Du sollst nicht stehlen

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Wenn ich eine von Mamas Lehren behalten habe, dann ist es -,,Du sollst nicht stehlen“

Im Dorf, in dem wir lebten, stand gegenüber von unserem Haus ein Laden, ein Tante Emma Laden. Der Laden war, wie auch alle alten Gebäude aus der Gründerzeit(1908-1910) aus Grassoden gebaut. Die Fenster waren klein und ließen wenig Licht rein, so dass es im Verkaufsraum immer dunkel war(elektrisches Licht gab es noch nicht)und es musste schon früh am Nachmittag die Dochtlampe angezündet werden. Die Eingangstür, wie auch die Türzarge waren aus Holz, das durch die Witterung und die Jahre rissig und spröde geworden waren. Aus dem Verkaufsraum mit dem hohen Tresen führte eine Tür in ein kleines Zimmer, das als Lagerraum diente. Oft, wenn die Verkäuferin in den Lagerraum ging um Nachschub zu holen, linste ich durch die offene Tür. Ich vermutete in dem kleinen Raum unermessliche Schätze, wobei mehr als Jutesäcke und Kisten nie zum Vorschein kamen.

Frau Notta, die als Verkäuferin arbeitete, hatte in diesem Laden eine beispiellose Pleite hingelegt. Bei der letzten Inventur fehlte ihr eine so große Menge an Geld, dass sie Hof und Haus verkaufen musste, um nicht in den Knast zu wandern. Der Laden wurde geschlossen und sollte, nachdem die Verkäuferin weg war, nie mehr als solcher funktionieren. Nur ein alter Pappelbaum, ein Zeitgenosse, der vor dem Laden stand, erinnerte an das traurige Ende dieses Duo.

Ich war zu der Zeit ungefähr 6 Jahre alt und war, wie auch alle Kinder im Dorf, ständig auf der Suche nach Essbarem. An diesem Tag führte der Hunger uns, eine kleine Gruppe von Kindern, zum alten Laden. Am Ziel angekommen stellten wir fest, dass das alte rostige Vorhängeschloss immer noch an der Eingangstür hing. Gerd, der Nachbarsjunge, der größer und älter war als der Rest der Gruppe riss mit Gewalt an der Tür, aber das alte Eisen gab keinen Millimeter nach. Dann begaben wir uns zum Hinterhof, zur Fluchttür, die auch verriegelt war, um da unser Glück zu probieren. Nach einem kurzen Kampf mit dem Schloss hatte Gerd plötzlich das Schmiedeerzeugnis, samt rostigen Nägeln in der Hand. Gerd war von seinem Erfolg so überrascht, dass er einen Sprung nach hinten machte und mir gehörig auf die Füße trat. Aber zum Jammern war jetzt keine Zeit, denn die ganze Kinderschar stürmte in den Laden rein. Herr im Himmel, was es da alles gab! In den einfachen, fast primitiven Regalen lagen und standen Jute –und-Papiersäcke in allen möglichen Größen. Man konnte es den Säcken ansehen, dass sie so etliches durchgemacht hatten. Denn sie waren von den spitzen Mäuse- und Rattenzähnen durchlöchert, nass vom Schnee und Regenwasser geworden, das durch das kaputte Dach sickerte und von der Sommerhitze wieder trocknete.

Erst wussten wir, vor lautem Staunen ,nicht womit wir anfangen sollten. Gerd näherte sich einem Papiersack, griff hinein und beförderte ein grau-weißes Etwas zur Tage. Er probierte davon und spie es wieder aus. Meine Schwester, die schon in der zweiten Klasse war, las die Aufschrift auf dem Sack laut vor: ,, Speisesalz“. Nun wurden die Jutesäcke inspiziert. Ich stand vor einem aufgerissenem Beutel und traute meinen Augen nicht, es waren Kekse im Sack, wenn auch nicht ausschließlich Kekse. Gut die Hälfte des Inhalts war Mäuse und Rattendreck, mich störte es nicht sonderlich, ich wischte mir den Rocksaum den Dreck von dem Keks und biss genüsslich hinein. Nie hatte ein Keks besser geschmeckt als dieser.

Gerd und die anderen Kinder steckten sich die Taschen voll, bloß meine Schwester und ich standen da und schauten traurig zu. Uns war das Nehmen, von dem was uns nicht gehört, verboten.

,, Jetzt raus hier"- befahl Gerd-"und zu niemandem ein Sterbenswörtchen“

Nach dem Abendessen ging ich, von Unruhe geplagt, vor die Tür. Es war schon dunkel draußen und in der Dämmerung vernahm ich Gestalten, die Richtung Laden schlichen. In Panik lief ich zu Mama mit der Bitte doch auch zum Laden zu gehen um von den Reichtümern was abzubekommen. Mein ganzes Flehen und Heulen war umsonst, sie ging nicht.

Morgens, noch vor dem Frühstück, stand ich im Laden. Die Schlacht war geschlagen. Die Dorfbewohner hatten alles mitgenommen, bis auf ein paar Salzbrocken, die auf dem dreckigen Boden liegen geblieben waren.

Die Flüssigkeit, die aus meinen Augen floss, war nicht nur salzig, sondern auch noch gallenbitter.
 



 
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