Dunkle Visionen

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Michele.S

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Nach etwa 20 Minuten begann die Beruhigungstablette zu wirken.
"Mann, dieses Valium ist schon geil, davon sollten wir uns was für zu Hause anschaffen", sagte Stefan lächelnd zu seiner Frau Tanja.
"Na, dir scheints ja gut zu gehen", antwortete sie sanft.
Der Eingriff war für 18:20 Uhr vorgesehen, sollte also in einer halben Stunde beginnen. Stefan sollte einen Bypass ins Herz eingesetzt werden, eine Routineoperation wie die Ärzte ihm beruhigend versichert hatten.
Jetzt nahm Tanja seine Hand in die Ihre und drückte sie aufmunternd.
"Mein Held", flüsterte sie sanft. Sie war die letzten drei Stunden nicht ein Mal von seiner Seite gewichen, außer um kurz auf die Toilette zu gehen.
"Ich hab so ein Glück mit ihr", dachte Stefan glücklich. "Aber ob sie auch noch hier sitzen würde, wenn sie von Yvonne wüsste. Oder von Susanne."
Beide Male hatte er der Versuchung einfach nicht widerstehen können. Sie waren so jung gewesen und so hübsch. Und beide hatten sie ihn wirklich gemocht. Dabei liebte er seine Frau aufrichtig und nach jedem Treffen mit einer Anderen plagten ihn die widerlichsten Schuldgefühle. Er hatte sogar Gott um Vergebung gebeten, auch wenn er eigentlich überzeugter Atheist war.

Jetzt betrat der Arzt das Zimmer. "Na, wie siehts aus, bereit für ihren großen Tag?", fragte er fröhlich.
Stefan nickte. Tanja drückte erneut seine Hand und dann wurde sein Bett durch die Gänge in den Fahrstuhl geschoben. Es ging bergab.
Der Operationsaal wirkte sauber und steril. Die Wände waren weiß gekachelt. Stefan wurde auf die Bare gehoben.
"Wir leiten jetzt die Narkose ein", gab ihm ein Mann mit grünem Mundschutz zu verstehen.
Stefan spürte einen kurzen Einstich. Wenige Sekunden später wurde alles um ihn schwarz.


Er erwachte auf einem Acker. Er schaute sich um. Felder und kahle Bäume umgaben ihn. Die Landschaft wirkte unendlich trostlos, ohne dass er genau hätte sagen können, wodurch dieser Eindruck hervorgerufen wurde. Ihm viel auf, wie still es war, absolut still. Eine solch vollkommene Stille hatte er erst einmal erlebt, als er als Kind bei Neuschnee mit seinen Eltern in den Schwarzwald gefahren war.
Er lief auf einen nahegelegenen Feldweg, der in geschwungenen Bahnen leicht aufwärts führte. Das Gehen viel ihm unglaublich schwer, sein Körper fühlte sich an wie eine Last und sofort begannen seine Füße zu schmerzen.
Ein Gefühl der absoluten Trostlosigkeit übermannte ihn.
Da bemerkte er erleichtert, dass ihm eine Frau auf dem Weg entgegenkam.
Als sie sich auf gleicher Höhe trafen fragte er: "Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl irgendwie verirrt, können Sie mir sagen, wo wir hier sind?"
Da verzog die Frau ihr Gesicht zu einer grotesken Grimasse und fing auf eine ganz grässliche Weise an zu lachen.
Er ließ die Frau weiterziehen. Nach einer Weile erreichte er etwas, das wie ein Bauernhof aussah. Als er sich dem Gatter näherte, bellte ein Hund.
Doch das war kein normales Bellen, es war das markerschütterndste Geräusch, dass er in seinem Leben je gehört hatte. Nun konnte er den Hund auch durch das Gatter sehen. Er war riesengroß und unbeschreiblich hässlich. Jetzt hechelte er. Stefan gefror das Blut in den Adern.
Statt einer Zunge wand sich eine Schlange aus dem Rachen des Viehs. Die Schlange hatte drei Köpfe. Auf einmal sprang der Hund in einem Satz über das Gatter und warf sich auf ihn. Stefan fiel zu Boden. Der Hund beugte sich über ihn und die drei Schlangen begannen mit festen Bissen große Stücke Fleisch aus seinem Brustkorb zu reißen. Nachdem sie den Brustkorb komplett geöffnet hatten, schlängelten sie sich in das Innere seine Körpers und fraßen ihn von Innen heraus auf. Er verlor das Bewusstsein.


Das Nächste, was er wahrnahm waren unangenehm grelle Lichter, die auf sein Gesicht gerichtet waren. Er wusste nicht, wo er war oder wer er war. Es war ihm im Moment aber auch egal.. Hauptsache er war dem schlangenzüngigen Hund entkommen. Nach einer ganzen Weile realisierte er, dass er eine Operation gehabt hatte und nun wohl aufgewacht war.
Später wurde er aus dem OP zurück in sein Krankenzimmer gerollt. Dort warteten bereits einige Ärzte auf ihn, wie auch seine Frau, die aussah, als hätte sie geweint. Bei seinem Anblick schluchzte sie los. "Was machst du nur für Sachen?"
Stefan blickte zu den Ärzten.
"Was ist denn passiert?"
Der Arzt druckste ein wenig herum. "Nun ja, es gab eine schwere Komplikation während ihrer OP. Wir haben uns bei der Menge des Anästhethikums geirrt. Manche Menschen reagieren viel stärker darauf als andere. So etwas passiert extrem selten, aber in ihrem Fall ist es passiert."
"Und weiter?", drängte Stefan.
Der Arzt nahm seine Brille ab. "Sie haben aufgehört zu atmen. Dann setzte der Herzschlag aus. Für einige Minuten waren sie hirntot. Einem unserer Anästhesisten ist im aller letzten Moment die rettende Idee gekommen und wir konnten sie zurückholen."
"Gott, ich danke dir!", schluchzte seine Frau.


Zwei Monate später saß Stefan mit seiner Frau auf der Terrasse.
"Japanische Stadt mit acht Buchstaben?", fragte Tanja.
Stefan reagierte nicht.
Tanja legte das Kreuzworträtsel weg. "Schatz, es ist jetzt zwei Monate her. Es ist ja natürlich, dass einen sowas erstmal schockiert. Immerhin wärst du fast gestorben. Aber du bist seitdem kaum noch ansprechbar. Du starrst ständig ins Leere und wirkst dabei, als ob du Todesangst hättest"
Stefan schwieg.
"Ich mein ja nur. Vielleicht solltest du mal mit einem Therapeuten darüber reden. Meine Schwester hat da ja einige Erfahrung, die kennt ganz hervorragende Leute, die können dir bestimmt helfen"
Stefan starrte an ihr vorbei.
"Mir kann niemand helfen", flüsterte er.
 
Zuletzt bearbeitet:

Blue Sky

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Hi Michele.S,

Schuldgefühle in Kombi mit einem Arztfehler bei einer Herz-OP, die einen unter die Flatline bringt, kann ich mir vorstellen und das man danach auf eine wie auch immer geartete Therapie angewiesen ist. Operationen sind ja meist nur für die Doktoren Routine. Wie ich finde von dir ganz gut geschrieben.

Was mir unstimmig war:
Stefan wurde auf die Bare gehoben.
Eine Bare ist für Leute, die bereits zu ihren Ahnen abgeritten sind, alle anderen kommen auf eine Trage oder Liege, meine ich. :confused:
aufgewacht war.
Später wurde er aus dem OP zurück in sein Krankenzimmer gerollt
Ein Erwachen im OP-Saal ist ein sehr schlechtes Zeichen und wohl Folge einer Unterdosierung der Narkose? Erwacht man nicht üblicherweise in einem Aufwachraum oder auf der Intensiven?
Na ja, möglicherweise muss man schon während der OP und noch offen zurückgeholt werden? :oops:

LG
BS
 

petrasmiles

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Wie immer gut geschrieben, aber irgendwie verstehe ich die 'Pointe' nicht; sie ist schon radikal und damit 'überraschend', aber sie überzeugt mich nicht. Also, alle incl. ihm selbst müssten froh sein - er hat es überstanden, aber er sieht es nicht so. Man erfährt aber auch nicht, warum nicht. Weder seine Vorgeschichte noch Inhalte seines 'Traumes' erklären dies für mich. Damit bekommt die Pointe etwas Gewolltes, ergibt sich nicht schlüssig aus dem Beschriebenen - oder anders herum: Dies ist eigentlich nur der Anfang.

Liebe Grüße
Petra
 

Blue Sky

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anders herum: Dies ist eigentlich nur der Anfang.
Ganz genau!
Der Horror lieg für mich darin, dass er durch dieses Erlebnis traumatisiert ist und ihn seine Schuld, wie geschrieben, förmlich frisst, er, dem weiterhin und stärker als zuvor hilflos ausgesetzt ist.
Klar, normal ist jeder froh, so etwas überlebt zu haben, aber hier geht es wahrscheinlich um das, warum?
 

Michele.S

Mitglied
Vielen dank euch beiden für die Beschäftigung mit meinem Text. Ich glaube aber, die Pointe ist nicht so ganz rübergekommen. Da er während der Narkose hirntot war, fragt er sich nun. ob er einen Blick in die Hölle geworfen hat und fürchtet sich jetzt, dass er nach seinem Tod dort landet
 

Michele.S

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Ja, das stimmt schon. Ich bin selber Agnostiker, aber wenn ich eine solche Nahtodeserfahrung hätte, würde mir das trotzdem Angst machen.
 

petrasmiles

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Lassen wir das doch einfach so stehen, dass es sich mir nicht erschließt.
Für meine Begriffe benutzt Du in Deinem Argument den Begriff Hölle ein bisschen unspezifisch bzw. inkonsequent: Du argumentierst im Kommentar mit der Hölle auf Erden, aber in der Geschichte geht es um die Angst vor der religiösen Hölle.
Muss man nicht alles ausdiskutieren.
LG Petra
 

Blue Sky

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Muss man nicht alles ausdiskutieren.
Kann man wohl auch gar nicht!

Für meine Begriffe benutzt Du in Deinem Argument den Begriff Hölle ein bisschen unspezifisch bzw. inkonsequent: Du argumentierst im Kommentar mit der Hölle auf Erden, aber in der Geschichte geht es um die Angst vor der religiösen Hölle.
Genau da hast du den Punkt, meine ich. So viel Köpfe es gib, so viele Höllen gibt es doch, fantasiert, religiös wie auch immer, die Angst davor ist generell irdisch und real wie für den Stefan in seinem hier und jetzt. Und Hilfe vor Ängsten gibt es gewiss, man mus nur selber wollen und zulassen.

LG
BS
 

petrasmiles

Mitglied
Nein Blue Sky,

der Sinn von Worten sind erst einmal das Festschreiben eines Zustandes oder Inhaltes. Am Anfang stand die Übereinkunft, das Ding da ist ein Tisch und damit wussten alle, die das Wort Tisch hörten, was gemeint ist. Um so abstrakter die Begriffe wurden, desto vielfältiger die Lesarten und Interpretationen. Und dass jeder mit seinem eigenen Bild - selbst von einem Tisch - herumläuft, versteht sich auch. Nur: Um als Tisch zu gelten, müssen all diese Abbilder die Minimalfunktion eines Tisches erfüllen, um den Namen tragen zu dürfen.
Die Hölle ist ein fester Begriff aus dem Christentum; der Mensch muss im Diesseits gottgefällig leben, um dereinst am Tag des Jüngsten Gerichtes ins Himmelreich zu kommen, und nicht in die Hölle. Hölle ist also gleichzeitig abstrakt und konkret. Wer vor dieser Hölle Angst hat, muss ein Christ sein.
Das meinst Du aber nicht - wenn ich Dich richtig verstehe - und darum ergibt die Angst Deines Protagonisten keinen Sinn, wenn er durch die Nahtoderfahrung nicht religiös geworden ist. Die Ausgestaltung der (christlichen) Hölle ist individuell, aber der 'Ort' ist konkret eingebunden - und betrifft Nicht-Christen, die also nicht daran glauben, nicht.
Wenn Dein Protagonist aber vor 'der Hölle auf Erden' Angst hat, dann hat das nichts mit seiner Nahtoderfahrung zu tun, oder dem 'Traum' den er hatte. Dann ist es eher eine Krisis, wenn jemand sich für unkaputtbar hielt und mit seiner Endlichkeit konfrontiert wurde. Dann kann ihm auch geholfen werden.

Ich halte es fürs Schreiben sehr wichtig, Begriffe nicht beliebig füllen zu wollen. Wenn Wörter Konventionen sind, dann sind sie im abgesprochenen Kontext zu verwenden. Wenn Du das getan hättest, wäre diese Diskussion überflüssig gewesen und Deine Geschichte stimmiger. Natürlich ist die Angst ein irdisches Gefühl, aber der Gegenstand dieser Angst ist es nicht - wenn es sich um die christliche Hölle handelt.

Liebe Grüße
Petra
 

Blue Sky

Mitglied
Och Petra,

Warum schickst du mich in die Hölle? Hölle Hölle Hölle ..!:D
Dann hatte er eben Angst vor einem Schattenreich. Oder ist das auch ein, nur für bestimmte Personengruppen vorbehaltener und geschützter Begriff?:confused:
Du hast völlig recht, die Diskussion ist überflüssig, denn mir hatte sich die Geschichte auch so erschlossen gehabt.

LG
BS
 

texxxter

Mitglied
Für mich liest sich das so: Der Protagonist war nicht religiös, nun zweifelt er aber dank dieser schrecklichen Nahtodeserfahrung
 

petrasmiles

Mitglied
Och Petra,
Warum schickst du mich in die Hölle? Hölle Hölle Hölle ..!:D
Dann hatte er eben Angst vor einem Schattenreich. Oder ist das auch ein, nur für bestimmte Personengruppen vorbehaltener und geschützter Begriff?:confused:
Du hast völlig recht, die Diskussion ist überflüssig, denn mir hatte sich die Geschichte auch so erschlossen gehabt.
LG
BS
Sorry, mir ist beim Grübeln abhanden gekommen, dass Du ja gar nicht der Autor bist, sondern Michele ... Sachen gibt's ... o_O
Ich nehme also alles zurück und behaupte das Gegenteil, zufrieden :cool:
LG Petra
 
Hallo @Michele.S

ich möchte mich nur auf etwas beziehen, das mir sofort ins Auge gefallen ist.

sagte Stefan lächelnd
antwortete sie sanft
flüsterte sie sanft
dachte Stefan glücklich
fragte er fröhlich
—> Das sind deine ersten Redebegleitsätze.

Du sagst mir Leser, wie die beiden sich fühlen, während sie etwas sagen oder denken.

Ich denke, die Disziplin des Schreibers sollte sein, so zu schreiben, dass der Leser es selbst herausfinden kann, wie die Person (sich) gerade fühlt.
Nicht durch pure Behauptungen, sondern durch Taten. „Show, don’t tell“ ist das Credo.

Glücklich und fröhlich können z.B. durch sehr viele Beschreibungen ausgedrückt werden:
die Lippen zu einem dünnen Lächeln verziehen
ein schüchternes Lächeln schenken
vor Freude quietschen
von einem Ohr zum anderen grinsen
das Gesicht leuchtet auf
trällern
vor Freude in die Hände klatschen
usw.

Ich finde, das ist viel interessanter zu lesen, bringt Kopfkino, verlangt vom Leser ein Umgestalten der Worte in Bilder – und drauf kommt es ja an!

Oder hier:
schluchzte seine Frau.
—> ihre Augen schimmern feucht; Tränen wegblinzeln; die Stimme bricht; die Kehle fühlt sich wie zugeschnürt an

Kleinkram:

und wirkst dabei, als ob du Todesangst hättest"
—> hättest.“

die können dir bestimmt helfen“
—> helfen.“

Liebe Grüße, Franklyn Francis
 

WackyWorld

Mitglied
Am Anfang klingt die Story zu rührselig-stereotyp. Zweck war vermutlich, die Fallhöhe für den späteren "Schock" zu erhöhen. Ich würde da ein wenig auf die Klischeebremse drücken und mehr Kreativität reinstecken. Dass du die besitzt, zeigt ja der Rest des Textes. Das Ende, da muss ich mich einigen Vorredner/innen anschließen, könnte mehr "krachen", pointierter sein. Deine Erläuterung des Endes zeigt die gute Idee dahinter. Aber ich bin zu doof gewesen, um darauf zu kommen.

Mein Vorschlag (nur meckern kann ja jeder ;))


Zwei Monate später saß Stefan mit seiner Frau auf der Terrasse.
"Aufenthaltsort des Beelzebubs mit fünf Buchstaben?", fragte Tanja.
Stefan reagierte nicht.
Tanja legte das Kreuzworträtsel weg. "Schatz, es ist jetzt zwei Monate her. Es ist ja natürlich, dass einen sowas erstmal schockiert. Immerhin wärst du fast gestorben. Aber du bist seitdem kaum noch ansprechbar. Du starrst ständig ins Leere und wirkst dabei, als ob du Todesangst hättest"
"Hölle."
"Richtig. Geht doch."
Stefan zitterte. Seine Augen weiteten sich.
"Was hast du?", fragte Tanja.
"Von uns nennt ihn keiner Beelzebub."

Ist weit von perfekt entfernt, ist auch nicht mein Anspruch, soll nur nen Denkanstoß sein. Du kannst deine Geschichte viel besser besser machen ;)
 



 
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