Edgar spricht

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Helles Tageslicht fiel durch die nicht ganz geschlossenen Rolläden ins Schlafzimmer und weckte ihn. Uwillig drehte Edgar sich im Bett zur Wand, wo sein Nachtschränkchen stand und lugte vorsichtig zum Wecker hin. Noch hatte er nicht geklingelt. Noch konnte er ein paar Minuten dösen. Noch ...Er war kurz davor, wieder einzuschlummern, als sein Radiowecker ansprang und laute Musik das Schlafzimmer erfüllte. Dies konnte er nicht einfach ignorieren. Mit Absicht hatte er den Radiowecker in einer Ecke des Raumes platziert, die einige Meter vom Bett entfernt war, sodass Edgar nichts anderes übrigblieb als aufzustehen, um ihn auszuschalten. Zu lange ließ er das Gerät nie auf dieser Lautstärke. Von eventuellen Beschwerden der Nachbarn abgesehen, waren ihm selbst leise Töne lieber.

Er erreichte den Wecker, als die Musik verstummte und eine fröhliche Frauenstimme in einer Sprache erklang, die Edgar nicht verstand. Wahrscheinlich hatte er gestern Abend den Sender verstellt und das war Französisch. Oder Spanisch? Beide Sprachen beherrschte er nicht. Er würde den richtigen Sender heute Abend einstellen. Kein Grund, sich damit aufzuhalten. Er machte sich zur Arbeit fertig und ging in die Küche.

Gut gelaunt - denn es war Freitag, und heute Abend würde seine neue Freundin Juliane kommen - füllte er Wasser in die Kaffeemaschine, löffelte genug Kaffeepulver ein, um den Kaffee stark werden zu lassen, stellte die Maschine an und schaltete anschließend das Küchenradio ein. Schon wieder eine Frauenstimme, die in französischer Sprache oder welcher auch immer etwas herunterrasselte. Ungeduldig drehte er am Knopf, um den Sender zu verstellen und fand einen mit englischer Musik. Das war schon besser.
Er kannte den Song, einen Hit von Lynn Anderson, und sang beim Refrain laut mit. „I beg your pardon, I never promised you a rosegarden." Da hatte er wohl einen der Sender erwischt, die alte Schlager spielten. Er mochte das Lied. Danach spielten sie etwas Langsames. Er konnte das Lied nicht identifizieren, aber auf alle Fälle war es nicht auf Englisch. Er mochte keine Balladen, in keiner Sprache und schaltete das Radio vor dem Ende des Liedes aus.

Zehn Minuten später saß er im Auto. Zeitgleich mit dem Motor sprang das Radio an. Wieder ein langsamer, melancholischer Song, in einer Sprache, die ihm absolut nicht vertraut erschien. War heute der Tag der Fremdsprachen? Ihm fiel auf, dass er im Radio noch kein Wort auf Deutsch gehört hatte. Nun, spätestens bei den Nachrichten würde sich das ändern.
Pünktlich um halb acht ertönte das Signal der Regionalnachrichten. Und dann sprach eine Männerstimme. Aber nicht auf Deutsch. Auch nicht auf Englisch, Französisch oder Spanisch. Und auch nicht auf Türkisch, Russisch, Ukrainisch, Chinesisch, zumindest, soweit er das beurteilen konnte. Vielleicht war das Esperanto, diese Kunstsprache, die in keinem Land der Welt Amtssprache war, und die Radiosender hatten sich abgesprochen. Ja, das musste es sein. Was für eine blöde Idee. Das hatten sie sich wahrscheinlich im Kultusministerium ausgedacht. Nur bei der Musik, ja, da blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als in den jedem geläufigen Sprachen zu spielen.

Er parkte das Auto auf dem Firmenparkplatz und machte sich auf den Weg ins Büro.
Erika und Dagmar schauten von ihren Computern auf, als er die Tür öffnete und erwiderten etwas auf sein „Guten Morgen", was wie ein Gruß klang, aber keine Ähnlichkeit mit einer Sprache hatte, die er kannte. Jetzt reichte es.
„Könnt ihr vielleicht normal mit mir reden, auch wenn heute anscheinend der Tag der unverständlichen Sprachen ist?", blaffte er seine Kolleginnen an. Das heißt, er wollte sie mit diesen Worten anblaffen. Aber es funktionierte nicht. Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass Worte in einer Sprache aus seinem Mund kamen, die er noch nie gehört hatte. Das konnte doch nur ein Alptraum sein. Und eben hatte er doch ganz normal „Guten Morgen" gesagt?
Elvira sah zu ihm hin und schüttelte den Kopf. Dagmar legte den Finger auf die Lippen und deutete auf ihren PC. Er trat zu ihr und schaute ihr über die Schulter.
„Alles verschlüsselt", stand da. Auf Deutsch. Und dann folgten die vermutlich gleichen Worte auf Englisch, Französisch, Spanisch etc.
Das war also des Rätsels Lösung. Und wahrscheinlich hatte jeder ein paar Worte in seiner Muttersprache gut, das würde sein „Guten Morgen" erklären. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, zog sein Handy aus der Tasche und tippte eine SMS an Juliane.
„Freue mich auf heute Abend", schrieb er. Heraus kam ein Buchstaben- und Zahlensalat. Er überlegte, dann tippte er darunter:
„Viel Spaß beim Entschlüsseln."
Es würde ein toller Abend werden.
 
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Bo-ehd

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Hallo Silberne Delfine,
das ist eine sehr originelle Geschichte, die zu lesen richtig Spaß macht. Unterhaltsam mit witziger Story, schön lesbar, gut aufgebaut. Das Einzige, was mir fehlt, ist eine knackige Pointe oder eine Auflösung. Bis zur ersten Hälfte habe ich vermutet, dass sich ein Hackertrüppchen mit Mitteln der KI einen Aprilscherz erlaubt, aber das funktionierte nachher nicht mehr bei den wörtlichen Reden. Dennoch: schöner Plot. Gratulation. Bitte mehr solcher Geschichten.
Gruß
Bo-ehd
 
Hallo Bo-ehd,

vielen Dank für deinen Kommentar! Freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.

Bis zur ersten Hälfte habe ich vermutet, dass sich ein Hackertrüppchen mit Mitteln der KI einen Aprilscherz erlaubt, aber das funktionierte nachher nicht mehr bei den wörtlichen Reden.
Wäre eine gute Idee für eine Pointe gewesen, das stimmt. Aber mir fiel der Schluss erst während des Schreibens ein.
Die Auflösung ist halt verschlüsselt :);)

LG SilberneDelfine
 



 
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