Stellungnahme zur Abwertung meines Textes
Hallo,
durch anonyme Abwertungen erhielt mein Text einen roten Bewertungsstrich. Den kannte ich vorher gar nicht, ich musste erst einmal nachfragen, was er bedeutet, nämlich eine äußerst schlechte Bewertung.
Nun gut, wie man so schön sagt, „das tangiert mich nur peripher.“
Natürlich freue auch ich mich, wenn ich Zustimmung zu meinen Texten erhalte, sachliche Kritik überdenke ich, polemische Kritik ignoriere ich normalerweise.
Aber für mich ist das Wichtigste, dass ich selbst mit meinem Text zufrieden bin; so verstehe ich auch Autorenschaft, man sollte nach seinem eigenen Maßstab schreiben und nicht danach, was vielleicht gut ankommt. Und ich bin mit diesem Text weiterhin zufrieden.
Dennoch würde ich mir bei manchen Lesern bzw. Kritikern der LL mehr Toleranz wünschen gegenüber Texten, die nicht zum Mainstream passen. So dass ein ambitionierter, progressiver Text nicht automatisch abgelehnt und runterbewertet wird, nur weil er ungewohnte literarische Konzepte beinhaltet, die man nicht kennt oder nicht versteht.
Damit nicht der falsche Eindruck entsteht, ich würde der anonymen Negativ-Bewertung meines Textes „Du stirbst durch das Leben“ zustimmen, möchte ich beschreiben, wie ich meinen Text sehe und begründe, also eine Gegenposition zu der Ablehnung formulieren, als letzes Statement von mir zu dieser Diskussion. Allerdings muss ich ziemlich weit ausholen, um die vielschichtigen Hintergründe des Textes zu erklären. Aber vielleicht gewinnt er dadurch ja mehr Akzeptanz.
Viele Grüße Stefan
STELLUNGNAHME
„Du stirbst durch das Leben“ behandelt die existentielle Grundsituation des Menschen, „la condition humaine” (Malraux), aus der Sicht des Existentialismus, der Existenzphilosophie. Der Text versteht es, die Basisaussagen des Existentialismus mit wenigen Worten zu verdeutlichen: die „Geworfenheit des Menschen“ in das Dasein (Heidegger), die existentielle Einsamkeit des Menschen in der Welt (Sartre), die Absurdität des menschlichen Lebens, die sich nicht überwinden, aber in Paradoxien auflösen lässt: revoltieren und zugleich akzeptieren (Camus).
Man kann „Du stirbst durch das Leben“ aber auch verstehen als Beschreibung einer existentiellen, ggf. traumatischen bzw. posttraumatischen Selbsterfahrung, wie sie in regressiven oder kathartischen Therapien (wie z. B. Primal Therapy oder Rebirthing), in der Meditation (Meister Eckhart: „die dunkle Nacht der Seele“) oder unter psychedelischen Drogen (Grof: „perinatale Matrizen“) möglich ist. In solchen emotionalen Erfahrungen offenbart sich der „Schatten“ (C. G. Jung), die sonst verdrängte, abgewehrte, unbewusste Tiefenschicht einer Person.
Der Text spielt raffiniert mit der Idee einer Parallelität zwischen physischem und psychischem Sterben bzw. Tod. Beim physischen Sterben wird – je nach Interpretation – die gesamte Existenz beendet, oder die Seele existiert weiter, auf einer höheren Ebene, bzw. wird man körperlich wiedergeboren, in ein neues, vielleicht besseres Leben: Reinkarnation.
Entsprechend kann das „psychischen Sterben“ – destruktiv – zum Untergang des Ichs führen kann, aber auch – konstruktiv – zu einer Überwindung alter, beengender Ich-Strukturen zugunsten eines freieren Selbst mit mehr Optionen, mehr Freiheitsgraden (Goethe: „Stirb und werde!“)
Formal ist der Text innovativ gestaltet: Es handelt es sich um Prosa, die aber durch die Aneinanderreihung von Wörtern und kurzen Sätzen, verbunden jeweils durch einen Bindestrich, einen lyrischen Charakter bekommt, sich fast wie ein Gedicht liest.
Durch die ungewöhnliche Du-Form, wird der Leser/die Leserin unmittelbar in den Text hineingezogen, wird quasi selbst zum Protagonisten der Handlung, was allerdings auch Abwehrreaktionen hervorrufen kann (dazu später).
Der Text beinhaltet eine originelle Mischung aus einzelnen, aussagekräftigen, teils archetypischen Wörtern und kurzen Sätzen, was das unmittelbare Erleben, jenseits komplexer Sprachstrukturen, widerspiegelt.
Vielfach ist ein solches existentielles Erleben sogar non-verbal, nämlich prä-verbal oder trans-verbal (zur Differenzierung verweise ich auf Ken Wilber) – aber Nichtsprachliches lässt sich nun einmal sprachlich nur ansatzweise wiedergeben. Natürlich könnte man hier Wittgenstein nennen, „wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, aber dann wäre die ganze vor-rationale bzw. trans-rationale Erfahrungswelt der sprachlichen Darstellung entzogen.
Ein literarischer Kunstgriff bei dem Text ist die Verwendung des Striches zwischen den Wörtern bzw. Sätzen. Er verbindet einerseits (Bindestrich) und trennt andererseits (Trennungsstrich); damit symbolisiert er die existentielle Grundparadoxie des menschlichen Lebens, den Konflikt zwischen Bindung und Trennung, zwischen Ich und Wir, zwischen Selbstständigkeit und Einordnung, zwischen Individualismus und Kollektivismus, zwischen Freiheit und Geborgenheit.
Dieses „binde und löse“ ist eine uralte kulturelle Erfahrung und Tradition des Menschen, sie wurde z. B. schon in der Bibel thematisiert, später, in modifizierter Bedeutung, in der mittelalterlichen Alchemie beschworen. Dabei ging es bereits den Alchemisten nicht nur um eine Transmutation der Materie, sondern sie verstanden die bereits als Parallele zu einer Transmutation der Psyche, wobei der der Mensch sein altes Ich auflöst, um sich in einer Auferstehung zu einem neuen, höheren, reiferen Ich zu synthetisieren - ähnlich der bekannte „Phönix aus der Asche“ in der hellenistischen Mythologie.
Natürlich kann ein Text einem Leser gefallen oder nicht. Aber die Heftigkeit der Ablehnung des Textes, die sich in dem roten Bewertungsstrich zeigt, verweist m.E. auf eine irrationale Abwehr.
Existenzielle Gefühle über Sterben, Einsamkeit oder Verlorenheit sind in unserer heutigen Zeit nicht „in“, sie rufen Angst und Abwehrreaktionen hervor.
Heute dominiert die Oberflächlichkeit, das Positivdenken, das Bedürfnis nach Kontrolle, das sich selbst als erfolgreich und schön Darstellen, wie es sich in der Selfie(un)kultur beispielhaft zeigt. Die Konfrontation mit existenziellen Abgründen des menschlichen Daseins wird dabei vermieden, nur der schöne Schein zählt, nicht das Sein.