Egal wie
I
Wie jeden Freitag nach der Arbeit besuchte Bernd Lauer die Cafeteria am Rathaus. Er setzte sich an die Bar, wo ihm mit einem freundlichen Hallo sofort ein Espresso serviert wurde. Er beobachtete - den Zucker in die Tasse umrührend - durch die große Glasfront das Geschehen auf der Terrasse; bei nicht ganz sommerlichen Temperaturen verteilten sich die Gäste gleichmäßig auf den Außen- und Innenbereich des Cafes. Sein Blick wanderte hierhin und dorthin, und blieb aber immer wieder bei einer jungen Frau hängen, die im Innenraum an einem Zweiertisch saß, allein. Bald schon wollte er seinen Blick nicht mehr von ihr lassen. Alles an ihr gefiel ihm: Wie sie ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte, über der Stirn ein Pony. Die dunklen Augen. Wie sie dasaß, wie sie sich mit nur leichten Kopfbewegungen umschaute, wie sie die Hände aufeinanderlegte. Alles gefiel ihm. Bernd Lauer saß im Wohlfühl-Modus an der Theke.
II
Seine gute Stimmung ging abrupt zu Ende, als sein Wunsch, diese Frau kennenzulernen, Taten verlangte. Augenblicklich spürte er seinen Körper kraftlos zusammenfallen, seinen Kopf schwer auf seinem aufgestützten Arm lasten; kraftlose Schwere: das war seine Mutlosigkeit! Fort seine Selbstsicherheit, fort seine Leichtigkeit, alle Natürlichkeit. Das Schlimmste aber war, dass er sich selbst für seine Feigheit verachtete. Egal, redete er sich ein, egal wie er es machen würde, er würde es falsch machen. Entweder würde er verlegen stottern oder peinlich an seinem Hemd herumnesteln. Selbst die anderen Gäste würden seine Hölzernheit bemerken: ihn belächeln, sich quitschend beklatschten und im Chor singen: egal, wie er es macht, er macht es falsch!
Um nicht noch stärker in ein Loch von Mutlosigkeit und Resignation zu fallen, suchten seine Augen immer wieder nach Ablenkung im Gastraum, den sie dort nicht wirklich fanden, und so machte er sich ohne wirkliche Notdurft auf dem Weg zur Toilette. Als er an ihr vorbeiging, schaute sie kurz hoch und er meinte gar ein Lächeln zu sehen. Im Waschraum ließ er sich viel Zeit wohl in der Hoffnung, der Mut würde ihm zufallen wie ein Sechser im Lotto und er würde es wagen, die junge Frau auf dem Rückweg anzusprechen.
III
Als Bernd Lauer in den Gastraum trat, blieb er wie angewurzelt stehen. Ein Mann mit einem unmodischen Trenchcoat hatte der jungen Frau gegenüber Platz genommen. Lauers Herz rutschte in die Hose. Er malte sich die ersparte Blamage aus. Schroff und ohne Erklärung hätte die junge Frau ihn abgewiesen und er hätte sich unter dem Gelächter der anderen Gäste trollen müssen.
Doch noch bevor sich das Entsetzen richtig in seinem Körper festsetzen konnte, überkam ihn gleichzeitig eine unerwartete Erleichterung. Er spürte: er hatte alles richtig gemacht! Die Phrase, er würde sowieso alles falsch machen, was er falsch machen konnte, hatte ihn gelähmt und passiv gemacht, während sein Hirn wie im Leerlauf durchdrehte. Und auch das fast endlose Händewaschen auf der Toilette war genau richtig gewesen. Er hätte keine Sekunde früher oder gar mutiger die Toilette verlassen dürfen.
Entgegen seiner Gewohnheit bestellte Bernd Lauer an diesem Tag einen zweiten Espresso und dazu einen Grappa. Der Barkeeper fragte: “Alles klar?” und er: “Alles klar!”
Angesichts all seiner erlebten Befürchtungen, seiner Mutlosigkeit, und seinen Selbstvorwürfen, ein Feigling zu sein, wirkte auf ihn die Vorstellung, er hätte alles richtig gemacht, absurd! Paradox, und doch stimmig! Wie wäre diese Episode wohl verlaufen, wenn er sich von Anfang an gesagt hätte: Egal, wie du es machst, du machst es richtig?
IV
Eine knappe halbe Stunde später bat Lauer um die Rechnung, zahlte und machte sich auf den Weg nach Hause. Kurz vor dem Ausgang sah er, wie sich der Mann, der seinen Trenchcoat nicht abgelegt hatte, von seinem Platz erhob. Sofort steuerte Bernd Lauer auf den drehbaren Kartenständer neben dem Eingang zu, und blätterte sich mit seine Fingern von Karte zu Karte, ohne die beiden jungen Leute aus den Augen zu verlieren. Die beiden verabschiedeten sich mit einem Handschlag.
Lauers Blick fiel neugierig auf eine fliederfarbene Postkarte mit dem für diese Jahreszeit unpassenden Wort “Schnee”. Er zog die Karte aus ihrem Fach und las: “Der Schnee fällt; jede Flocke auf ihren Platz.” und in kleinerer Schrift leicht abgesetzt: “Zen-Weisheit”.
Gedankenversunken schaute er zu der Frau hinüber, die wieder Platz genommen hatte, und da war es ihm, als löste er sich vom Boden und als schwebte er durch den Raum, gewichtslos, getragen von der Gewissheit, alles richtig zu machen, und als er vor der jungen Frau stand, lächelte er selbstbewusst. “Ich würde sie gerne auf einen Drink einladen!” sagte er. “Darf ich?”
Ihre Augen strahlten, und sie zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber: “Sehr gern! Ich hätte gern einen Bitter Lemon! Und sie, was nehmen sie?!”
I
Wie jeden Freitag nach der Arbeit besuchte Bernd Lauer die Cafeteria am Rathaus. Er setzte sich an die Bar, wo ihm mit einem freundlichen Hallo sofort ein Espresso serviert wurde. Er beobachtete - den Zucker in die Tasse umrührend - durch die große Glasfront das Geschehen auf der Terrasse; bei nicht ganz sommerlichen Temperaturen verteilten sich die Gäste gleichmäßig auf den Außen- und Innenbereich des Cafes. Sein Blick wanderte hierhin und dorthin, und blieb aber immer wieder bei einer jungen Frau hängen, die im Innenraum an einem Zweiertisch saß, allein. Bald schon wollte er seinen Blick nicht mehr von ihr lassen. Alles an ihr gefiel ihm: Wie sie ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte, über der Stirn ein Pony. Die dunklen Augen. Wie sie dasaß, wie sie sich mit nur leichten Kopfbewegungen umschaute, wie sie die Hände aufeinanderlegte. Alles gefiel ihm. Bernd Lauer saß im Wohlfühl-Modus an der Theke.
II
Seine gute Stimmung ging abrupt zu Ende, als sein Wunsch, diese Frau kennenzulernen, Taten verlangte. Augenblicklich spürte er seinen Körper kraftlos zusammenfallen, seinen Kopf schwer auf seinem aufgestützten Arm lasten; kraftlose Schwere: das war seine Mutlosigkeit! Fort seine Selbstsicherheit, fort seine Leichtigkeit, alle Natürlichkeit. Das Schlimmste aber war, dass er sich selbst für seine Feigheit verachtete. Egal, redete er sich ein, egal wie er es machen würde, er würde es falsch machen. Entweder würde er verlegen stottern oder peinlich an seinem Hemd herumnesteln. Selbst die anderen Gäste würden seine Hölzernheit bemerken: ihn belächeln, sich quitschend beklatschten und im Chor singen: egal, wie er es macht, er macht es falsch!
Um nicht noch stärker in ein Loch von Mutlosigkeit und Resignation zu fallen, suchten seine Augen immer wieder nach Ablenkung im Gastraum, den sie dort nicht wirklich fanden, und so machte er sich ohne wirkliche Notdurft auf dem Weg zur Toilette. Als er an ihr vorbeiging, schaute sie kurz hoch und er meinte gar ein Lächeln zu sehen. Im Waschraum ließ er sich viel Zeit wohl in der Hoffnung, der Mut würde ihm zufallen wie ein Sechser im Lotto und er würde es wagen, die junge Frau auf dem Rückweg anzusprechen.
III
Als Bernd Lauer in den Gastraum trat, blieb er wie angewurzelt stehen. Ein Mann mit einem unmodischen Trenchcoat hatte der jungen Frau gegenüber Platz genommen. Lauers Herz rutschte in die Hose. Er malte sich die ersparte Blamage aus. Schroff und ohne Erklärung hätte die junge Frau ihn abgewiesen und er hätte sich unter dem Gelächter der anderen Gäste trollen müssen.
Doch noch bevor sich das Entsetzen richtig in seinem Körper festsetzen konnte, überkam ihn gleichzeitig eine unerwartete Erleichterung. Er spürte: er hatte alles richtig gemacht! Die Phrase, er würde sowieso alles falsch machen, was er falsch machen konnte, hatte ihn gelähmt und passiv gemacht, während sein Hirn wie im Leerlauf durchdrehte. Und auch das fast endlose Händewaschen auf der Toilette war genau richtig gewesen. Er hätte keine Sekunde früher oder gar mutiger die Toilette verlassen dürfen.
Entgegen seiner Gewohnheit bestellte Bernd Lauer an diesem Tag einen zweiten Espresso und dazu einen Grappa. Der Barkeeper fragte: “Alles klar?” und er: “Alles klar!”
Angesichts all seiner erlebten Befürchtungen, seiner Mutlosigkeit, und seinen Selbstvorwürfen, ein Feigling zu sein, wirkte auf ihn die Vorstellung, er hätte alles richtig gemacht, absurd! Paradox, und doch stimmig! Wie wäre diese Episode wohl verlaufen, wenn er sich von Anfang an gesagt hätte: Egal, wie du es machst, du machst es richtig?
IV
Eine knappe halbe Stunde später bat Lauer um die Rechnung, zahlte und machte sich auf den Weg nach Hause. Kurz vor dem Ausgang sah er, wie sich der Mann, der seinen Trenchcoat nicht abgelegt hatte, von seinem Platz erhob. Sofort steuerte Bernd Lauer auf den drehbaren Kartenständer neben dem Eingang zu, und blätterte sich mit seine Fingern von Karte zu Karte, ohne die beiden jungen Leute aus den Augen zu verlieren. Die beiden verabschiedeten sich mit einem Handschlag.
Lauers Blick fiel neugierig auf eine fliederfarbene Postkarte mit dem für diese Jahreszeit unpassenden Wort “Schnee”. Er zog die Karte aus ihrem Fach und las: “Der Schnee fällt; jede Flocke auf ihren Platz.” und in kleinerer Schrift leicht abgesetzt: “Zen-Weisheit”.
Gedankenversunken schaute er zu der Frau hinüber, die wieder Platz genommen hatte, und da war es ihm, als löste er sich vom Boden und als schwebte er durch den Raum, gewichtslos, getragen von der Gewissheit, alles richtig zu machen, und als er vor der jungen Frau stand, lächelte er selbstbewusst. “Ich würde sie gerne auf einen Drink einladen!” sagte er. “Darf ich?”
Ihre Augen strahlten, und sie zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber: “Sehr gern! Ich hätte gern einen Bitter Lemon! Und sie, was nehmen sie?!”