Durchsichtig

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hamburgmichel

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Lotte blickte aus dem Fenster. Es regnete mal wieder und sie fragte sich schon seit einer Ewigkeit, wie sie anfangen sollte.
Dabei saß sie erst seit fünf Minuten an ihrem Schreibtisch und kaute auf ihrem Stift. Ein kleiner Aufsatz zum Thema Durchsichtig – bis Ende nächster Woche! Das sind nur noch sieben Tage und dazwischen ist auch noch ihr zehnter Geburtstag am kommenden Montag. Manchmal fand sie ihre Lehrerin echt unfair, auch wenn Papa und Mama sagen, sie könne ja auch nichts dafür und Schule sei halt Schule. Aber sie ließ trotzdem die Schultern hängen, nahm ihre Brille ab und rieb sich die Augen.
Durchsichtig, was war das überhaupt für ein blödes Thema? Sowas konnten sich auch nur Erwachsene ausdenken, die den ganzen Tag nichts besseres zu tun hatten, als Kinder mit Schulaufgaben zu nerven. Sie stellte sich vor, wie in einem großen, fensterlosen, ungemütlichen Raum, wahrscheinlich im Keller einer Schule, viele Erwachsene mit hängenden Mundwinkeln zusammenkommen, um sich miteinander die fiesesten Themen auszudenken, mit denen sie die Kinder tagsüber in der Schule quälen konnten. Dabei würden sie trotz ihrer missmutigen Gesichter bestimmt auch noch fröhlich sein und sich gegenseitig für besonders gemeine Themen loben.
Sie fragte sich, von wem wohl der Vorschlag Durchsichtig kam und sie war sich sicher, dass der oder diejenige bestimmt an diesem Tag den ersten Preis dafür bekommen hat. Sie überlegte kurz: „Die goldene Miesmuschel“ oder besser noch „Fiesmuschel“, ja irgendwie sowas musste es sein, was der gemeinste Mensch am Abend dann mit nach Hause nehmen durfte, um damit vor anderen gemeinen Erwachsenen anzugeben.
Ihre Mundwinkel hatte sie mittlerweile selbst so weit nach unten gezogen, dass es sie schon anstrengte und ihr Kinn zu zittern begann. Dann drehte sie sich zur Seite, wo ihr Goldfisch auf einem kleinen Regal stand. „Ach, Jolly, wenn Du mir doch nur helfen könntest!“. Der Goldfisch war ihr ganzer Stolz und erst vor einem Monat bei ihr eingezogen – samt des großen runden, ballonartigen Glases in dem er seine Runden schwamm. Sie hatte ihn bekommen, weil er vorher dem Nachbarn unter ihnen gehörte, der leider kürzlich verstorben ist und deshalb dringend jemand brauchte, der sich um ihn kümmert. Verstorben – was für ein komisches Wort aus der Erwachsenenwelt. Ein Kind wird ja auch nicht verboren, wenn es zur Welt kommt, oder? Geboren und gestorben, das kannte sie, aber wer weiß schon, warum Erwachsene manchmal so merkwürdig reden? Erwachsene halt. Sie fand das zwar auch irgendwie traurig, dass der nette ältere Mann in der Wohnung unter ihnen nicht mehr da war, aber gleichzeitig hatte sie sich auch gefreut, dass sie den Fisch haben durfte. Viel lieber hätte sie jedoch ein richtiges Aquarium für ihn gehabt, mit schönen Pflanzen und anderen Fischen, damit er nicht so alleine ist, aber Mama und Papa haben gesagt, dass dafür im Moment kein Platz in ihrem kleinen Zimmer sei. Sie nahm ihre Brille vom Schreibtisch und putzte gedankenverloren die Gläser an ihrem Pullover, bevor sie sie wieder aufsetzte.
„Oh nee, immer verschmiere ich alles noch schlimmer, wenn ich versuche einen Durchblick zu bekommen. Jolly, wie muss das erst für dich sein? Du musst nicht nur durch das Glas sondern auch durch das Wasser gucken, um deine Welt zu sehen.“ Ihr rechter Zeigefinger berührte vorsichtig das Goldfischglas und ihr kleiner Freund kam angeschwommen und tänzelte vor ihr hin und her, wie eine von diesen zappeligen Aufziehfiguren aus Plastik, die sie sich schon mal von ihrem Taschengeld im Spielzeugladen gekauft hatte. Beim betrachten des kleinen hellroten Fisches lächelte sie und fühlte sich nicht mehr ganz so mutlos wie noch vor einem Moment.
Lotte ging in die Küche, um ihre Brille unter dem Wasserhahn zu säubern. Ihre Mama kochte Marmelade, die sie gerade heiß in Einmachgläser goss. „Vorsichtig Schatz, die Gläser sind heiß!“ „Ja, weiß ich doch“, sagte sie vielleicht etwas zu genervt. „Meine Brille nervt mal wieder“. Ihre Mutter konzentrierte sich auf ihre Marmelade und murmelte nur kurz etwas von Brillenputztuch vor sich hin während Lotte versuchte, die Schlieren von ihren Brillengläsern zu wischen.
Als Lotte wieder an ihrem Schreibtisch saß blickte sie erneut ihren Goldfisch an. „Du Armer, ich hoffe so sehr, dass mein Geburtstagswunsch erhört wird und ich vielleicht ja doch ein Aquarium für dich bekomme.“ Sie seufzte. Dann ging sie mit ihrem Kopf ganz nah an das Goldfischglas heran. Es war doch irgendwie faszinierend, dass sie durch das Glas einerseits ihren Fisch beobachten konnte, aber gleichzeitig auch sich selbst darin sah. Oder zumindest eine lustig verzerrte Version eines fast zehnjährigen Mädchens mit wuscheligen rotblonden Haaren, einer Brille mit grünem Rand – und einem missmutigen Gesichtsausdruck, der durch die Wölbung des Fischglases in alle möglichen Richtungen verzerrt wurde. Sie bewegte ihr Gesicht so lange vor dem Glas hin und her, bis sie anfangen musste zu lachen. Eine bewährte Therapie gegen schlechte Laune und Traurigkeit und sie hoffte zumindest, dass Jolly es genauso lustig fand, wie sie.
Da Lotte gerade so guter Stimmung war, beschloss sie, den Aufsatz zu verschieben und Mama zu fragen, ob sie ihr helfen kann. Sie liebte den Geruch von warmer Marmelade und den Moment, wenn Mama die heiße, meistens appetitlich rote Flüssigkeit in die Gläser goss. Dann saß sie manchmal nur vor den Gläsern und betrachtete die verschiedenen Farben, wenn ihre Mama unterschiedliche Sorten eingekocht hatte. Genauso, wie sie als Dreijährige fasziniert vor der Waschmaschine gesessen hatte, um der Wäsche beim hin und herwirbeln zuzusehen. Herrlich! Zumindest hatten ihr Mama und Papa das erzählt. Noch heute wirft sie manchmal einen verstohlenen Blick auf die gläserne Waschmaschinentür, wenn der Schleudergang läuft und ihr ein seliges Glückslächeln ins Gesicht zaubert.
Nachdem Lotte ihrer Mutter versprochen hatte, sich in der nächsten Woche ganz viel Mühe mit ihrem Aufsatz zu geben, durfte sie in der Küche bleiben und ihr helfen.
„Du kannst schon mal die Etiketten beschriften“, sagte ihre Mutter. „Na gut, Mama.“ Sie wusste zwar, dass ihre Mutter ihr diese Aufgabe gegeben hat, damit sie nebenbei übt schön zu schreiben, aber es machte ihr trotzdem Spaß, die bunten Etiketten erst zu beschriften und anschließend auf jedes Glas zu kleben. Obwohl sie auch dachte, dass man das Glas ja nur ein bißchen genauer angucken muss, um festzustellen, was für eine Marmelade sich darin befand. Zumindest gehörte auch das zu ihren Vorlieben: Marmeladeraten – nur durch das Angucken des Glases. Sie hat sich auch schon mal vorgestellt, dass sie in einer Fernsehshow gegen eine berühmte Köchin antritt und alles errät, während die Köchin peinlich berührt versucht Ausreden für ihre Fehlversuche zu finden.
Lotte wünschte sich, dass dieser regnerische Tag schnell zu Ende geht, damit sie nicht mehr so lang auf ihren Geburtstag warten muss.
Als am Abend ihr Papa und ihre große Schwester auch zu Hause waren taten alle etwas geheimnisvoll und sie baten Lotte, sich eine halbe Stunde in ihrem Zimmer aufzuhalten. Natürlich hatte dies etwas mit ihrem Geburtstag zu tun und sie war schon ganz schön aufgeregt und fragte sich, warum um Himmels Willen alle dabei sein mussten, um etwas vorzubereiten? Warum könnte nicht wenigstens ihre Schwester Juli in der Zeit mit ihr was spielen oder so? Sie lauschte in ihrem Zimmer an der Tür und blickte dabei zu ihrem Fisch. „Was glaubst Du, Jolly, machen die da? Es klingt, als würden sie irgendwas durch die Wohnung tragen“, flüsterte sie ihm zu. Sie versuchte jedoch, sich nicht allzu viel Hoffnung auf das ersehnte Geschenk zu machen und hatte eine gute Idee, sich abzulenken. Sie nahm ihre Fenstermalstifte aus der Bastelbox und verwandelte eines ihrer zwei Fenster in ein kunterbuntes Aquarium. Konzentriert bearbeitete sie die Konturen jeder Pflanze und jedes Fisches. Am Ende malte sie die Konturen noch in grellen bunten Farben aus, damit man auch von der Straße aus sehen konnte, was sie sich so sehr wünschte. Vielleicht könnte sie ja damit etwas beeinflussen, dachte sie, als es an ihrer Tür klopfte und ihre Schwester reinkam.
„Was habt ihr gemacht?“ Lotte war zu neugierig, um ihre Schwester nicht zu fragen. „Nix besonderes“, sagte Juli grinsend. „Wirst du ja bald sehen. Musst dich halt noch ein paar Tage gedulden, auch wenn‘s schwerfällt, Kleine.“ Lotte hasste es, wenn ihre Schwester sie ‚Kleine‘ nannte und verzog ihr Gesicht zu einer missbilligenden Grimasse. Juli wuschelte ihr im Vorbeigehen besänftigend durch die Haare und steuerte auf das Goldfischglas zu. „Hey Jolly, wie geht‘s?“ Sie klopfte ganz vorsichtig an das Glas, um den Fisch anzulocken. „Darf ich ihm etwas Futter geben?“ fragte sie. „Ja, ist ja sowieso auch gleich Abendbrotzeit für ihn.“ Juli schüttete ein paar kleine Brocken Fischfutter aus der Packung neben dem Glas in ihre Hand und ließ es vorsichtig in das Wasser rieseln. Der Fisch zappelte sofort und schwamm blitzartig zu der Stelle, wo das Futter ins Wasser sank. Lotte sah ihrer Schwester zu. „Glaubst du, Jolly ist glücklich?“ „Hm, klar, guck ihn dir doch an.“ „Aber er hat ja nur ein paar Steine und seine größte Freude am Tag ist bestimmt nur das Futter“, sagte Lotte etwas traurig. „Aber er kennt es doch auch nicht anders“, versuchte Juli ihre kleine Schwester zu trösten. „Sieh mal, Lotte: sind wir unglücklich, weil wir zu viert in dieser Wohnung wohnen? Klar, man könnte auch alleine hier wohnen, oder wir könnten in einem großen Haus mit zehn Zimmern leben oder so, aber das kennen wir ja gar nicht und deswegen vermissen wir es auch nicht. Verstehst du, was ich sagen will?“ Natürlich verstand Lotte, sie war ja immerhin schon quasi zehn Jahre alt und damit fast auch schon dreizehn, wie Juli. „Ja, aber wir sind immerhin nicht alleine.“ „Hm, da hast du schon Recht, aber auch das kennt Jolly ja nicht anders. Außer vielleicht … Ok, wir wissen nicht, wie er vorher gelebt hat, aber ich finde er sieht durchaus glücklich aus und er sieht ja auch, dass er dich glücklich macht, wenn du so vor seinem Glas sitzt und Grimassen schneidest.“ Sie machte ein paar lustige Grimassen in Lottes Richtung und beide mussten lachen, als ihr Papa zur Tür kam und rief „Mädels, Abendessen!“.
Beim Abendbrot erzählte ihr Papa, dass er am Wochenende nochmal in die Werksatt muss, um einen Notfall zu bearbeiten, den er bis Montag repariert haben muss. Er war Glaser von Beruf und reparierte Fensterscheiben, Glastüren und alles Andere, was sonst noch aus Glas war. Nur mit Brillengläsern kannte er sich nicht so aus. „Die sind mir einfach zu klein“, sagte er immer.
Nach dem Abendessen räumten sie schnell den Tisch ab, um noch eine Runde ‚Wer im Glashaus sitzt‘ zu spielen. Lotte liebte das Spiel, obwohl es ihrem Papa gehörte, ein Weihnachtsgeschenk von ihrer Tante. Wahrscheinlich dachte sie, dass ihr Bruder als Glaser alles mag, was mit Glas zu tun hatte, aber so mit richtigem Glas hatte das Spiel nichts zu tun. Es war trotzdem ein lustiges Brettspiel, bei dem es darum ging, bekannte Redensarten auf eine möglichst lustige Weise zu verändern und durch malen für die anderen darzustellen. Zum Besipiel fand sie ‚Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Schweinen werfen“ besonders lustig. Meistens spielte sie mit Mama oder Papa zusammen, weil sie viele Redensarten noch gar nicht kannte oder verstand. Aber trotzdem hatten alle bei diesem Spiel immer sehr viel Spaß.
Als Lotte an diesem Abend schlafen ging war sie von der Schulwoche so müde, dass sie es nicht mehr schaffte selbst noch etwas zu lesen. „Papa, bitte lies du mir nur etwas vor heute, ja? Ich bin zu müde zum selberlesen.“ Ihr Papa war zwar selbst auch müde aber er nickte und fragte nur: „Das Buch von gestern – und vorgestern und vorvorgestern?“ „Au ja! Es sind doch auch nur kleine Kapitel.“ Lotte legte sich entspannt ins Kissen und reichte ihrem Papa dabei das Buch aus dem Regal an ihrem Bett. ‚Aus dem Fenster. Kindergeschichten mit Durchblick.‘ Es handelte sich um kurze, spannende Berichte von Kindern aus der ganzen Welt, die erzählen, was sie beim Blick aus einem Fenster sehen. Manche handeln von belebten Straßenkreuzungen, Marktplätzen, Bergwiesen oder sogar vom Blick aufs Wasser, den ein Junge auf einem Hausboot hat. Lotte versuchte sich immer alles ganz genau in ihrer Fantasie vorzustellen. Leider waren es nicht immer nur schöne Erzählungen sondern manchmal auch traurige, die von Armut oder auch Krieg handelten. Beides Dinge, die Lotte sich nur schwer bis gar nicht vorstellen konnte und ihr Papa meinte dann immer zu ihr, wie glücklich und dankbar sie deshalb sein kann.
An diesem Abend ging es um ein Mädchen in Italien, die in einer so engen Straße wohnt, dass sie aus ihrem Fenster fast das gegenüberliegende Haus berühren kann. Wie spannend das sein musste dachte Lotte noch, bevor ihr die Augen zufielen. „Gute Nacht Papa“, murmelte sie, als ihr Papa das Buch wegstellte. „Gute Nacht, Schatz. Träum was Schönes!“

Lotte fand, das Wochenende zog sich wie Kaugummi unter der Schuhsohle, als sie endlich am Sonntagabend im Bett lag, aber leider nicht einschlafen konnte. In der Wohnung roch es immer noch verheißungsvoll nach Kuchen, den Mama für ihren Geburtstag gebacken hatte und das machte es ihr umso schwerer einzuschlafen.
Zusätzlich zu Lottes Aufregeung kam, dass sie ihre Eltern noch in der Wohnung rumwerkeln hörte, als würden sie bis morgen früh noch eine Bühne im Wohnzimmer aufbauen müssen. Ja konnten die sich denn gar nicht vorstellen, dass hier auch jemand schlafen wollte? Ja, richtig, sie wollte schlafen und zwar so schnell es nur geht! Augen zu – und schon sechs Uhr und Augen wieder auf! Je länger und angestrengter sie darüber nachdachte umso vernebelter wurden ihre Gedanken bis sie schließlich die Augen nochmal öffnete.
In ihrem Zimmer war es stockdunkel, aber durch die geriffelte Scheibe in ihrer Tür fiel etwas Licht. Lotte sah auf den Wecker: 6 Uhr 12! Sie setzte sich ruckartig auf und war auf einmal hellwach. Sie hatte tatsächlich das Gefühl nur einen kurzen Augenblick die Augen zu gehabt zu haben, dabei hat sie in Wirklichkeit die ganze Nacht tief geschlafen. Wie immer an ihrem Geburtstag oder am Morgen des Heiligabends verspürte sie ein leichtes Freudenkribbeln im Bauch. Nur noch ein paar Minuten und sie würde ihre Geschenke vor sich haben! Sie musste unbedingt aufstehen und erstmal nachsehen, ob Jolly wach ist. Sie tastete nach ihrer Brille im Regal, wobei sie natürlich – patsch! – mal wieder direkt auf die Gläser griff. Doch sie beschloss, dass ihr das heute ganz egal ist und ihr ausnahmsweise keine schlechte Laune bereitet. Dann tappte sie im Dunkeln zu ihrem Schreibtisch und knipste die Lampe an. Da sah sie schon Jolly seine Runden drehen und sie dachte sich, dass er natürlich auch Lottes Aufregung spürte.
Sie rieselte schnell etwas Futter in das Fischglas, sah Jolly dabei zu, wie er zur Futterstelle düste und schlüpfte nebenbei in ihre Hausschuhe. Dann ging sie aus ihrem Zimmer erstmal in die Küche, wo ihr Papa gerade Kaffee zubereitete.
„Ooh!“ sagte er übertrieben laut und langgezogen. „Ich glaube ich sehe hier ganz glasklar ein Geburtstagskind vor mir stehen!“ Er lachte sie an, breitete seine Arme aus und Lotte ließ sich schnell von ihm drücken. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag mein Schatz!“ „Danke, Papa! Wo sind Mama und Juli?“ „Hm, vielleicht gucken wir mal im Wohnzimmer?“ Ihr Papa hielt ihr die Augen zu und schob Lotte vor sich her. Sie musste sich zusammenreißen, nicht einfach loszulaufen, so gespannt war sie.
Dann stieg ihr der Geruch von Kuchen und Streichhölzern in die Nase, als ihr Papa die Hände von ihren Augen nahm und sagte: „Augen auf!“ Sie öffnete zuerst das linke Auge ganz vorsichtig und dann blitzschnell beide Augen. Im selben Moment öffnete ihr Mund sich vor Erstaunen.
Neben dem Kuchen mit zehn Kerzen, ein paar bunt verpackten Päckchen und einigen Luftschlangen stand, soweit Lotte das erkennen konnte, ein großer, mit einem schwarzen Tuch verdeckter Kasten. Wie in einer Zaubershow mit der zersägten Dame, nur etwas kleiner. Sie ahnte, dass sich darunter etwas ganz Besonderes befinden musste und ihr Herz machte freudige Luftsprünge. Hinter dem geheimnisvollen Kasten standen Mama und Juli noch in ihren Schlafanzügen und grinsten bis über beide Ohren. Lotte wusste gar nicht, was sie zuerst machen sollte: das Tuch wegnehmen oder die Kerzen auspusten. Aber dann siegte ihre Neugier und sie zog mit einem Ruck das Tuch weg.
Dort stand es vor ihr: ein Aquarium! Und was für eins! Sie führte reflexartig beide Hände vor ihren Mund, um einen Jubelschrei zu unterdrücken, was ihr jedoch nicht so ganz gelang. Im Aquarium war der Boden schon mit Kies und Steinen bedeckt, aber es war natürlich noch nicht mit Wasser gefüllt. Außerdem befanden sich darin zehn kleine Luftballons. Die hohe, dicke Glaswand auf einer Seite des Aquariums war mit Blumen bemalt und ihr Name stand darauf. Die Wand auf der anderen Seite war mit ‚Happy Birthday‘ und einer Zehn beschriftet. Es erinnerte sie ein bißchen an die großen Fenster, die damals in ihrem Kindergarten ebenfalls in den buntesten Farben beschriftet und bemalt wurden, wenn ein Kind Geburtstag hatte.
Lotte wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Sie war einfach nur verzückt. „Jetzt ist mir eure ganze Heimlichtuerei auch klar“, sagte sie breit grinsend. „Papa, hast du das selbst gebaut?“ Ihre Frage kam fast geflüstert, weil sie sowas wie einen Kloß im Hals hatte. Ihr Papa kratze sich etwas verlegen am Kopf. „Ja, das habe ich, das war bisher mein schönster Notfall.“ „Danke!“ Lotte umarmte glücklich zuerst ihre Mama, dann Juli und dann noch einmal ganz doll ihren Papa. „Du bist der allerbeste Aquariumbauer der Welt!“
Ihr Papa, der zwar sichtlich stolz auf sein Werk war, dieses jedoch keinesfalls für sich alleine beanspruchen wollte, meinte, dass Mama und Juli das Aquarium jedoch schon mal etwas eingerichtet und vor allem auch geschmückt haben. „Außerdem gibt es da ja noch ein paar kleine Päckchen.“ Juli wunderte sich schon etwas, warum ihre Schwester die anderen Päckchen noch nicht ausgepackt hatte. Wäre es ihr Geburtstag, hätte sie bestimmt schon alle Geschenke aufgerissen. Aber Lotte schien in ihrer grenzenlosen Freude über das Aquarium die anderen Sachen noch gar nicht richtig wahrgenommen zu haben.
„Oh..! Wie cool, noch mehr Geschenke!“, jauchzte Lotte. Und dann packte sie noch ein Buch über Fischhaltung im Aquarium sowie eine Packung Glasmalstifte aus. „Die sind von mir“, sagte Juli. „Damit kannst du deinen Fischen ja ein schönes Zuhause an die Glaswände malen.“ Lotte stutzte: „Meinen Fischen? Aber ich hab doch nur…“ Ihre Mama grinste sie an. „Schau doch mal nach, was da in dem Buch drin liegt.“ Sie begann das Buch langsam durchzublättern und gleich nach den ersten Seiten fiel ein Umschlag heraus, den sie aufgeregt öffnete. „Das ist ja ein Gutschein für die Zoohandlung! Das heißt, ich darf mir noch ein paar Fische aussuchen?“ Ihr Papa lachte: „Aber bitte nur kleine Fische. Wenn’s geht keine Karpfen oder einen Aal, oder so!“ Alle lachten und Lotte fragte „und was ist mit dem Platz in meinem Zimmer?“ Ihre Mama meinte, dass sie dafür schon eine Lösung finden würden. Sie könnte ja eventuell ihren Kaufmannsladen verkaufen oder zumindest erstmal in den Keller stellen. Lotte überlegte kurz und wenn sie es sich recht überlegete, stimmte das natürlich. Mit dem Kaufmannsladen spielte sie eigentlich schon lange nicht mehr und sie nutze ihn nur noch als zusätzliches Regal. Wenn sie dafür ein neues Zuhause für Jolly – und natürlich seine neuen Freunde – bekommt, dann erscheint ihr das ein guter Tausch.
Ihre Mama drängelte jetzt ein wenig, da für das Frühstück nicht mehr viel Zeit blieb und sich alle noch für die Schule und die Arbeit fertig machen mussten. Lotte freute sich schon sehr darauf, in der Klasse von ihren tollen Geschenken zu erzählen und sie war sich sicher, dass dieser Geburtstag ihr allerbester sein würde.

Am Himmel wechselten sich Sonne und dunkle Wolken ab und Lotte sah aus dem Fenster. Sie saß an ihrem Schreibtisch, kaute auf ihrem Stift und dachte immer noch über ihren tollen Geburtstag gestern nach. Nun war es jedoch an der Zeit, ihr Versprechen einzulösen, das sie am Freitag ihrer Mama gegeben hatte. Sie hatte nur noch drei Tage, um ihren Aufsatz zu schreiben und es fühlte sich alles irgendwie anders an, als letzte Woche. Irgendwie viel besser. Sie drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl mehrmals um die eigene Achse, lachte leise dabei und stoppte in dem Moment, als sie ihrem Fischglas und dem noch leeren Aquarium zugewandt war. „Jolly, am Wochenende ziehst du um. Freust du dich auch schon so darauf, wie ich?“ Ihr Finger berührte das Goldfischglas und Jolly kam angeschwommen. Lotte war überzeugt, dass er sie durch das Glas direkt ansah und sie fand auch, dass er glücklicher aussah, weil er sich bestimmt auch schon auf seinen Umzug und seine neuen Freunde freute.
Lotte drehte sich wieder zum Fenster, vor dem ihr Schreibtisch stand. Sie sah noch einmal hinaus, auf die unten liegende, fast leere Straße, die Bäume, die die Häuser gegenüber bald mit ihren Blättern verdeckten und den wolkigen Himmel, der jetzt sogar ein paar Sonnenstrahlen durch das Fenster auf ihren Schreibtisch zauberte. Dann wandte sie sich lächelnd und entschlossen ihrem immer noch leeren Aufsatzheft zu.
In diesem Augenblick war ihr alles klar. Glasklar, wie ihr Papa sagen würde. Warum war sie nicht schon viel früher darauf gekommen? Jetzt wusste sie genau, was sie schreiben wollte. Sie hatte schon die ganze Zeit so viel zu erzählen, aber wahrscheinlich fehlte ihr einfach nur ein guter Anfang.
Sie rückte kurz ihre Brille auf der Nase zurecht, nahm ihren Füller und konzentrierte sich, als sie ihn auf das Papier setzte.
Glas ist durchsichtig, schrieb sie. Und sie ergänzte: Glück auch.
 

petrasmiles

Mitglied
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich eine Kindergeschichte lese - potzblitz! ich lese eigentlich keine Kindergeschichten.
Warum eigentlich? Vielleicht, weil ich selbst keine habe?
Diese Geschichte hast sich auf jeden Fall gelohnt wegen des glücklichen Mädchens und dem tollen letzten Satz.

Liebe Grüße
Petra
 

hamburgmichel

Mitglied
Vielen Dank, Petra!
Du solltest öfter Kindergeschichten lesen - es gibt (hier) so viele, die einfach toll sind!
Das ist meine erste Geschichte überhaupt und ich war überrascht, wie viel Spaß es macht, sich gedanklich voll und ganz in anderen Welten zu tummeln. Das Thema war eigentlich für einen Kinderschreibwettbewerb an der Schule meiner Tochter gedacht und ich habe das einfach mal zum Anlass genommen, mir selbst etwas dazu auszudenken. Jetzt bin ich auf den Geschmack gekommen ...
LG
 

petrasmiles

Mitglied
Nun ja, mir war schon aufgefallen, wie der Autor rund um das Aufsatzthema 'Durchsichtig' jede Menge Hinweise in die Tage des Mädchen einflocht, die darauf hinwiesen, was man alles daraus machen kann - das ist mir ein bisschen zu 'pädagogisch' als Erwachsenem. Aber es war trotzdem sehr schön, zu lesen, dass sie 'selbst' darauf gekommen ist.
Auf jeden Fall war das nicht die letzte Kindergeschichte, die ich hier gelesen habe - und Dir wünsche ich noch viel Spaß beim Schreiben!

Liebe Grüße
Petra
 



 
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