Durch die Kälte

Marian.b

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Aus dem Fenster der BT-67 konnte er das Eis sehen. Die reflektierende Sonne ließ ihn an kleine Edelsteine denken.
„Sieht fast lieblich aus von oben.“
„Na, da täuschen Sie sich mal nicht“, antwortete der Pilot, „lebensfeindlicher geht kaum. Ist trügerisch hier.“
Er nickte. Wenn er eine Sache wusste, dann dass die Antarktis trügerisch war – und tödlich.
„Ist Ihr erstes Mal hier?“, fragte der Pilot.
„Genau.“
„Die meisten unterschätzen das. Passen Sie auf sich auf.“
Keine Antwort. Er war nicht hergekommen, um auf sich aufzupassen. Er wollte Antworten.
Ein Lämpchen des Bordcomputers leuchtete auf.
„Anschnallen! Wir landen gleich.“
Die Nase des Flugzeugs neigte sich dem Boden zu. Er schaute aus dem Fenster, sah die Landebahn aus Eis, die sich immer schneller näherte. Dann setzten die Vorderräder der BT-67 auf. Ein Knirschen war zu hören, doch die Landebahn hielt Stand. Dann setzte das Hinterrad auf und das Flugzeug verlor an Geschwindigkeit.
„Ich bring Sie zur Station. Herzlich Willkommen in der Antarktis.“

Vor ihm befand sich die Forschungsstation Neumayer III. Seine Augen blieben kurz an den hydraulischen Stützen hängen und wanderten hoch. Der Aufbau erinnerte ihn an ein unten abgeschnittenes Schiff. Ein halbes Schiff auf Stützen im Eis. Ein Summen riss ihn aus seinen Gedanken. Eine automatische Rampe fuhr herunter. Ein älterer Herr in roter Schutzausrüstung erwartete ihn.
„Ich bin der Stationsleiter. Willkommen an Board. Sie müssen der neue Geophysiker sein“, sagte er. Dem jungen Wissenschaftler fiel ein Namensschild auf, das in die Schutzausrüstung eingraviert war – Dr. Mehler.
„Ja“, antwortete er und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Der Doktor hatte das richtige Alter, ob er seinen Vater gekannt hatte? Er nahm sich vor, ihn bei passender Gelegenheit zu fragen.
„Kommen Sie rein. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“
„Danke, war ein langer Flug.“

Nachdem der Doktor das Zimmer wieder verlassen hatte, atmete der junge Geophysiker tief aus. Endlich war er angekommen. Er öffnete seinen Rucksack und holte ein Bild hervor. Unzählige Male hatte er das Bild schon hervorgeholt. Das einzige Bild. Antarktis, zwei Wissenschaftler in Schneeausrüstung. 1989. In der Mitte war das Bild geknickt, eine Seite war abgegriffen, die andere kaum betrachtet. Auf dem Bild befanden sich wellige Rundungen. Er dachte zurück an die Zeit, als sie entstanden waren, sah sich wieder als weinenden Jungen. Er wischte sich schnell über die Augen. Dann holte er einen vergilbten Zeitungsartikel hervor, eingehüllt in einer Klarsichtfolie. An den Ecken war er abgegriffen. Jedes Wort kannte er auswendig. Es war an der Zeit die Worte gegen die Wahrheit zu tauschen. Er wollte wissen, was wirklich passiert war. Wie konnte ein Geophysiker ertrinken? Wieso war er allein unterwegs gewesen? Was war wirklich passiert? Sein Blick wanderte zum Bett und er stellte seinen Wecker. Er drückte das Bild gegen seine Brust, erschöpft schlief er ein.

Am nächsten Morgen folgte er dem Doktor eine metallene Treppe hinauf. Sie gingen durch einen engen Flur, der an eine Klinik erinnerte. In geringem Abstand befanden sich mehrere Türen, es herrschte konzentrierte Stille.
„Die Labore“, sagte der Doktor knapp, doch er blieb erst am Ende des Flurs vor einer Tür stehen. Er klopfte vorsichtig an. Ein Brummen war leise zu vernehmen. Ein alter Mann in den Siebzigern öffnete.
„Der neue Geophysiker“, sagte der Doktor. Der alte Wissenschaftler schaute den Neuankömmling an.
„Moin. Bin der alte Geophysiker hier.“
„Ich freue mich auf die Zusammenarbeit“, sagte der junge Geophysiker förmlich. Der alte Mann kam ihm bekannt vor, doch genau zuordnen konnte er ihn nicht.
„Sag das nich' zu früh. Nehm' dich gleich mit zum Observatorium, muss noch eine Messung machen.“

Sie machten sich auf den Weg. Das Wetter hatte sich zugezogen im Vergleich zum Vortag. Die Stiefel versanken tief im Schnee. Die beiden Geophysiker konnten kaum ihre eigenen Hände durch den weißen Nebel sehen. Sie orientierten sich an einem Metallband, das ihnen den Weg zeigte. Es erinnerte den jungen Geophysiker an eine Rettungsleine. Nach einer gefühlten Ewigkeit sah er ein Licht durch den Nebel schwach schimmern. Je näher sie sich dem Licht näherten, desto besser wurde die Sicht. Die Lichtquelle kam von einer quadratischen Falltür, die einige Meter über dem Boden ragte. Sein Kollege öffnete sie und ein Schacht kam zum Vorschein, in dem sich eine eingearbeitete Leiter befand.
„Ich geh vor, Sie kommen nach. Vorsichtig“.
Eine Leiter führte in die Tiefe, 13 Meter in die Erde. Unten angekommen befand sich ein geophysikalisches Observatorium. Die Messgeräte erinnerten ihn an seine Zeit als Student.
„Wieso eigentlich Geophysik?“
„Mein Vater war Geophysiker, hat vor vielen Jahren hier gearbeitet. Ich bin in seine Fußstapfen getreten. Kannten Sie ihn?“
Dem alten Physiker stockte der Atem.
„Name?“
Und der junge Geophysiker sprach zum ersten Mal seit vielen Jahren den Namen seines Vaters aus.
„Kannte ihn nur flüchtig. Aber hab seinen Unfall natürlich mitbekommen.“
Es herrschte für einige Augenblicke Stille.
„Warum ist er…?“
„…raus gegangen in die Kälte? Soweit ich weiß, hatte er sich da so eine Theorie in den Kopf gesetzt.“
„Theorie?“
„Hat sich für Glaziologie interessiert. Dachte, dass es eine Korrelation zwischen dem Magnetfeld und den Gletschern geben müsste. Absoluter Unsinn, wenn du mich fragst.“
„Deshalb war er draußen? Ganz allein? Warum stand nichts davon im Artikel?“
„Tja, hat die Regeln gebrochen. Sie wollten seinen Ruf nicht zerstören. War ein Sturkopf.“
Er fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Damit hatte er nicht gerechnet, das fühlte sich so falsch an.
„Gibt es irgendwelche Aufzeichnungen von ihm?“, fragte er und merkte, wie sinnlos das klang.
„Nein, Junge.“

Nach der Messung gingen sie schweigend durch die Kälte zurück zur Forschungsstation. Kurz davor fiel dem jungen Wissenschaftler ein grüner Container auf, doch seine Gedanken waren woanders. Als sie angekommen waren, sagte der Geophysiker:
„Heute ist Billardabend. Einfach geradeaus die Tür links.“
„Sie kommen nicht mit?“
„Bin zu alt dafür und muss die Daten noch im Labor überprüfen.“
Der alte Mann drehte sich um und ging ohne sich zu verabschieden.
Der junge Geophysiker hörte gedämpftes Gelächter, das Geräusch rollender Billardkugeln und fühlte wie ihm schlecht wurde. Er fühlte sich nicht nach Menschen, wollte Zeit für sich, Zeit um das Gehörte zu verarbeiten. Auf dem Weg zu seinem Zimmer begegnete ihm der Dr. Mehler.
„Hallo, wollen Sie mit Billard spielen? Heute ist Billardabend, hat er ihnen das etwa nicht gesagt? Manchmal ist er ein echter Brummbär.“
„Doch, ich wollte nur etwas Zeit für mich. Zeit, um anzukommen.“
„Verstehe. Es wird allerdings etwas lauter heute Abend. Wenn Sie Ruhe wollen, dann empfehle ich die Bibliothek.“
„Bibliothek?“
„Sie müssten heute Nachmittag daran vorbei gegangen sein. Ist ein grüner Container.“
„Ich erinnere mich, danke.“

Er ging durch die Kälte, fröstelte trotz seiner Schneeausrüstung. Nach einigen Metern blieb er vor dem grünen Container stehen. Er öffnete die Tür und ging hinein. Umrundet von Regalen voller Bücher stand ein kleiner Tisch mit einem Stuhl. Er setzte sich, die Stille lastete schwer auf ihm. Seine Hände verdeckten sein Gesicht. Er hatte sich seinen Vater immer als Helden vorgestellt, der aus Pech verunglückt war. In Wirklichkeit hatte er sich nicht an die Regeln gehalten und merkwürdige Theorien gehabt? Er schüttelte den Kopf, stand auf, hielt es nicht mehr aus. Während er nach Draußen gehen wollte, fiel ihm aus den Augenwinkeln ein altes Buch auf. Das Cover erinnerte ihn an sein Bild, das einzige Bild. Er holte es heraus, strich über die Staubschicht. Der Titel lautete: Geschichten der Neumayer Station 3, 1988. Als er das Buch öffnete verschlug es ihm den Atem. Es waren kurze Geschichten und Beschreibungen der Arbeit der Wissenschaftler. Dann sah er sein Bild. Zwei Wissenschaftler in Schutzausrüstung. Die Bildunterschrift lautete: Das sind unsere Geophysiker, die auch während der Winterzeit unzertrennlich sind. Darunter standen die Namen der beiden und ihre Titel. Sein Vater, Professor der Physik und dann sein Kollege, ein Quereinsteiger mit einem Doktor in Glaziologie. Plötzlich erkannte er den alten Geophysiker, deshalb war er ihm bekannt vorgekommen. Und er wusste, dass er gelogen hatte.
 



 
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