Du darfst auch singen

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Anonym

Gast
Du darfst auch singen



Die Wahrheit tut weh, sagst du, und drückst deine Zigarette aus. Ich lecke mir den Melonensaft von den Fingern und beschließe, dass ich dich nicht höre. Heute nicht. Ich sage dir auch nicht, dass Hoffnung ebenso weh tut. Heute will ich, dass du siehst, mit wie viel Hingabe ich esse. Ich mache es nur für dich. Der Saft läuft an meinem Kinn herab, tropft mir in den Schoß und bildet ein klebriges Rinnsal auf meinen Schenkeln. Aber du willst mich nicht anschauen. Du willst gehen. Sonst nichts.

Die Melonenschale schaukelt leer auf dem Teller. Meine Brüste schlagen schwer zurück gegen meinen Bauch, als ich mich vorbeuge, um ihrem Hin und Her ein Ende zu machen. Kannst du mich jetzt ansehen? Jetzt, wo ich dir Grund gebe, Belangloses zu sehen? Schau dich doch an, sagt dein Blick und ich sehe die Flecken auf dem Tisch, auf dem Teppich und auf mir. Sagtest du gerade Wahrheit tut weh?

Eine Höhle will ich für dich sein. Eine Höhle ohne Denken am Anfang von allem. Schwarz, dunkel und warm, in der es alles gibt, außer Spiegel. Das wird hart für dich werden, Baby, und du weißt es. Dein Schweiß stinkt nach Angst. Die Schatten werden dich jagen bis du ein Mutiger wirst oder stirbst. Komm, du darfst auch singen, wenn du dich fürchtest.

Schweigend lege ich meine klebenden Handflächen aneinander und sehe dich an. Leise beginnst du zu summen und ich bin sicher, du weißt nicht, weshalb. Eben wolltest du mich noch verlassen, aber jetzt ist es zu spät, nicht wahr? Ich will dich und deshalb lasse ich dich nicht raus, und wenn du verreckst. Ich weiß, du musst zurückweichen, damit niemand vor dir zurückweicht.

Ich habe fast Mitleid mit dir, wie du da sitzt. Die Hände in die Sessellehne gekrallt, mit weißen Nägeln und blutleeren Lippen. Deine Augen stehen an der Tür. Sehen sie schon das gelobte Land? Komm, ich zünde dir eine Laterne an, damit du dich nicht verirrst. Es ist besser, du gehst nackt.

Du leckst dir die Lippen und deine Augen sind so trocken, dass sich die Lider schwer an den Augäpfeln reiben. Ich kann es fast hören. Es klingt wie das Geräusch von Fell, wenn eine Hand es streichelt.

Ja Baby, so fühlt man sich, wenn man stirbt. Es ist wie Fallen. Das Zappeln dauert nicht lange, vertrau mir. Du darfst auch singen....
 
L

Lotte Werther

Gast
An Anonymous

Ein starker Text, bei dem für mich der Inhalt erst einmal nebensächlich ist. Ich las ihn und fand körperlich sinnliche Bilder, wenn auch nicht Glück das Thema ist.

Einzig das Wort Baby stört mich. Tut aber der Qualität des Textes keinen Abbruch.

Lotte Werther
 
M

megan

Gast
@ anonymus,
ich habe nichts gegen das wort 'baby' einzuwenden, ich finde diesen text - erstaunlich, meine note drückt es aus, und ich gratuliere dem autor, daß er einen text schrieb, der mir beim lesen die augen weitete.
gruß megan
 
M

megan

Gast
ps : wenn du den mumm aufbringst, diesen text offen zu posten, bekommst du sicher eine zehn. hier unten im anonymen sumpf ist er verschenkt.
megan
 

Anonym

Gast
sorry ... ich habe aus versehen den doppelten beitrag gesendet.
 

Anonym

Gast
liebe lotte, liebe megan,

habt dank fürs kommentieren und werten.

@lotte: ja, ich wollte bilder, die klarer sind, als im normalen alltäglichen dämmerzustand.

@ megan: ich hasse das wort baby. aber dort passt es hervorragend, finde ich.

ich werde den mumm aufbringen. aber hier ruht er eine weile gut.
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo A.,

sehr guter Text, auch in meinen Augen für ein offenes Forum geeignet!
Subtiler Horror mit Erotik gewürzt und fesselnd :)))erzählt.

cu
lap
 

Anonym

Gast
danke lapismont, gerade dein lob ehrt mich ganz besonders ;-)
 

gareth

Mitglied
Lieber Anonymus, ich hätte gerne gewusst,

was sich da eigentlich genau abspielt.
Da sitzt jemand auf einem Sessel und stellt erst mal fest, dass die Wahrheit weh tut. Er hat geraucht und drückt gerade seine Zigarette aus. Es geht ihm/ihr also im Moment gut. Ich weiß nicht, ob die Wahrheit ihm/ihr selbst weh tut, oder ob er/sie der Ich-Erzählerin das erklärt, die nackt und aufreizend intensiv und unanständig eine Melone vor ihm/ihr isst. Und was geschieht jetzt? Er/Sie kann nicht weg und sie erklärt einerseits, dass sie ihn/sie will und gleichzeitig geht sie davon aus, dass er/sie sterben wird. Und er/sie "stinkt" nach Angstschweiß, also gibt es für das Opfer plötzlich Grund, Angst zu haben und für die Erzählerin Grund, sich abwertend und hässlich über ihr Opfer zu äußern. Gift, denke ich. Ein Racheakt. Aber dann ist er/sie ja doch auch weg, irgendwie, danach.

Das muss ich hinnehmen. Racheakte müssen nicht logisch sein.
Eindrucksvoll ist der Text allemal. Aber zwei handwerkliche Anmerkungen:

Schwarz, dunkel und warm, in der es alles gibt, außer Spiegel. Muss es hier nicht Spiegeln heißen?

Deine Augen stehen an der Tür. Hier kommt mir das Bild "stehen an" nicht ganz stimmig vor.
Es drängt sich mir auf: Deine Augen starren zur Tür, oder hängen an der Tür, oder stieren auf die Tür.


gruß
gareth
 

Anonym

Gast
lieber gareth

danke zuvor fürs lesen und auch fürs kommentieren. gern sollst du erfahren, was sich dort abspielte, aber lass mich zuerst die zwei angemerkten dinge klären:

nein, es muss nicht SPIEGELN heißen. ich kann mir gar nicht vorstellen, inwiefern hier ein N anzuhängen wäre - tut mir leid, das eröffnet mir gar keinen sinn.

die stehenden augen an der tür sind mit sicherheit ein sehr surrealistisches bild und doch schienen sie mir das einzig treffende zu sein, um hier auszudrücken, was es auszudrücken gab, ober ich bin einfach zu ungeschickt ;-)) kann natürlich sein.

du hast argumentiert:
Es drängt sich mir auf: Deine Augen starren zur Tür, oder hängen an der Tür, oder stieren auf die Tür.

es geschieht nichts dergleichen dort. die augen haben mit der tür selber nichts zu tun, sie sehen bereits in eine andere realität. die tür ist nur ein symbol.


was deine deutung des textes anbetrifft, muss ich dir leider sagen, dass du mit deiner deutung alles andere als richtig liegst ;-)) vielleicht liegt ein ganz kleines bisschen genugtuung in ihrem verhalten.....

der text ist für mich aus einer sitation heraus entstanden, in der ich an einer schwelle stand. die beiden personen, um die es in der geschichte geht, waren ursprünglich zwei verschiedene wesensteile von mir und ich ließ sie sich miteinander unterhalten. aber es könnten genauso zwei menschen sein.

ein gutes gefühl gibt es von anfang an nicht. es ist latent bedrohlich. allerdings ist es mit sicherheit KEIN rachakt.

in meinen augen hat sich folgendes abgespielt:

es beginnt bereits mit einer unguten stimmung. einen der beiden schmerzt eine wahrheit - man weiß nicht welche. bereits im ersten und auch im zweiten absatz kann man lesen, auf welch unglückselige art sie miteinander verstrickt und voneinander abhängig sind - oder zumindest zu sein scheinen ;-)) sie hassen sich und lieben sich, begehren sich und verachten sich zur gleichen zeit.

den, den du als opfer ausgemacht hast, der ist ein ausgemachter schisser. er fürchtet den verlust seiner kontrolle, seiner haltung, seines selbstbildes. er spiegelt sich und sie und seine ganze welt in diesen zensierenden spiegeln, die er vor sein gesicht hält.
er hält die spiegel auch deshalb, damit andere menschen niemals ihn sehen, sondern sich immer nur selber spiegeln in ihm. so hat er kontrolle über sich und seine ängste und seine umwelt. er fürchtet sich selbst und sein wahres gesicht am meisten. er fürchtet die macht des dunklen, des numinosen, des weiblichen, der instinkte - auch der animalischen. vor allem aber fürchtet er, es könne erkannt werden ;-))

aber er steht bereits "mit den augen an der tür" er will sich selbst und flieht nicht - vielleicht muss er bleiben, weil er weiß, es ist die einzige chance, die er hat, um sich selber zu erringen.

er muss diesen einen tod sterben, um ein neues leben zu erringen. er musst sterben den tod der spiegel, den tod der vorstellungen, den abhängigkeiten von anderen menschen und vielleicht sogar den der abhängigkeit ihrer liebe, denn liebe findet er nur in der unabhängigkeit.

sie dagegen ist die verkörperung dessen, was er fürchtet und was er doch begehrt. deshalb weiß sie um alle seine nöte. sie fürchtet weder seinen ekel noch seine ablehnung. sie kann so tun, als erniedrige sie sich, doch in wirklichkeit ist es ein akt der liebe, den sie tut, auch wenn sie ihn nicht ohne einen gewissen beigeschmack an schadenfreude tut. sie zwingt ihn, sich selber anzusehen bis ins tiefste.

wer weiß, wie sich das anfühlt, der weiß auch, dass man zappelt und der weiß auch, dass mich sich zu tode daran fürchtet und glaubt, man müsste daran verrecken. sie weiß es..... aber er ist ein nun mutiger kerl, in dem maße, in dem zuvor ein hosenschisser war.

es ist ein subtil verwobenes gebilde, ich weiß. dennoch finde ich es schade, dass es scheinbar so schwierig erkennbar ist, worum es in wirklichkeit geht.
 

blaustrumpf

Mitglied
spieglein, spieglein...

Eine Höhle (...), in der es alles gibt, außer Spiegel.
Hallo, Anonymus

Öhm.
Ich fürchte, gareth hat so unrecht nicht:
Die Präposition außer steht mit Dativ (außer bei Verben der Bewegung, dann mit Akkusativ, sowie mit Genitiv bei "außer Landes").

" Eine Höhle (...), in der es alles gibt, außer Spiegeln", das klingt allerdings nicht wirklich gut. Es würde aber den Dativ deutlicher scheinen lassen.
Die flaue Zwischenlösung wäre, einen unbestimmten Artikel zu setzen. "
"Eine Höhle (...), in der es alles gibt, außer einem Spiegel."
Wenn auch der unbestimmte Artikel schon zu eindeutig ist, dann wäre Spiegeln tatsächlich eine Variante zur Befriedung der Sprache mit der Grammatik.

Schöne Grüße von blaustrumpf
 

majissa

Mitglied
Lieber Anonymus,

der Text ist wie aus einem Guss und so fesselnd geschrieben, dass der Inhalt tatsächlich erstmal zur Nebensache wird. Nach dem ersten atemlosen Lesen verstand ich eigentlich nur, dass da zwei Welten aufeinander treffen und eine von ihnen verschlungen werden muss, damit die andere bestehen kann. Das Verschlungenwerden drängte sich mir wegen der „Höhle“ auf. So, wie du deinen Text erklärst, hätte ich ihn nicht direkt verstanden. Aber kommt es denn darauf an? Vermutlich interpretiert jeder etwas anderes in ihn hinein. Gerade darin liegt doch sein Reiz. Gerade deshalb wirkt er so lange nach. Ich würde da auch gar nichts abändern. Handwerklich ist eh’ nichts auszusetzen. Eine solche Bilderflut ist mir jedenfalls lange nicht mehr begegnet und es wäre schade, würdest du daran herummurksen. Die Augen müssen meines Erachtens unbedingt an der Tür stehen. Das ist ein außergewöhnlich starkes Bild und es passt.

Lieben Gruß
Majissa
 
K

Kasoma

Gast
Hallo A.

Es ist alles gesagt: Starker Text, den Du unbedingt in ein anderes Forum stellen solltest...
Mich stört einzig, das Hin und Her der Brüste der Prot. Ich meine, selbst bei einer großen Oberweite gibt es doch nicht solchen Aufruhr, oder?

Liebe Grüße und großes Kompliment von Kasoma
 

Anonym

Gast
danke majissa & kasoma

vielen dank euch beiden fürs lesen wie auch fürs kommentieren.

@ majissa:

nein, es kommt nicht darauf an, ob jeder leser das so versteht, wie ich es meinte... das ist ja das spannende daran, dass es eben jeder anders liest.

in einer weise stimmt es auch, dass eine der beiden welten verschlungen werden muss, obwohl sie sich eigentlich vereinen wollen.

danke auch fürs loben und beipflichten was den stellplatz der augen betrifft ;-) ich teile deine ansicht.

herumgemurkst habe ich allerdings unterdessen noch am text... ich habe ihn weitergeschrieben und in die weihnachtszeit in einen schneesturm versetzt.


@ kasoma:

doch, solchen aufruhr gibts in der tat ;-) diesen text hier werde ich nicht mehr aus den anonymen raus nehmen, aber vielleicht werde ich bei der veröffentlichung des gesamten und umgearbeiteten textes flagge zeigen :)

viele grüße
 
M

megan

Gast
...
dann bin ich mal auf die fortsetzung/umarbeitung gespannt und will hoffen, daß sie Vor dem ersten schnee erscheinen möge - und zwar im gewand des/der namentlichen verfasserIn.
frohes schaffen.
gruß - megan
 



 
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