dass mir nichts anderes übrig blieb, als mich ins Bett zu legen. Ich fiel in bleiernen Schlaf. Gegen Morgen wurde ich wach und sah, dass ich gefangen war. Sie hatten die Tür kurzerhand abgeschlossen. Fahles Licht fiel in das Zimmer. Ich kramte einen Bleistift aus der Tasche und schmierte meinen Namen an die Tapete. Mir war sterbenselend zumute. Ich trommelte gegen die Tür. Nichts geschah. In der Ecke stand ein alter Eimer, in den ich meine Notdurft verrichtete. Dann, als ich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, kam eine Schwester und schloss die Tür auf. Ich stellte mich erst einmal unter die Dusche, aber wirklich besser fühlte ich mich nicht. Es gab Frühstück.
Die Messerstecherei vom Vortag ging mir nicht aus dem Kopf, und ich glaubte allen Ernstes, ich könnte mich mit HIV infiziert haben. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, und hängte mich stundenlang an den Wasserhahn, um alles Gift aus mir herauszuspülen. Sicher war ich schwer daneben, aber als ich mir die anderen Patienten ansah, wurde mir erst richtig schlecht. Ein hagerer Schwarzafrikaner trommelte den ganzen Tag auf der Heizung herum. Ein anderer schleppte sich auf allen vieren über den Flur, grunzte dann und wann blöde und schmierte mit dem Finger über die Wand. Eine junge Französin war spastisch gelähmt. Ein anderer sog wie eine Lokomotive an seiner Zigarette und stieß üble Schimpfwörter aus.
Eine Krankenschwester wollte mir Blut abzapfen und fand die Vene nicht. Die Ärzte ließen mich links liegen. Erst nach drei Tagen kümmerte sich jemand um mich. Ich verstand überhaupt nichts mehr, ließ mir eine Zeitung geben und malte auf den Rand „Ticket to ride“. Der Arzt nickte. „C’est ça.“
Ich sagte ihm die Telefonnummer von zu Hause. Er wählte, und ich hatte meine Mutter an der Strippe. Sie hatten sich daheim furchtbare Sorgen gemacht, da ich drei Tage verschollen war. Ich sagte, wo ich war und was mir passiert wäre, woraufhin meine Mutter erklärte, sie käme mich mit Heike zusammen abholen. „Am besten kommst du mit nach Köln, dann werden wir einen Arzt für dich finden.“ Ich willigte ein. Ein letzter Tag verstrich in Maison Blanche, dann trafen Heike und Hanna ein, und wir suchten das Weite. Mir ging es wieder etwas besser, aber ich hatte nichts anderes im Sinn, als Hanna mit alten Familiengeschichten zu quälen. „Ich glaube, ich bin eigentlich der Sohn von Jascho und nicht von Gerd.“
Hanna wiegelte ab. „Aber als du geboren wurdest, kannte ich Jascho doch noch gar nicht.“
Das war gelogen. Ich wechselte das Thema. „Wie soll es jetzt mit dem Studium weitergehen?“
„Als Erstes musst du zum Arzt. Dann sehen wir weiter. Deinen Kommilitoninnen hast du ja ganz schön Angst eingejagt. Vielleicht können sie dir die Prüfungsunterlagen zuschicken, und du kannst den Unterrichtsstoff nachholen. Aber deine Gesundheit geht vor.“
Wir fuhren mit Heikes großem Volvo zurück nach Köln. Hanna hatte einen Termin bei einem Neurologen festgemacht. Vorher gingen wir noch in einer Bäckerei frühstücken, dann hatte ich ein kurzes Gespräch mit dem Arzt. Er meinte, es sei das Beste, wenn ich einen stationären Aufenthalt anpeilen würde. Ich war einverstanden. Die Uni-Klinik lag nur ein paar Ecken weiter, und ich bekam sofort ein Bett auf einer offenen Station. Man verabreichte mir noch einmal einen Tranquilizer, und mein Kreislauf ging den Bach herunter. Auf der Station gab es nicht viel Abwechslung. Ich freundete mich mit einer Mitpatientin an, die ebenfalls eine Psychose hatte. Wir sprachen meistens auf Französisch miteinander, damit uns die anderen Patienten nicht verstehen konnten. Auf meinem Zimmer waren noch ein Zigeuner, der im Rollstuhl saß, sowie ein junger Bursche, der aus dem vierten Stock seines Wohnhauses gesprungen war. Ich telefonierte nach Südfrankreich. Meine Kommilitoninnen waren froh, dass ich einen Platz im Krankenhaus bekommen hatte. Sie schickten mir die kopierten Studienunterlagen, und ich warf ab und an einen Blick hinein. Ich hoffte, dass ich den Rückstand nachholen konnte. Bald bekam ich leichtere Medikamente und fühlte mich besser. Es war empfindlich kalt geworden, und da ich ja keine Anziehsachen mitgenommen hatte, lieh der Bruder von Heike mir seine Drachenfliegerjacke. Die zog ich mir an, wenn ich draußen spazieren ging. Vier Wochen blieb ich in der Uni-Klinik. Ich bekam viel Besuch und stabilisierte mich rasch. Der Chefarzt hätte es gerne gesehen, wenn ich noch länger dageblieben wäre, aber gemeinsam mit meiner behandelnden Ärztin kungelte ich den Entlassungstermin aus. Heike erklärte sich bereit, mich in Begleitung meiner Schwester nach Aix-en-Provence zu fahren. Wir fuhren über Paris und holten noch meine Euroscheckkarte ab, die dort auf dem Schatzamt lag. Auf der Fahrt hatte ich Fantasien, überlegte, wie es wohl wäre, bei voller Fahrt auf der Autobahn aus dem Auto zu springen. Aber diese Ideen ließen sich leicht unterdrücken.
Ich stieg in Aix aus dem Auto und fühlte mich gleich viel besser dort. Die Temperaturen waren angenehm. Heike hatte für mich einen Psychiater ausfindig gemacht, den wir gemeinsam aufsuchten. Als sie den Eindruck hatte, ich käme alleine schon zurecht, fuhren Heike und Iris zurück nach Köln. Ich versuchte, alle Vorlesungen zu besuchen, aber ich war von dem Fluanxol, das mir der Arzt verschrieben hatte, so müde, dass ich regelmäßig verschlief. In den Vorlesungen verstand ich nicht viel von dem Unterrichtsstoff, und die Übersetzungen waren auch nicht berühmt. Das Einzige, was mich noch interessierte, war, wie ich an ein Auto kommen könnte, um eine Sahara-Expedition durchzuführen. Schwer zu sagen, ob Sophie von dem Reiseunternehmen mir diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte oder ob es die Erinnerung an Jascho war. Jedenfalls hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, mit dem Auto nach Marokko zu fahren. Ich rief einen alten Schulfreund an, der einen Gesellenbrief als Kraftfahrzeugmechaniker hatte, und bat ihn, mir ein Auto zu organisieren. Geld hatte ich genug, da die Lebensversicherung von Gerd einiges abgeworfen hatte.
Dann kam das Weihnachtsfest, und alle fuhren in Urlaub nach Hause. Da ich gerade erst in Köln gewesen war, entschied ich mich, Weihnachten in der Jugendherberge von Cassis zu verbringen, wohin es einige deutsche und kanadische Touristen verschlagen hatte. Wir kochten zusammen ein Festtagsmenü, und bei einer Flasche Bandol und mit einem kleinen Tannenbaum, der von den Franzosen argwöhnisch beobachtet wurde, verbrachten wir Heiligabend. Über Sylvester war ich wieder in Aix-en-Provence. Das Wohnheim war gähnend leer, und da ich nichts zu tun hatte, malte ich mit Fensterfarben einen Schmetterling an die Eingangstür. Feuerwerk gab es keines zu bestaunen, nur an der Place de la Rotonde feuerte ein Franzose zwei Raketen ab.
Die Ferien gingen vorüber, und alle kamen aus dem Urlaub zurück. Ich fing an, die Vorlesungen zu schwänzen, und wenn es nicht mehr ging, fuhr ich wieder nach Cassis. Mein Schulfreund aus Köln fand zunächst kein Auto. Die Semesterferien rückten näher, und so willigte ich ein, als er mir vorschlug, einen alten Passat mit Dieselmotor zu erwerben. Ich fuhr mit dem TGV über Paris und Brüssel nach Köln, hob das Geld ab und bezahlte den Wagen. Zu diesem Zeitpunkt war mir schon klar, dass ich den Auslandsaufenthalt abbrechen würde. Ich freute mich, wieder nach Köln zu kommen und meine Familie wiederzusehen. In der Zeitung veröffentlichte ich ein Inserat, dass ich Mitfahrer für eine Tour nach Marokko suchte. Eine junge Studentin rief zurück, und ihrerseits trieb sie noch einen weiteren Mitfahrer auf, so dass wir schließlich zu dritt waren.
Ich peste über die Autobahn nach Aix, löste mein Zimmer auf und stellte meine Siebensachen, säuberlich in Kartons verpackt, in den Keller der Wohnung meiner Eltern. Mit meinen Mitfahrern, Andreas und Petra, traf ich mich zu einer Tasse Kaffee, und wir besprachen die Tour. Petra hatte zunächst Einwände, da sie glaubte, so kurz nach meiner psychotischen Episode sei ich noch nicht wieder auf dem Damm. Aber als Andreas zusagte, dass er mitfahren wollte, gab sie grünes Licht. Sie zog zwei billige Messingringe aus der Tasche und fragte: „Wer von euch beiden mag denn meinen Ehemann spielen?“
Sie hatte Angst, dass sie von den Marokkanern belästigt werden könnte, aber ich hatte keine Lust, mir den Ring an den Finger zu stecken, und so übernahm Andreas die Rolle. Ich ging zu Aldi und packte zwei Riesenkartons voller Lebensmittel in den Kofferraum. Auf dem Dachgepäckträger befestigte ich zwei Autoreifen, für den Fall einer Reifenpanne, sowie einen alten Benzinkanister. Sogar ein Kasten voller Werkzeug fand seinen Platz im Kofferraum, obwohl ich sicher auf dem Schlauch gestanden hätte, falls es notwendig gewesen wäre, das Auto zu reparieren.
Anfang Februar 1992 war es dann so weit. Petra bestand darauf, ihr Lieblingskissen mit auf die Tour zu nehmen, und Andreas kramte noch eine Tüte mit Musikkassetten aus dem Schrank seines WG-Zimmers. Als die erste Kassette zu dudeln begann, „ich möchte zurück auf die Straße“, waren wir schon längst auf dem Weg nach Nordafrika.
 



 
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