Durststrecke

ChristianW61

Mitglied
Sie: „Schaffst Du das?”

Er: „Sicher!”

Er würde es schaffen, hatte dies schon öfters bewiesen. Das Gegenteil allerdings auch. Neben seiner Liebe zu seiner Partnerin, gab es eine andere, verhängnisvolle Leidenschaft. Er trank gerne. Diese Lebensbeziehung mit teilweisem Widerruf war er schon früh eingegangen. Mit dreizehn oder vierzehn, so genau wusste er das nicht mehr. Was ihm aber noch genau in Erinnerung war: siebzehn. Er war am Weg nach Hause. Zweihundert Meter noch. Es gab nur eine unüberwindliche Barriere, die sich 100 Meter vor seinem rettenden Hauseingang in Form eines Branntweiners auftürmte. Schon damals war es ihm sowohl körperlich als auch geistig unmöglich, nicht in die Kaschemme einzutreten. Lebensgier. Das Erwachen am Tag danach, denn solange dauerte schon damals eine Einkehr: Erinnerung gelöscht. Durchaus tröstlich. Seine Lebensgier hatte ihn die folgenden dreißig Jahre stets betrogen. Immer, wenn er dachte, dass er jetzt der Erfüllung auf der Spur war, stellte er fest: ödes Marschland. Es wiederholte sich, jahraus, jahrein. Irgendwann hatte er eine Überschlagsrechnung angestellt. Versuch, den Wert der verlorenen Erinnerung, der verlorenen Lebenszeit, eine Zeit, von der er nicht wusste, wo er gewesen war, mit wem er sie verbrachte, wie er ins Bett gekommen war, zu bemessen: etwa zwei Jahre, die ihm fehlten.

Diesmal würde er es aber schaffen, endgültig. Trinker oder Alkoholiker, er gehörte zu dieser Gruppe, zu denen sich andere nicht rechnen. Dazu hatte er sich bekannt, aber, feiner Unterschied, nicht dafür entschieden. Das erste Glas ist immer zu viel, die unzählig folgenden sind stets zu wenig. Klar, und solch wohlmeinende Ratschläge hatte er schon oft bekommen, dass mit Stärke alles geht. Doch fand er im Leben raus, dass sich Stärke auch in Kartoffeln findet, und daraus wird Wodka gewonnen.

Erfahren und mit allen therapeutisch und selbst entwickelten Überlebensstrategien ausgerüstet, hatte er beschlossen, sich dieses Mal auf die unvermeidliche Durststrecke einzulassen.



An einer Großstadt gibt es viel zu bekritteln. Mangelnde Ruhe, nie enden wollender Straßenverkehr, die abendlich, unaufhörlich blinkende Neonbeleuchtung und andere Widrigkeiten, die Menschen vom Leben abhalten. Die Stadt bietet aber eine ausgezeichnete Nahversorgung. Immer wenn er an die Zeit, die er in einer 150-Seelen-Gemeinde verbrachte, in der ein simpler Einkauf ein hohes Maß an strategischer Planungsfähigkeit voraussetzte, dachte, wusste er diese urbanen Vorzüge zu schätzen. Weil als Trinker sitzt Du in einer Großstadt nie am Trockenen und mithin sind Durststrecken, zitternde Ängste aller Fraktionskollegen, stets sehr fern. Nachdem er wieder vom Land in die Stadt zurückgekehrt war, hatte er seine Zelte in einem sehr abgelegenen Winkel der Stadt aufgeschlagen. Erfreulicherweise befand sich in Wankweite ein wohl sortierter Supermarkt, der vor allem in spirituöser Hinsicht sein Herz erfreute. Etwas weiter entfernt, aber noch in Stolperabständen erreichbar, lag zudem ein eher deprimierend ausgestatteter Laden. Nur ein Notnagel.

Solche weitreichenden Entscheidungen, sich freiwillig und bei ungetrübtem Verstand einer Durststrecke hinzugeben, sich bedingungslos dem Eis der Abstinenz auszuliefern, werden verdächtig oft an einem Sonntag getroffen. Kein Zufall. Meistens ist das samstägliche Ereignis, das am Sonntag am Morgen in die Abgeschiedenheit des Vergessens verwunschen wird, und das sonntägliche Gespräch, bei dem unweigerlich die Zukunftsaussichten der Partnerschaft zur Sprache kommen, der Auslöser. Er war nach diesem Gespräch Hause gegangen und holte einige Stunden Schlaf nach.

Nach dem Aufstehen machte er sich seine übliche Ration Kaffee und entsicherte mit leicht zittriger Hand ein Päckchen Zigaretten. Er dachte daran, dass, um dem Alkohol zu entsagen, es einer gesunden Lebensweise bedarf.

Gut, zunächst würde er sich aber dem Thema Abstinenz widmen.

Bis jetzt war kein Verlangen spürbar. Das war insofern bemerkenswert, denn das Phänomen Alkoholiker beinhaltet, dass in entscheidenden Momenten einfach nicht genug Stoff da ist. Im Normallfall kannst Du gar nicht so viel bunkern - irgendwann geht’s zur Neige, aber der Durst ist nach wie vor da. Er verzehrt und verbrennt, schiebt alles andere in den Hintergrund. Das war es, was er im Leben wirklich fürchtete. Doch am späten Nachmittag begann das zarte Pflänzchen Abstinenz leicht zu glimmen, am frühen Abend war es schon ein beachtliches Lodern und eine Stunde später stand er in Flammen.

Gut, dieses Mal gepflegt drei bis vier Gläser Bier im Bett liegend trinken. Das Beste daran ist, dass seine Partnerin vom gebrochenen Vorsatz nie erfahren wird. Eine promilleträchtige Binsenweisheit, die besagt, aus Erfahrung wirst nicht klug. Weil, das kannte er zur Genüge. Manchmal geht dieser Vorsatz gut, aber öfters in die Hose. Er richtete alles her, das Bett, die Bierdosen, sah sich einen Film an, “Die Gustloff”. Ein Schiff, das mit ihm einiges gemeinsam hatte, beide galten mehr oder weniger als unsinkbar.

Als die letzte Dose geleert war, stellte sich ein alter Bekannter aus Jugendtagen vor. Er kam immer unaufgefordert in seine Wohnung. Ohne anzuläuten oder anzuklopfen, war einfach da, obwohl er die Türe abgesperrt hatte. Er legte ihm seine klobige Pranke auf die Schulter und meinte spöttisch: „Im Ernst?”. Als er trotzig nickte, die Zähne fest, und wie nach Halt suchend, zusammenbiss, wuchs der Durst, bohrte sich in seinen Körper, in seine Seele, in seinen Geist. Diese Zustände kannte er sehr gut und daher hatte er dafür gesorgt, dass er kein Geld mehr in der Wohnung hatte, mit dem er für Nachschub sorgen konnte.

Das erfüllte ihn nur kurze Zeit später mit Bitterkeit, denn anstatt bei einem Lieferservice zu bestellen, musste er aus dem Trainingsanzug raus, in die Hose rein und im Schweinsgalopp zum Bankomaten. Hier machte es sich bezahlt, in einer Großstadt zu leben, denn passiert Dir das in einer 150-Seelen-Gemeinde kannst schauen, wie Du durchs trockene Leben kommst. Nur, Bankomat außer Betrieb. In seiner nächsten Umgebung gab’s nur diesen. Alle anderen waren mindestens 2-3 Km entfernt. Infrastrukturell erinnert das Viertel, in dem er lebte, speziell am Wochenende, eher an eine Favela, ein trinkerisches Elendsquartier.

Es gab nur eine ab 21 Uhr geschlossene Tankstelle und ansonsten eine gen Süden führende Bundesstraße, die sich später in eine Autobahn einfädelt. Er ist nicht wählerisch und im Gegensatz zur landläufigen Meinung, dass ein Trinker Wert auf gute Qualität legt, trifft das auf ihn nicht zu, denn ihm schmeckt kein Alkohol. Bier stinkt und ist bitter, Schnaps ist beziehungslos und vernichtet, bliebe also der Wein. Nur, den mochte er nicht. Heimlich bewunderte er Menschen, die genießerisch Wein trinken, zelebrieren, also pro Stunde ein Viertel. Da wird dieses Getränk mit Beinamen versehen, die Abstammung erwähnt, Aufzucht und Pflege, welche Medaillen er errungen hat, sehr vermenschlicht, das Ganze. Wein hielt er aber schon immer für eine Spielart der Homöopathie, aber das, womit er es hier zu tun hatte, was es schnellstens zu beruhigen galt, war ein unlöschbarer, innerlicher Brand, der sich nicht legte und mit gnadenloser Heftigkeit weiter loderte.

Er fand in seiner Hosentasche unerwarteterweise den Gegenwert von zwei großen Bier. Neben seiner Wohnung lag eine von Arabern geführte Pizza, die neben Weinen, die er aber aus sportlichen Gründen nicht konsumierte, auch Bier verkauften. Doch leider nur eine für ihn ungenießbare Sorte, die er als „die Rache der Weintrinker“ bezeichnete. Ansonsten gab’s dort nichts. Würstelstand, ja, aber immer geschlossen. Nächster Bankomat nur per U-Bahn oder Autobus erreichbar und die U-Bahn-Station: sehr weit weg. Autobus am Sonntag? Die Verkehrsintervalle an der Peripherie sind tatsächlich größer als das in ihm lodernde Feuer.

Hier kam er ins Spiel.

Gott.

Persönlich kannte er ihn nicht, hatte mit ihm noch nie einen gehoben, wusste nichts über seine politischen Ansichten, seine sexuelle Ausrichtung, keinen blanken Schimmer im Hinblick auf dessen Lebensumstände, aber er vertrat die Meinung: irgendwo wird er schon sein. Er wünschte ihm aber nicht, dass er in einem solchen Niemandsland zu Hause sein möge, und genau in diesem Moment, als er ihm alles Gute wünschte, er also in einer Umgebung mit ständig laufenden Zapfsäulen sein Dasein fristen möge, zeigte er sich ihm. In die Station, die direkt vor seiner Haustür lag, fuhr soeben ein Autobus ein. Hechelnd erreichte er ihn. Vorzügliches Service. Hier hielt er andächtig inne, denn wie groß ist bei einem 30-minütigen Intervall die Wahrscheinlichkeit, dass in dem Moment, in dem er vielleicht noch 100 Meter zu seinem Haustor hatte, ein Autobus einfährt?

In zehn Minuten war er im Einkaufszentrum bei einem funktionierenden Bankomaten. Ansonsten Totenstille, alle Lokale zu. Bis auf eines. Ein Chinese, der am Zusperren war. Bei einem Landsmann wäre Sperrstunde gewesen. Bei einem Türken hätte es nichts zu saufen gegeben. Italiener, siehe Wein. Aber diese Dame, die soeben mit ihrem Freund kuschelte, brachte ihm das große Bier mit einem unergründlichen Lächeln. Ein erhebendes, monumentales Ereignis, als es seinen Körper durchströmte. Diese, auch nicht durch beste Medikamente zu erreichende Erleichterung, das Nachlassen der inneren Spannung! Er war innerlich ausgeglichen, zahlte, gab ein gutes Trinkgeld und machte sich auf den Heimweg. Aber nach fünf Minuten war er wieder da. Der Durst. Es gibt eine Gaststätte, die er ansonsten meiden würde, jetzt aber nicht. Der Wirt schenkt asthmatisch röchelnd Bier aus. Egal, alles wird gut. Es trank dort noch mehrere, aber die Unruhe blieb.

Das Erwachen wie so oft. Ohne Erinnerung. Sehr löblich. Beim zweiten Kaffee die Frage, wie blöd denn einer sein kann, aus der jahrzehntelangen Erfahrung nichts gelernt. Für morgen, hatte er sich vorgenommen, eine Art Beratung in Anspruch zu nehmen. Die kannte er von früher, und die ihn. Dort gibt es vorzügliches Wasser mit Triple-A-Rating, nette Ärzte und Ärztinnen, bemüht, aber völlig überlaufen, daher wenig Zeit. Umkehr heißt das Gebot. Aber wohin? Na gut, eine neue Durststrecke, diesmal aber wirklich.
 



 
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