Ehrgeiz

brndmtzk

Mitglied
Verärgert stieß Hendricks die Tastatur von sich. Sie krachte gegen den Fuß des Monitors der bedenklich ins Wanken geriet. Durch seine Shutter-Brille sah er in diesem Moment nicht nur zwei Protonen sondern sogar vier. Zusammen mit den anderen Teilchen auf dem Schirm erinnerten ihn das Bild an ein Gesicht mit einem großen, lachenden Mund.
Er schaffte es, die Brille abzulegen ohne sie dabei zu beschädigen. Eine Meisterleistung. Zumindest für ihn. In diesem Moment.
Er war nie ein besonders beherrschter Mensch gewesen. Sonst hätte er auch nicht die Gelegenheit zu diesem Experiment bekommen. Er hatte sich durchgeboxt. Bärtige Jünglinge aus dem Weg gedrängt, glubschäugige Vorzimmerdamen mit seiner cholerischen Art eingeschüchtert und Kontrahenten lautstark niederdiskutiert. Der moderne Wissenschaftsbetrieb eignete sich nun mal nicht konsensfähige Weicheier.
Er hatte sich die Chance auf dieses Experiement geschaffen und dafür seinen letzten Gönner geopfert. Doch nun? Hoch gepokert, hoch verloren?
Nervös schaukelte er mit seinem Stuhl hin und her. Es musste ein Fehler der Sensoren sein. Die Messergebnissse waren Müll. Und deshalb konnten sie seine These nicht widerlegen. Genau genommen hatte er sein Experimient also gar nicht durchführen können. Vielleicht ließe sich mit dieser Begründung eine Wiederholung erreichen? Irgendwann?

* * *

Drei Monate später brütete Hendricks immer noch über den Daten des Experiments. Er hatte einen neuen Termin bekommen. In 8 Monaten. Das war immer noch schneller als gedacht, denn der Beschleuniger war eigentlich auf Jahre hinaus ausgebucht. Bis dahin wollte er versuchen, aus den Rohdaten der missglückten Messung wenigstens etwas Brauchbares herauszufiltern.
Umittelbar vor dem Auftreffen der beschleunigten Teilchen begann das Ziel-Proton zu zittern. Und dann erschienen auf den Sensoren plötzlich ein zweites Proton. Im selben Moment auch Bruchstücke der Kollision. Die noch gar nicht stattgefunden hatte.
Ein Echo in den Signalleitungen? Fehlerhafte Synchronisation der Sensoren? Ein Fehler in der Auswertungs-Software?
Vielleicht könnte er die Auswirkung des Fehlers auf die Messung herausrechnen wenn er die Ursache fand. Es brauchte eine Lösung. Ohne Bestätigung seiner Theorie konnte er seine Laufbahn vergessen.
Immer wieder drängte sich das grinsende Gesicht in seine Gedanken, dass ihm der wackelnde Monitor für einen Augenblick vorgegaukelt hatte. Bewegung des Bildes wegen der Vibration des Monitors und Zeitversatz der Bilder wegen der 3D-Darstellung. Logisch.
Zeitversatz! Das Wort ließ Hendriks nicht mehr los. Waren die Messwerte zeitversetzt? Das hatte er schon ausgeschlossen. War das Proton zeitversetzt? Hatte er die Zeitreise eines Protons beobachtet?

Die folgenden Wochen vergrub sich Hendricks in seinem Labor. War es wirklich eine Zeitverschiebung? Wenn er beim nächsten Experiment die Zeitreise reproduzieren könnte wäre das eine Sensation. Aber was hatte sie ausgelöst? Die einzige ungewöhnliche Beobachtung war das kurze Zucken des ersten Protons. Interferenzen von irgendwas? Gravitationswellen?

Nach und nach formte sich in Hendricks Kopf eine Theorie. Er würde die Rahmenbedingungen des nächsten Experiments nur geringfügig ändern müssen, um sie zu beweisen. Die Theorie der Zeitreisen.

* * *

Hendricks gehörte nicht zu den Menschen, die von Selbstzweifeln geplagt wurden. Er war sicher, dass sein Versuch die Möglichkeit einer Zeitreise bestätigen würde. Die Versuchsanordnung war aufgebaut, die Computer programmiert. Es gab nichts, was jetzt noch verändert oder gar verbessert werden könnte. Was zu tun war, war getan. Er sah keinen Grund, im Labor zu bleiben. Mit flüchtigem Gruß verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern und ging.

Für die Externen gab es einige Zimmer im obersten Geschoss des Institusgebäudes. Klein, aber mit hübscher Aussicht. Nach 8 Monaten ununterbrochener Arbeit wollte Hendricks einen Abend genießen ohne an die Wissenschaft zu denken. Er besaß das Talent, den Alltag ausblenden zu können.
Entgegen allen Gesundheits- und Modetrends bevorzugte er Korn. Keinen Rotwein, keinen Whisky, keinen Cognac, und erst recht keinen Absinth. Guten, alten deutschen Roggenkorn. Jahre im Holzfass gelagert, leicht trüb, rund und herrlich aromatisch.
Es entsprach seiner Natur, mit niemandem mehr über seine Vorliebe zu sprechen. Oder gar zu einem Glas einzuladen. Zu groß war das Unverständnis, auf das er in der Vergangenheit gestoßen war.
Bedächtig goss er den Schnaps in einen Cognacschwenker und sah aus dem Fenster. Es war bewölkt. Doch durch eine kleine Lücke zwängte sich ein roter Strahl der untergehenden Sonne und ließ einen Teil des Himmels von unten her erglühen.

"Ein seltener Anblick, nicht wahr?"
Hendricks nahm die Stimme wahr, aber er reagierte nicht. Nur langsam dämmerte ein ungutes Gefühl in ihm auf. Er war in seinem Zimmer. Er hatte hinter sich abgeschlossen. Er war allein. Wer zum Teufel...
Verblüfft drehter er sich um. Was vor ihm stand konnte er nicht wirklich als Menschen bezeichnen. Eher als Wesen. Schon irgendwie menschlich. Von der Grundstruktur her. Aber auch mitleiderregend. Krank. Abstrakt. Picassohaft.
"Wie kommen sie hier rein?"
Hendricks war es in diesem Moment völlig egal, wer da vor ihm stand. Wissenschaftler fragen anders als normale Menschen. Und ihn interessierte vor allem, wie dieses Wesen durch die verschlossene Tür in sein Zimmer gelangt war.
"Das sollten Sie doch ahnen, Dr. Hendricks." Trotz seines fratzenhaften Aussehens konnte Hendricks das ironische Lächeln in diesem fremdartigen Gesicht nicht übersehen.
"Durch die Zeit natürlich. Nicht durch die Tür. Genau genommen bin ich schon länger hier und sie sind zu mir gestoßen. Mitsamt ihrem Zimmer, diesem herrlichen Sonnenuntergang und ihrem Schnaps. Und dem ganzen Rest."
Hendrick erstarrte. Für einen Moment hatte er an einen schlechten Scherz seiner Kollegen geglaubt. Niemand mochte ihn wirklich und ab und zu ließen sogar emotionsarme Wissenschaftler ihren negativen Gefühlen freien Lauf. Aber niemand wusste von seiner Zeitreise-Theorie. Er hatte niemanden informiert, nichts angekündigt. Auch aus der Versuchsvorbereitung konnte man nicht darauf schließen.

"Woher...".
"Ich erkläre es Ihnen sofort. Aber wenn Sie zunächst so freundlich wären..." Er deutete auf das Glas in Hendricks Hand. "Bei uns ist so etwas Mangelware. Eigentlich mangelt es an allem, nicht nur an solchen Köstlichkeiten."
Hendricks füllte ein zweites Glas und reichte es seinem Besucher. Er zuckte zurück, als sein Blick auf die verformten Finger fiel, die sich dem Glas entgegen streckten.
Der Fremde nahm es gelassen.
"Wie gesagt, ich erkläre es Ihnen sofort. Aber lassen Sie uns zuerst anstoßen."
Hendricks prostete ihm zu doch ihre Gläser berührten sich dabei nicht. Er hätte es nie zugegeben. Aber in diesem Moment brauchte er den Schnaps wie nichts ansderes in der Welt. Er kippte das ganze Glas in einem Zug hinunter.

"Setzen wir uns." schlug er vor.
Der Fremde nippte nochmals an seinem Glas und setzte es ab. Hendricks schenkte sich nach.
"Es wird also funktionieren?"
Ein stummes Nicken war die Antwort. Doch er fand im Blick seines Gegenübers keine Euphorie. Nur Trauer. Abgrundtiefe, endlose Trauer.
"Ja, es wird funktionieren. Deshalb bin ich hier."
Urplötzlich wurde Hendricks euphorisch.
"Na, dann schießen Sie mal los."
"Ich hoffe, das wird nicht nötig werden." Hendricks entging, dass der Mann bei diesen Worten nicht lächelte. Er lehnte sich zurück und lauschte.
"Sie haben mit Ihrer Vermutung recht. Raum erfordert Zeit und Zeit erfordert Raum. Man kann eines auf Kosten des anderen überwinden. Die Wissenschaft wird diesen Zusammenhang theoretisch schlüssig beweisen. In 200 Jahren. Vorher wird es die Voraussetzungen einfach nicht geben."
Hendricks nickte vor sich hin. Ja es stimmte. Er hatte eine Vermutung und wusste, wie man sie experimenmtell bestätigen konnte. Aber er hatte absolut keine Ahnung, warum das alles so war.

"Eigentlich benötigt man unvorstellbare Energiemengen für eine Manipulation der Zeit. Zumindest in unserem Universum. Die Wissenschaftler nach Ihnen haben lange gerätselt, wie Sie diese Energie überhaupt bereitstellen konnten. Bis schließlich die Theorie der Gravitationswellen die Lösung brachte. Sie überkreuzen sich. Genau hier, genau zu diesem Zeitpunkt. Es gibt Überlagerungen, extreme Stauchungen und Dehnungen im Raumzeitgefüge, in winzigen, subatomaren Dimensionen. Aber auch in ungeahnter Stärke. Für die Zeitreise eines Protons reicht die Energie aus."

Die Traurigkeit seines Blicks schlug sich jetzt auch in seiner Stimme wieder. Wortlos bittend reichte er Hendricks das Glas, das dieser bereitwillig nachfüllte. Gierig nach den nächsten Informationen sah er seinen Gesprächspartner an.
"Genau diese Wellen haben vor 8 Monaten eine extreme Dehnung des Raums bewirkt, genau dort wo sich ihr Proton befand. Und sie haben es bemerkt. Und ihre Schlüsse gezogen."
Bedächtig nam er einen weiteren Schluck.
"Die Wahrscheinlichkeit für all das ist extrem niedrig. Eine Zahl mit noch höherem Exponent als es Teilchen im Universum gibt. Aber es ist geschehen."
Hendricks stutzte. "Soll das heißen, dass die Raumpulsationen nicht ständig auftreten? Es war alles ein Zufall?" Er bekam plötzlich Angst, sein Experiment nicht reproduzieren zu können.
"Im Prinzip treten sie ständig auf. Überall. Nur eben nicht so stark wie hier und jetzt. Ein Jahr früher oder ein Jahr später und wir wären uns nie begegnet."
Hendricks atmete auf.
"Aber es gibt nun mal unendlich viele Zeitinien im Universum. Jedes Ereignis, so unwahrscheinlich es auch ist, wird sich auf einer von ihnen irgendwann ereignen. Und wir beide haben mit unserer Zeitlinie leider den schwarzen Peter gezogen, wie Sie es zu ihrer Zeit so schön formulieren."

Der Verlauf des Gesprächs gefiehl Hendricks nun gar nicht mehr. Der Fremde machte nicht den Eindruck, als wolle er zur Entdeckung der Zeitreisen gratulieren. Ihn umgab eher die Aura eines Anklägers.
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Ich will, damit sagen, dass Ihre Entdeckung 200 Jahre zu früh kommt. Mindestens. Ihr Experiment wird morgen die Möglichkeit von Zeitreisen bestätigen. Und Ihnen natürlich den Nobelpreis einbringen. Leider wird Ihre Theorie dazu rudimentär bleiben. Sie werden deshalb auch nichts von den katastrophalen Folgen ahnen."
Jetzt dämmerte Hendricks, worauf sein Besucher hinaus wollte.

"Nein!"
Nein, er würde seinen Versuch nicht abbrechen. Um nichts auf der Welt würde er auf den Ruhm verzichten, die Zeitreise entdeckt zu haben. "Wir können später korrigieren. Sie wissen, was falsch gelaufen ist. Wir können es ändern!"
Der Mann aus der Zukunft schüttelte den Kopf. "Dieses eine Experiment morgen ist bereits eines zuviel. Der Effekt wird viel stärker ausfallen als Sie vorausberechnet haben. Die Gravitationsinterferenzen. Sie sind morgen viel stärker als vor 8 Monaten. Sie verstehen?"
Er wartete Hendricks Antwort nicht ab.
"Jede Zeitmanipulation löst Verwerfungen der Raumzeit aus. Sie schaukeln sich auf. In 200 Jahren wird man so weit sein, dass man die Theorie entwickelt und die Folgen erkennt. Man würde auf Experimente verzichten. Aber der Zufall hat es so gewollt, dass in unserer Zeitlinie zuerst das Experiment kommt."
Er streckte Hendricks seine Hände entgegen. Verformte Finger. Verdreht. Übereinander liegend. Knotige Gelenke, fleckige, schuppige Haut. Fingernägel wie Krallen, gelblich, schwarz unterlaufen.
"Der Rest meines Körpers sieht nicht besser aus. Die Wellen in der Zeit haben Einfluss auf die Materie. Destruktiven Einfluss. Und belebte Materie reagiert besonders empfindlich."

Hendricks schluckte. "Aber wenn ich meine Entdeckung nicht mache verändere ich die Zukunft. Jeder drittklassige Sience Fiction Roman warnt davor. Sie würden gar nicht geboren werden. Es gäbe Sie gar nicht."
Der Fremde nickte. "Richtig. Genau deshalb bin ich hier. Verändern Sie unsere Zeitlinie! Wir wünschen uns, nie geboren zu werden. Nicht in dieses Leben, das wir leben müssen."

Verwirrt sank Hendricks in seinen Sessel zurück. "Das geht nicht. Ich kann das nicht. Ich will das nicht!"
"Sie müssen." erwiderte der Fremde. Ohne zu fragen schenkte er sich selbst nach.
Die Gedanken in Hendricks Gehirn kreisten auf Hochtouren. Langsam sortierte er die Fakten. "Wenn ich das Experiment nicht durchführe dann wird es keinen Anlass für Ihre Zeitreise geben. Aber Sie sind hier. Das ist unlogisch."
"Sie haben das Problem erkannt. In der aktuellen Version dieser Zeitlinie werden sie Ihr Experiment auf jeden Fall durchführen."
Er griff zum Glas und leerte es in einem Zuge.
Hendricks begriff den letzten Satz und erstarrte.

Das kleine Kästchen, das der Fremde aus der Tasche zog sah nicht aus wie eine Waffe. Eine Technologie, die irgendjemand irgendwann in der Zukunft für einen ganz anderen Zweck erfinden würde entzog Hendricks Körper sämtliche Energie. Auf atomarer Ebene. In Bruchteilen einer Sekunde verwandelte er sich in einen Eisblock mit der Temperatur des absoluten Nullpunkts.

Mitarbeiter des Instituts öffneten am nächsten Vormittag die Tür des Appartments, nachdem man vergeblich auf Hendricks Erscheinen gewartet hatte. Man fand etwa 80 Liter Schleim, der später als organisch identifiziert wurde. Und zwei benutzte Gläser.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Hallo brndmtzk, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Zum Text: Als ersten "Auftrag" stelle ich dir mal die Aufgabe, noch die Tipp- und Kommafehler zu beheben.


Viele Grüße von jon

Redakteur in diesem Forum
 

brndmtzk

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Verärgert stieß Hendricks die Tastatur von sich. Sie krachte gegen den Fuß des Monitors der bedenklich ins Wanken geriet. Durch seine Shutter-Brille sah er in diesem Moment nicht nur zwei Protonen sondern sogar vier. Zusammen mit den anderen Teilchen auf dem Schirm erinnerten ihn das Bild an ein Gesicht mit einem großen, lachenden Mund.
Er schaffte es, die Brille abzulegen ohne sie dabei zu beschädigen. Eine Meisterleistung. Zumindest für ihn. In diesem Moment.
Er war nie ein besonders beherrschter Mensch gewesen. Sonst hätte er auch nicht die Gelegenheit zu diesem Experiment bekommen. Er hatte sich durchgeboxt. Bärtige Jünglinge aus dem Weg gedrängt, glubschäugige Vorzimmerdamen mit seiner cholerischen Art eingeschüchtert und Kontrahenten lautstark niederdiskutiert. Der moderne Wissenschaftsbetrieb eignete sich nun mal nicht konsensfähige Weicheier.
Er hatte sich die Chance auf dieses Experiment geschaffen und dafür seinen letzten Gönner geopfert. Doch nun? Hoch gepokert, hoch verloren?
Nervös schaukelte er mit seinem Stuhl hin und her. Es musste ein Fehler der Sensoren sein. Die Messergebnissse waren Müll. Und deshalb konnten sie seine These nicht widerlegen. Genau genommen hatte er sein Experiment also gar nicht durchführen können. Vielleicht ließe sich mit dieser Begründung eine Wiederholung erreichen? Irgendwann?

* * *

Drei Monate später brütete Hendricks immer noch über den Daten des Experiments. Er hatte einen neuen Termin bekommen. In 8 Monaten. Das war immer noch schneller als gedacht, denn der Beschleuniger war eigentlich auf Jahre hinaus ausgebucht. Bis dahin wollte er versuchen, aus den Rohdaten der missglückten Messung wenigstens etwas Brauchbares herauszufiltern.
Unmittelbar vor dem Auftreffen der beschleunigten Teilchen begann das Ziel-Proton zu zittern. Und dann erschienen auf den Sensoren plötzlich ein zweites Proton. Im selben Moment auch Bruchstücke der Kollision. Die noch gar nicht stattgefunden hatte.
Ein Echo in den Signalleitungen? Fehlerhafte Synchronisation der Sensoren? Ein Fehler in der Auswertungs-Software?
Vielleicht könnte er die Auswirkung des Fehlers auf die Messung herausrechnen wenn er die Ursache fand. Es brauchte eine Lösung. Ohne Bestätigung seiner Theorie konnte er seine Laufbahn vergessen.
Immer wieder drängte sich das grinsende Gesicht in seine Gedanken, dass ihm der wackelnde Monitor für einen Augenblick vorgegaukelt hatte. Bewegung des Bildes wegen der Vibration des Monitors und Zeitversatz der Bilder wegen der 3D-Darstellung. Logisch.
Zeitversatz! Das Wort ließ Hendriks nicht mehr los. Waren die Messwerte zeitversetzt? Das hatte er schon ausgeschlossen. War das Proton zeitversetzt? Hatte er die Zeitreise eines Protons beobachtet?

Die folgenden Wochen vergrub sich Hendricks in seinem Labor. War es wirklich eine Zeitverschiebung? Wenn er beim nächsten Experiment die Zeitreise reproduzieren könnte wäre das eine Sensation. Aber was hatte sie ausgelöst? Die einzige ungewöhnliche Beobachtung war das kurze Zucken des ersten Protons. Interferenzen von irgendwas? Gravitationswellen?

Nach und nach formte sich in Hendricks Kopf eine Theorie. Er würde die Rahmenbedingungen des nächsten Experiments nur geringfügig ändern müssen, um sie zu beweisen. Die Theorie der Zeitreisen.

* * *

Hendricks gehörte nicht zu den Menschen, die von Selbstzweifeln geplagt wurden. Er war sicher, dass sein Versuch die Möglichkeit einer Zeitreise bestätigen würde. Die Versuchsanordnung war aufgebaut, die Computer programmiert. Es gab nichts, was jetzt noch verändert oder gar verbessert werden könnte. Was zu tun war, war getan. Er sah keinen Grund, im Labor zu bleiben. Mit flüchtigem Gruß verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern und ging.

Für die Externen gab es einige Zimmer im obersten Geschoss des Institutsgebäudes. Klein, aber mit hübscher Aussicht. Nach 8 Monaten ununterbrochener Arbeit wollte Hendricks einen Abend genießen ohne an die Wissenschaft zu denken. Er besaß das Talent, den Alltag ausblenden zu können.
Entgegen allen Gesundheits- und Modetrends bevorzugte er Korn. Keinen Rotwein, keinen Whisky, keinen Cognac, und erst recht keinen Absinth. Guten, alten deutschen Roggenkorn. Jahre im Holzfass gelagert, leicht trüb, rund und herrlich aromatisch.
Es entsprach seiner Natur, mit niemandem mehr über seine Vorliebe zu sprechen. Oder gar zu einem Glas einzuladen. Zu groß war das Unverständnis, auf das er in der Vergangenheit gestoßen war.
Bedächtig goss er den Schnaps in einen Cognacschwenker und sah aus dem Fenster. Es war bewölkt. Doch durch eine kleine Lücke zwängte sich ein roter Strahl der untergehenden Sonne und ließ einen Teil des Himmels von unten her erglühen.

"Ein seltener Anblick, nicht wahr?"
Hendricks nahm die Stimme wahr, aber er reagierte nicht. Nur langsam dämmerte ein ungutes Gefühl in ihm auf. Er war in seinem Zimmer. Er hatte hinter sich abgeschlossen. Er war allein. Wer zum Teufel...
Verblüfft drehter er sich um. Was vor ihm stand konnte er nicht wirklich als Menschen bezeichnen. Eher als Wesen. Schon irgendwie menschlich. Von der Grundstruktur her. Aber auch mitleiderregend. Krank. Abstrakt. Picassohaft.
"Wie kommen sie hier rein?"
Hendricks war es in diesem Moment völlig egal, wer da vor ihm stand. Wissenschaftler fragen anders als normale Menschen. Und ihn interessierte vor allem, wie dieses Wesen durch die verschlossene Tür in sein Zimmer gelangt war.
"Das sollten Sie doch ahnen, Dr. Hendricks." Trotz seines fratzenhaften Aussehens konnte Hendricks das ironische Lächeln in diesem fremdartigen Gesicht nicht übersehen.
"Durch die Zeit natürlich. Nicht durch die Tür. Genau genommen bin ich schon länger hier und sie sind zu mir gestoßen. Mitsamt ihrem Zimmer, diesem herrlichen Sonnenuntergang und ihrem Schnaps. Und dem ganzen Rest."
Hendrick erstarrte. Für einen Moment hatte er an einen schlechten Scherz seiner Kollegen geglaubt. Niemand mochte ihn wirklich und ab und zu ließen sogar emotionsarme Wissenschaftler ihren negativen Gefühlen freien Lauf. Aber niemand wusste von seiner Zeitreise-Theorie. Er hatte niemanden informiert, nichts angekündigt. Auch aus der Versuchsvorbereitung konnte man nicht darauf schließen.

"Woher...".
"Ich erkläre es Ihnen sofort. Aber wenn Sie zunächst so freundlich wären..." Er deutete auf das Glas in Hendricks Hand. "Bei uns ist so etwas Mangelware. Eigentlich mangelt es an allem, nicht nur an solchen Köstlichkeiten."
Hendricks füllte ein zweites Glas und reichte es seinem Besucher. Er zuckte zurück, als sein Blick auf die verformten Finger fiel, die sich dem Glas entgegen streckten.
Der Fremde nahm es gelassen.
"Wie gesagt, ich erkläre es Ihnen sofort. Aber lassen Sie uns zuerst anstoßen."
Hendricks prostete ihm zu doch ihre Gläser berührten sich dabei nicht. Er hätte es nie zugegeben. Aber in diesem Moment brauchte er den Schnaps wie nichts anderes in der Welt. Er kippte das ganze Glas in einem Zug hinunter.

"Setzen wir uns." schlug er vor.
Der Fremde nippte nochmals an seinem Glas und setzte es ab. Hendricks schenkte sich nach.
"Es wird also funktionieren?"
Ein stummes Nicken war die Antwort. Doch er fand im Blick seines Gegenübers keine Euphorie. Nur Trauer. Abgrundtiefe, endlose Trauer.
"Ja, es wird funktionieren. Deshalb bin ich hier."
Urplötzlich wurde Hendricks euphorisch.
"Na dann schießen Sie mal los."
"Ich hoffe, das wird nicht nötig werden." Hendricks entging, dass der Mann bei diesen Worten nicht lächelte. Er lehnte sich zurück und lauschte.
"Sie haben mit Ihrer Vermutung recht. Raum erfordert Zeit und Zeit erfordert Raum. Man kann eines auf Kosten des anderen überwinden. Die Wissenschaft wird diesen Zusammenhang theoretisch schlüssig beweisen. In 200 Jahren. Vorher wird es die Voraussetzungen einfach nicht geben."
Hendricks nickte vor sich hin. Ja es stimmte. Er hatte eine Vermutung und wusste, wie man sie experimentell bestätigen konnte. Aber er hatte absolut keine Ahnung, warum das alles so war.

"Eigentlich benötigt man unvorstellbare Energiemengen für eine Manipulation der Zeit. Zumindest in unserem Universum. Die Wissenschaftler nach Ihnen haben lange gerätselt, wie Sie diese Energie überhaupt bereitstellen konnten. Bis schließlich die Theorie der Gravitationswellen die Lösung brachte. Sie überkreuzen sich. Genau hier, genau zu diesem Zeitpunkt. Es gibt Überlagerungen, extreme Stauchungen und Dehnungen im Raumzeit Gefüge, in winzigen, subatomaren Dimensionen. Aber auch in ungeahnter Stärke. Für die Zeitreise eines Protons reicht die Energie aus."

Die Traurigkeit seines Blicks schlug sich jetzt auch in seiner Stimme wieder. Wortlos bittend reichte er Hendricks das Glas, das dieser bereitwillig nachfüllte. Gierig nach den nächsten Informationen sah er seinen Gesprächspartner an.
"Genau diese Wellen haben vor 8 Monaten eine extreme Dehnung des Raums bewirkt, genau dort wo sich ihr Proton befand. Und sie haben es bemerkt. Und ihre Schlüsse gezogen."
Bedächtig nahm er einen weiteren Schluck.
"Die Wahrscheinlichkeit für all das ist extrem niedrig. Eine Zahl mit noch höherem Exponent als es Teilchen im Universum gibt. Aber es ist geschehen."
Hendricks stutzte. "Soll das heißen, dass die Raumpulsationen nicht ständig auftreten? Es war alles ein Zufall?" Er bekam plötzlich Angst, sein Experiment nicht reproduzieren zu können.
"Im Prinzip treten sie ständig auf. Überall. Nur eben nicht so stark wie hier und jetzt. Ein Jahr früher oder ein Jahr später und wir wären uns nie begegnet."
Hendricks atmete auf.
"Aber es gibt nun mal unendlich viele Zeitlinien im Universum. Jedes Ereignis, so unwahrscheinlich es auch ist, wird sich auf einer von ihnen irgendwann ereignen. Und wir beide haben mit unserer Zeitlinie leider den schwarzen Peter gezogen, wie Sie es zu ihrer Zeit so schön formulieren."

Der Verlauf des Gesprächs gefiehl Hendricks nun gar nicht mehr. Der Fremde machte nicht den Eindruck, als wolle er zur Entdeckung der Zeitreisen gratulieren. Ihn umgab eher die Aura eines Anklägers.
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Ich will, damit sagen, dass Ihre Entdeckung 200 Jahre zu früh kommt. Mindestens. Ihr Experiment wird morgen die Möglichkeit von Zeitreisen bestätigen. Und Ihnen natürlich den Nobelpreis einbringen. Leider wird Ihre Theorie dazu rudimentär bleiben. Sie werden deshalb auch nichts von den katastrophalen Folgen ahnen."
Jetzt dämmerte Hendricks, worauf sein Besucher hinaus wollte.

"Nein!"
Nein, er würde seinen Versuch nicht abbrechen. Um nichts auf der Welt würde er auf den Ruhm verzichten, die Zeitreise entdeckt zu haben. "Wir können später korrigieren. Sie wissen, was falsch gelaufen ist. Wir können es ändern!"
Der Mann aus der Zukunft schüttelte den Kopf. "Dieses eine Experiment morgen ist bereits eines zuviel. Der Effekt wird viel stärker ausfallen als Sie vorausberechnet haben. Die Gravitationsinterferenzen. Sie sind morgen viel stärker als vor 8 Monaten. Sie verstehen?"
Er wartete Hendricks Antwort nicht ab.
"Jede Zeitmanipulation löst Verwerfungen der Raumzeit aus. Sie schaukeln sich auf. In 200 Jahren wird man so weit sein, dass man die Theorie entwickelt und die Folgen erkennt. Man würde auf Experimente verzichten. Aber der Zufall hat es so gewollt, dass in unserer Zeitlinie zuerst das Experiment kommt."
Er streckte Hendricks seine Hände entgegen. Verformte Finger. Verdreht. Übereinander liegend. Knotige Gelenke, fleckige, schuppige Haut. Fingernägel wie Krallen, gelblich, schwarz unterlaufen.
"Der Rest meines Körpers sieht nicht besser aus. Die Wellen in der Zeit haben Einfluss auf die Materie. Destruktiven Einfluss. Und belebte Materie reagiert besonders empfindlich."

Hendricks schluckte. "Aber wenn ich meine Entdeckung nicht mache verändere ich die Zukunft. Jeder drittklassige Science Fiction Roman warnt davor. Sie würden gar nicht geboren werden. Es gäbe Sie gar nicht."
Der Fremde nickte. "Richtig. Genau deshalb bin ich hier. Verändern Sie unsere Zeitlinie! Wir wünschen uns, nie geboren zu werden. Nicht in dieses Leben, das wir leben müssen."

Verwirrt sank Hendricks in seinen Sessel zurück. "Das geht nicht. Ich kann das nicht. Ich will das nicht!"
"Sie müssen." erwiderte der Fremde. Ohne zu fragen schenkte er sich selbst nach.
Die Gedanken in Hendricks Gehirn kreisten auf Hochtouren. Langsam sortierte er die Fakten. "Wenn ich das Experiment nicht durchführe dann wird es keinen Anlass für Ihre Zeitreise geben. Aber Sie sind hier. Das ist unlogisch."
"Sie haben das Problem erkannt. In der aktuellen Version dieser Zeitlinie werden sie Ihr Experiment auf jeden Fall durchführen."
Er griff zum Glas und leerte es in einem Zuge.
Hendricks begriff den letzten Satz und erstarrte.

Das kleine Kästchen, das der Fremde aus der Tasche zog sah nicht aus wie eine Waffe. Eine Technologie, die irgendjemand irgendwann in der Zukunft für einen ganz anderen Zweck erfinden würde entzog Hendricks Körper sämtliche Energie. Auf atomarer Ebene. In Bruchteilen einer Sekunde verwandelte er sich in einen Eisblock mit der Temperatur des absoluten Nullpunkts.

Mitarbeiter des Instituts öffneten am nächsten Vormittag die Tür des Apartments, nachdem man vergeblich auf Hendricks Erscheinen gewartet hatte. Man fand etwa 80 Liter Schleim, der später als organisch identifiziert wurde. Und zwei benutzte Gläser.
 

brndmtzk

Mitglied
Verärgert stieß Hendricks die Tastatur von sich. Sie krachte gegen den Fuß des Monitors der bedenklich ins Wanken geriet. Durch seine Shutter-Brille sah er in diesem Moment nicht nur zwei Protonen sondern sogar vier. Zusammen mit den anderen Teilchen auf dem Schirm erinnerten ihn das Bild an ein Gesicht mit einem großen, lachenden Mund.
Er schaffte es, die Brille abzulegen ohne sie dabei zu beschädigen. Eine Meisterleistung. Zumindest für ihn. In diesem Moment.
Er war nie ein besonders beherrschter Mensch gewesen. Sonst hätte er auch nicht die Gelegenheit zu diesem Experiment bekommen. Er hatte sich durchgeboxt. Bärtige Jünglinge aus dem Weg gedrängt, glubschäugige Vorzimmerdamen mit seiner cholerischen Art eingeschüchtert und Kontrahenten lautstark nieder diskutiert. Der moderne Wissenschaftsbetrieb eignete sich nun mal nicht konsensfähige Weicheier.
Er hatte sich die Chance auf dieses Experiment geschaffen und dafür seinen letzten Gönner geopfert. Doch nun? Hoch gepokert, hoch verloren?
Nervös schaukelte er mit seinem Stuhl hin und her. Es musste ein Fehler der Sensoren sein. Die Messergebnissse waren Müll. Und deshalb konnten sie seine These nicht widerlegen. Genau genommen hatte er sein Experiment also gar nicht durchführen können. Vielleicht ließe sich mit dieser Begründung eine Wiederholung erreichen? Irgendwann?

* * *

Drei Monate später brütete Hendricks immer noch über den Daten des Experiments. Er hatte einen neuen Termin bekommen. In 8 Monaten. Das war immer noch schneller als gedacht, denn der Beschleuniger war eigentlich auf Jahre hinaus ausgebucht. Bis dahin wollte er versuchen, aus den Rohdaten der missglückten Messung wenigstens etwas Brauchbares herauszufiltern.
Unmittelbar vor dem Auftreffen der beschleunigten Teilchen begann das Ziel-Proton zu zittern. Und dann erschienen auf den Sensoren plötzlich ein zweites Proton. Im selben Moment auch Bruchstücke der Kollision. Die noch gar nicht stattgefunden hatte.
Ein Echo in den Signalleitungen? Fehlerhafte Synchronisation der Sensoren? Ein Fehler in der Auswertungs-Software?
Vielleicht könnte er die Auswirkung des Fehlers auf die Messung herausrechnen wenn er die Ursache fand. Es brauchte eine Lösung. Ohne Bestätigung seiner Theorie konnte er seine Laufbahn vergessen.
Immer wieder drängte sich das grinsende Gesicht in seine Gedanken, dass ihm der wackelnde Monitor für einen Augenblick vorgegaukelt hatte. Bewegung des Bildes wegen der Vibration des Monitors und Zeitversatz der Bilder wegen der 3D-Darstellung. Logisch.
Zeitversatz! Das Wort ließ Hendriks nicht mehr los. Waren die Messwerte zeitversetzt? Das hatte er schon ausgeschlossen. War das Proton zeitversetzt? Hatte er die Zeitreise eines Protons beobachtet?

Die folgenden Wochen vergrub sich Hendricks in seinem Labor. War es wirklich eine Zeitverschiebung? Wenn er beim nächsten Experiment die Zeitreise reproduzieren könnte wäre das eine Sensation. Aber was hatte sie ausgelöst? Die einzige ungewöhnliche Beobachtung war das kurze Zucken des ersten Protons. Interferenzen von irgendwas? Gravitationswellen?

Nach und nach formte sich in Hendricks Kopf eine Theorie. Er würde die Rahmenbedingungen des nächsten Experiments nur geringfügig ändern müssen, um sie zu beweisen. Die Theorie der Zeitreisen.

* * *

Hendricks gehörte nicht zu den Menschen, die von Selbstzweifeln geplagt wurden. Er war sicher, dass sein Versuch die Möglichkeit einer Zeitreise bestätigen würde. Die Versuchsanordnung war aufgebaut, die Computer programmiert. Es gab nichts, was jetzt noch verändert oder gar verbessert werden könnte. Was zu tun war, war getan. Er sah keinen Grund, im Labor zu bleiben. Mit flüchtigem Gruß verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern und ging.

Für die Externen gab es einige Zimmer im obersten Geschoss des Institutsgebäudes. Klein, aber mit hübscher Aussicht. Nach 8 Monaten ununterbrochener Arbeit wollte Hendricks einen Abend genießen ohne an die Wissenschaft zu denken. Er besaß das Talent, den Alltag ausblenden zu können.
Entgegen allen Gesundheits- und Modetrends bevorzugte er Korn. Keinen Rotwein, keinen Whisky, keinen Cognac, und erst recht keinen Absinth. Guten, alten deutschen Roggenkorn. Jahre im Holzfass gelagert, leicht trüb, rund und herrlich aromatisch.
Es entsprach seiner Natur, mit niemandem mehr über seine Vorliebe zu sprechen. Oder gar zu einem Glas einzuladen. Zu groß war das Unverständnis, auf das er in der Vergangenheit gestoßen war.
Bedächtig goss er den Schnaps in einen Cognacschwenker und sah aus dem Fenster. Es war bewölkt. Doch durch eine kleine Lücke zwängte sich ein roter Strahl der untergehenden Sonne und ließ einen Teil des Himmels von unten her erglühen.

"Ein seltener Anblick, nicht wahr?"
Hendricks nahm die Stimme wahr, aber er reagierte nicht. Nur langsam dämmerte ein ungutes Gefühl in ihm auf. Er war in seinem Zimmer. Er hatte hinter sich abgeschlossen. Er war allein. Wer zum Teufel...
Verblüfft drehter er sich um. Was vor ihm stand konnte er nicht wirklich als Menschen bezeichnen. Eher als Wesen. Schon irgendwie menschlich. Von der Grundstruktur her. Aber auch mitleiderregend. Krank. Abstrakt. Picassohaft.
"Wie kommen sie hier rein?"
Hendricks war es in diesem Moment völlig egal, wer da vor ihm stand. Wissenschaftler fragen anders als normale Menschen. Und ihn interessierte vor allem, wie dieses Wesen durch die verschlossene Tür in sein Zimmer gelangt war.
"Das sollten Sie doch ahnen, Dr. Hendricks." Trotz seines fratzenhaften Aussehens konnte Hendricks das ironische Lächeln in diesem fremdartigen Gesicht nicht übersehen.
"Durch die Zeit natürlich. Nicht durch die Tür. Genau genommen bin ich schon länger hier und sie sind zu mir gestoßen. Mitsamt ihrem Zimmer, diesem herrlichen Sonnenuntergang und ihrem Schnaps. Und dem ganzen Rest."
Hendrick erstarrte. Für einen Moment hatte er an einen schlechten Scherz seiner Kollegen geglaubt. Niemand mochte ihn wirklich und ab und zu ließen sogar emotionsarme Wissenschaftler ihren negativen Gefühlen freien Lauf. Aber niemand wusste von seiner Zeitreise-Theorie. Er hatte niemanden informiert, nichts angekündigt. Auch aus der Versuchsvorbereitung konnte man nicht darauf schließen.

"Woher...".
"Ich erkläre es Ihnen sofort. Aber wenn Sie zunächst so freundlich wären..." Er deutete auf das Glas in Hendricks Hand. "Bei uns ist so etwas Mangelware. Eigentlich mangelt es an allem, nicht nur an solchen Köstlichkeiten."
Hendricks füllte ein zweites Glas und reichte es seinem Besucher. Er zuckte zurück, als sein Blick auf die verformten Finger fiel, die sich dem Glas entgegen streckten.
Der Fremde nahm es gelassen.
"Wie gesagt, ich erkläre es Ihnen sofort. Aber lassen Sie uns zuerst anstoßen."
Hendricks prostete ihm zu doch ihre Gläser berührten sich dabei nicht. Er hätte es nie zugegeben. Aber in diesem Moment brauchte er den Schnaps wie nichts anderes in der Welt. Er kippte das ganze Glas in einem Zug hinunter.

"Setzen wir uns." schlug er vor.
Der Fremde nippte nochmals an seinem Glas und setzte es ab. Hendricks schenkte sich nach.
"Es wird also funktionieren?"
Ein stummes Nicken war die Antwort. Doch er fand im Blick seines Gegenübers keine Euphorie. Nur Trauer. Abgrundtiefe, endlose Trauer.
"Ja, es wird funktionieren. Deshalb bin ich hier."
Urplötzlich wurde Hendricks euphorisch.
"Na dann schießen Sie mal los."
"Ich hoffe, das wird nicht nötig werden." Hendricks entging, dass der Mann bei diesen Worten nicht lächelte. Er lehnte sich zurück und lauschte.
"Sie haben mit Ihrer Vermutung recht. Raum erfordert Zeit und Zeit erfordert Raum. Man kann eines auf Kosten des anderen überwinden. Die Wissenschaft wird diesen Zusammenhang theoretisch schlüssig beweisen. In 200 Jahren. Vorher wird es die Voraussetzungen einfach nicht geben."
Hendricks nickte vor sich hin. Ja es stimmte. Er hatte eine Vermutung und wusste, wie man sie experimentell bestätigen konnte. Aber er hatte absolut keine Ahnung, warum das alles so war.

"Eigentlich benötigt man unvorstellbare Energiemengen für eine Manipulation der Zeit. Zumindest in unserem Universum. Die Wissenschaftler nach Ihnen haben lange gerätselt, wie Sie diese Energie überhaupt bereitstellen konnten. Bis schließlich die Theorie der Gravitationswellen die Lösung brachte. Sie überkreuzen sich. Genau hier, genau zu diesem Zeitpunkt. Es gibt Überlagerungen, extreme Stauchungen und Dehnungen im Raumzeit Gefüge, in winzigen, subatomaren Dimensionen. Aber auch in ungeahnter Stärke. Für die Zeitreise eines Protons reicht die Energie aus."

Die Traurigkeit seines Blicks schlug sich jetzt auch in seiner Stimme wieder. Wortlos bittend reichte er Hendricks das Glas, das dieser bereitwillig nachfüllte. Gierig nach den nächsten Informationen sah er seinen Gesprächspartner an.
"Genau diese Wellen haben vor 8 Monaten eine extreme Dehnung des Raums bewirkt, genau dort wo sich ihr Proton befand. Und sie haben es bemerkt. Und ihre Schlüsse gezogen."
Bedächtig nahm er einen weiteren Schluck.
"Die Wahrscheinlichkeit für all das ist extrem niedrig. Eine Zahl mit noch höherem Exponent als es Teilchen im Universum gibt. Aber es ist geschehen."
Hendricks stutzte. "Soll das heißen, dass die Raumpulsationen nicht ständig auftreten? Es war alles ein Zufall?" Er bekam plötzlich Angst, sein Experiment nicht reproduzieren zu können.
"Im Prinzip treten sie ständig auf. Überall. Nur eben nicht so stark wie hier und jetzt. Ein Jahr früher oder ein Jahr später und wir wären uns nie begegnet."
Hendricks atmete auf.
"Aber es gibt nun mal unendlich viele Zeitlinien im Universum. Jedes Ereignis, so unwahrscheinlich es auch ist, wird sich auf einer von ihnen irgendwann ereignen. Und wir beide haben mit unserer Zeitlinie leider den schwarzen Peter gezogen, wie Sie es zu ihrer Zeit so schön formulieren."

Der Verlauf des Gesprächs gefiehl Hendricks nun gar nicht mehr. Der Fremde machte nicht den Eindruck, als wolle er zur Entdeckung der Zeitreisen gratulieren. Ihn umgab eher die Aura eines Anklägers.
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Ich will, damit sagen, dass Ihre Entdeckung 200 Jahre zu früh kommt. Mindestens. Ihr Experiment wird morgen die Möglichkeit von Zeitreisen bestätigen. Und Ihnen natürlich den Nobelpreis einbringen. Leider wird Ihre Theorie dazu rudimentär bleiben. Sie werden deshalb auch nichts von den katastrophalen Folgen ahnen."
Jetzt dämmerte Hendricks, worauf sein Besucher hinaus wollte.

"Nein!"
Nein, er würde seinen Versuch nicht abbrechen. Um nichts auf der Welt würde er auf den Ruhm verzichten, die Zeitreise entdeckt zu haben. "Wir können später korrigieren. Sie wissen, was falsch gelaufen ist. Wir können es ändern!"
Der Mann aus der Zukunft schüttelte den Kopf. "Dieses eine Experiment morgen ist bereits eines zuviel. Der Effekt wird viel stärker ausfallen als Sie vorausberechnet haben. Die Gravitationsinterferenzen. Sie sind morgen viel stärker als vor 8 Monaten. Sie verstehen?"
Er wartete Hendricks Antwort nicht ab.
"Jede Zeitmanipulation löst Verwerfungen der Raumzeit aus. Sie schaukeln sich auf. In 200 Jahren wird man so weit sein, dass man die Theorie entwickelt und die Folgen erkennt. Man würde auf Experimente verzichten. Aber der Zufall hat es so gewollt, dass in unserer Zeitlinie zuerst das Experiment kommt."
Er streckte Hendricks seine Hände entgegen. Verformte Finger. Verdreht. Übereinander liegend. Knotige Gelenke, fleckige, schuppige Haut. Fingernägel wie Krallen, gelblich, schwarz unterlaufen.
"Der Rest meines Körpers sieht nicht besser aus. Die Wellen in der Zeit haben Einfluss auf die Materie. Destruktiven Einfluss. Und belebte Materie reagiert besonders empfindlich."

Hendricks schluckte. "Aber wenn ich meine Entdeckung nicht mache verändere ich die Zukunft. Jeder drittklassige Science Fiction Roman warnt davor. Sie würden gar nicht geboren werden. Es gäbe Sie gar nicht."
Der Fremde nickte. "Richtig. Genau deshalb bin ich hier. Verändern Sie unsere Zeitlinie! Wir wünschen uns, nie geboren zu werden. Nicht in dieses Leben, das wir leben müssen."

Verwirrt sank Hendricks in seinen Sessel zurück. "Das geht nicht. Ich kann das nicht. Ich will das nicht!"
"Sie müssen." erwiderte der Fremde. Ohne zu fragen schenkte er sich selbst nach.
Die Gedanken in Hendricks Gehirn kreisten auf Hochtouren. Langsam sortierte er die Fakten. "Wenn ich das Experiment nicht durchführe dann wird es keinen Anlass für Ihre Zeitreise geben. Aber Sie sind hier. Das ist unlogisch."
"Sie haben das Problem erkannt. In der aktuellen Version dieser Zeitlinie werden sie Ihr Experiment auf jeden Fall durchführen."
Er griff zum Glas und leerte es in einem Zuge.
Hendricks begriff den letzten Satz und erstarrte.

Das kleine Kästchen, das der Fremde aus der Tasche zog sah nicht aus wie eine Waffe. Eine Technologie, die irgendjemand irgendwann in der Zukunft für einen ganz anderen Zweck erfinden würde entzog Hendricks Körper sämtliche Energie. Auf atomarer Ebene. In Bruchteilen einer Sekunde verwandelte er sich in einen Eisblock mit der Temperatur des absoluten Nullpunkts.

Mitarbeiter des Instituts öffneten am nächsten Vormittag die Tür des Apartments, nachdem man vergeblich auf Hendricks Erscheinen gewartet hatte. Man fand etwa 80 Liter Schleim, der später als organisch identifiziert wurde. Und zwei benutzte Gläser.
 

brndmtzk

Mitglied
Danke für den Hinweis auf die Rechtschreibung. Die ist im Detail nicht unbedingt mein Lieblingsthema. Es hat leider etwas gedauert. Ich hoffe das nun alles korrekt ist.

Allen viel Spaß beim lesen. Danke für hilfreiche Kritik.
 

brndmtzk

Mitglied
Verärgert stieß Hendricks die Tastatur von sich. Sie krachte gegen den Fuß des Monitors der bedenklich ins Wanken geriet. Durch seine Shutter-Brille sah er in diesem Moment nicht nur zwei Protonen sondern sogar vier. Zusammen mit den anderen Teilchen auf dem Schirm erinnerte ihn das Bild an ein Gesicht mit einem großen, lachenden Mund.
Er schaffte es, die Brille abzulegen ohne sie dabei zu beschädigen. Eine Meisterleistung. Zumindest für ihn. In diesem Moment.
Er war nie ein besonders beherrschter Mensch gewesen. Sonst hätte er auch nicht die Gelegenheit zu diesem Experiment bekommen. Er hatte sich durchgeboxt. Bärtige Jünglinge aus dem Weg gedrängt, glubschäugige Vorzimmerdamen mit seiner cholerischen Art eingeschüchtert und Kontrahenten lautstark nieder diskutiert. Der moderne Wissenschaftsbetrieb eignete sich nun mal nicht konsensfähige Weicheier.
Er hatte sich die Chance auf dieses Experiment geschaffen und dafür seinen letzten Gönner geopfert. Doch nun? Hoch gepokert, hoch verloren?
Nervös schaukelte er mit seinem Stuhl hin und her. Es musste ein Fehler der Sensoren sein. Die Messergebnissse waren Müll. Und deshalb konnten sie seine These nicht widerlegen. Genau genommen hatte er sein Experiment also gar nicht durchführen können. Vielleicht ließe sich mit dieser Begründung eine Wiederholung erreichen? Irgendwann?

* * *

Drei Monate später brütete Hendricks immer noch über den Daten des Experiments. Er hatte einen neuen Termin bekommen. In 8 Monaten. Das war immer noch schneller als gedacht, denn der Beschleuniger war eigentlich auf Jahre hinaus ausgebucht. Bis dahin wollte er versuchen, aus den Rohdaten der missglückten Messung wenigstens etwas Brauchbares herauszufiltern.
Unmittelbar vor dem Auftreffen der beschleunigten Teilchen begann das Ziel-Proton zu zittern. Und dann erschienen auf den Sensoren plötzlich ein zweites Proton. Im selben Moment auch Bruchstücke der Kollision. Die noch gar nicht stattgefunden hatte.
Ein Echo in den Signalleitungen? Fehlerhafte Synchronisation der Sensoren? Ein Fehler in der Auswertungs-Software?
Vielleicht könnte er die Auswirkung des Fehlers auf die Messung herausrechnen wenn er die Ursache fand. Es brauchte eine Lösung. Ohne Bestätigung seiner Theorie konnte er seine Laufbahn vergessen.
Immer wieder drängte sich das grinsende Gesicht in seine Gedanken, dass ihm der wackelnde Monitor für einen Augenblick vorgegaukelt hatte. Bewegung des Bildes wegen der Vibration des Monitors und Zeitversatz der Bilder wegen der 3D-Darstellung. Logisch.
Zeitversatz! Das Wort ließ Hendriks nicht mehr los. Waren die Messwerte zeitversetzt? Das hatte er schon ausgeschlossen. War das Proton zeitversetzt? Hatte er die Zeitreise eines Protons beobachtet?

Die folgenden Wochen vergrub sich Hendricks in seinem Labor. War es wirklich eine Zeitverschiebung? Wenn er beim nächsten Experiment die Zeitreise reproduzieren könnte wäre das eine Sensation. Aber was hatte sie ausgelöst? Die einzige ungewöhnliche Beobachtung war das kurze Zucken des ersten Protons. Interferenzen von irgendwas? Gravitationswellen?

Nach und nach formte sich in Hendricks Kopf eine Theorie. Er würde die Rahmenbedingungen des nächsten Experiments nur geringfügig ändern müssen, um sie zu beweisen. Die Theorie der Zeitreisen.

* * *

Hendricks gehörte nicht zu den Menschen, die von Selbstzweifeln geplagt wurden. Er war sicher, dass sein Versuch die Möglichkeit einer Zeitreise bestätigen würde. Die Versuchsanordnung war aufgebaut, die Computer programmiert. Es gab nichts, was jetzt noch verändert oder gar verbessert werden könnte. Was zu tun war, war getan. Er sah keinen Grund, im Labor zu bleiben. Mit flüchtigem Gruß verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern und ging.

Für die Externen gab es einige Zimmer im obersten Geschoss des Institutsgebäudes. Klein, aber mit hübscher Aussicht. Nach 8 Monaten ununterbrochener Arbeit wollte Hendricks einen Abend genießen ohne an die Wissenschaft zu denken. Er besaß das Talent, den Alltag ausblenden zu können.
Entgegen allen Gesundheits- und Modetrends bevorzugte er Korn. Keinen Rotwein, keinen Whisky, keinen Cognac, und erst recht keinen Absinth. Guten, alten deutschen Roggenkorn. Jahre im Holzfass gelagert, leicht trüb, rund und herrlich aromatisch.
Es entsprach seiner Natur, mit niemandem mehr über seine Vorliebe zu sprechen. Oder gar zu einem Glas einzuladen. Zu groß war das Unverständnis, auf das er in der Vergangenheit gestoßen war.
Bedächtig goss er den Schnaps in einen Cognacschwenker und sah aus dem Fenster. Es war bewölkt. Doch durch eine kleine Lücke zwängte sich ein roter Strahl der untergehenden Sonne und ließ einen Teil des Himmels von unten her erglühen.

"Ein seltener Anblick, nicht wahr?"
Hendricks nahm die Stimme wahr, aber er reagierte nicht. Nur langsam dämmerte ein ungutes Gefühl in ihm auf. Er war in seinem Zimmer. Er hatte hinter sich abgeschlossen. Er war allein. Wer zum Teufel...
Verblüfft drehter er sich um. Was vor ihm stand konnte er nicht wirklich als Menschen bezeichnen. Eher als Wesen. Schon irgendwie menschlich. Von der Grundstruktur her. Aber auch mitleiderregend. Krank. Abstrakt. Picassohaft.
"Wie kommen sie hier rein?"
Hendricks war es in diesem Moment völlig egal, wer da vor ihm stand. Wissenschaftler fragen anders als normale Menschen. Und ihn interessierte vor allem, wie dieses Wesen durch die verschlossene Tür in sein Zimmer gelangt war.
"Das sollten Sie doch ahnen, Dr. Hendricks." Trotz seines fratzenhaften Aussehens konnte Hendricks das ironische Lächeln in diesem fremdartigen Gesicht nicht übersehen.
"Durch die Zeit natürlich. Nicht durch die Tür. Genau genommen bin ich schon länger hier und sie sind zu mir gestoßen. Mitsamt ihrem Zimmer, diesem herrlichen Sonnenuntergang und ihrem Schnaps. Und dem ganzen Rest."
Hendrick erstarrte. Für einen Moment hatte er an einen schlechten Scherz seiner Kollegen geglaubt. Niemand mochte ihn wirklich und ab und zu ließen sogar emotionsarme Wissenschaftler ihren negativen Gefühlen freien Lauf. Aber niemand wusste von seiner Zeitreise-Theorie. Er hatte niemanden informiert, nichts angekündigt. Auch aus der Versuchsvorbereitung konnte man nicht darauf schließen.

"Woher...".
"Ich erkläre es Ihnen sofort. Aber wenn Sie zunächst so freundlich wären..." Er deutete auf das Glas in Hendricks Hand. "Bei uns ist so etwas Mangelware. Eigentlich mangelt es an allem, nicht nur an solchen Köstlichkeiten."
Hendricks füllte ein zweites Glas und reichte es seinem Besucher. Er zuckte zurück, als sein Blick auf die verformten Finger fiel, die sich dem Glas entgegen streckten.
Der Fremde nahm es gelassen.
"Wie gesagt, ich erkläre es Ihnen sofort. Aber lassen Sie uns zuerst anstoßen."
Hendricks prostete ihm zu doch ihre Gläser berührten sich dabei nicht. Er hätte es nie zugegeben. Aber in diesem Moment brauchte er den Schnaps wie nichts anderes in der Welt. Er kippte das ganze Glas in einem Zug hinunter.

"Setzen wir uns." schlug er vor.
Der Fremde nippte nochmals an seinem Glas und setzte es ab. Hendricks schenkte sich nach.
"Es wird also funktionieren?"
Ein stummes Nicken war die Antwort. Doch er fand im Blick seines Gegenübers keine Euphorie. Nur Trauer. Abgrundtiefe, endlose Trauer.
"Ja, es wird funktionieren. Deshalb bin ich hier."
Urplötzlich wurde Hendricks euphorisch.
"Na dann schießen Sie mal los."
"Ich hoffe, das wird nicht nötig werden." Hendricks entging, dass der Mann bei diesen Worten nicht lächelte. Er lehnte sich zurück und lauschte.
"Sie haben mit Ihrer Vermutung recht. Raum erfordert Zeit und Zeit erfordert Raum. Man kann eines auf Kosten des anderen überwinden. Die Wissenschaft wird diesen Zusammenhang theoretisch schlüssig beweisen. In 200 Jahren. Vorher wird es die Voraussetzungen einfach nicht geben."
Hendricks nickte vor sich hin. Ja es stimmte. Er hatte eine Vermutung und wusste, wie man sie experimentell bestätigen konnte. Aber er hatte absolut keine Ahnung, warum das alles so war.

"Eigentlich benötigt man unvorstellbare Energiemengen für eine Manipulation der Zeit. Zumindest in unserem Universum. Die Wissenschaftler nach Ihnen haben lange gerätselt, wie Sie diese Energie überhaupt bereitstellen konnten. Bis schließlich die Theorie der Gravitationswellen die Lösung brachte. Sie überkreuzen sich. Genau hier, genau zu diesem Zeitpunkt. Es gibt Überlagerungen, extreme Stauchungen und Dehnungen im Raumzeit Gefüge, in winzigen, subatomaren Dimensionen. Aber auch in ungeahnter Stärke. Für die Zeitreise eines Protons reicht die Energie aus."

Die Traurigkeit seines Blicks schlug sich jetzt auch in seiner Stimme wieder. Wortlos bittend reichte er Hendricks das Glas, das dieser bereitwillig nachfüllte. Gierig nach den nächsten Informationen sah er seinen Gesprächspartner an.
"Genau diese Wellen haben vor 8 Monaten eine extreme Dehnung des Raums bewirkt, genau dort wo sich ihr Proton befand. Und sie haben es bemerkt. Und ihre Schlüsse gezogen."
Bedächtig nahm er einen weiteren Schluck.
"Die Wahrscheinlichkeit für all das ist extrem niedrig. Eine Zahl mit noch höherem Exponent als es Teilchen im Universum gibt. Aber es ist geschehen."
Hendricks stutzte. "Soll das heißen, dass die Raumpulsationen nicht ständig auftreten? Es war alles ein Zufall?" Er bekam plötzlich Angst, sein Experiment nicht reproduzieren zu können.
"Im Prinzip treten sie ständig auf. Überall. Nur eben nicht so stark wie hier und jetzt. Ein Jahr früher oder ein Jahr später und wir wären uns nie begegnet."
Hendricks atmete auf.
"Aber es gibt nun mal unendlich viele Zeitlinien im Universum. Jedes Ereignis, so unwahrscheinlich es auch ist, wird sich auf einer von ihnen irgendwann ereignen. Und wir beide haben mit unserer Zeitlinie leider den schwarzen Peter gezogen, wie Sie es zu ihrer Zeit so schön formulieren."

Der Verlauf des Gesprächs gefiehl Hendricks nun gar nicht mehr. Der Fremde machte nicht den Eindruck, als wolle er zur Entdeckung der Zeitreisen gratulieren. Ihn umgab eher die Aura eines Anklägers.
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Ich will, damit sagen, dass Ihre Entdeckung 200 Jahre zu früh kommt. Mindestens. Ihr Experiment wird morgen die Möglichkeit von Zeitreisen bestätigen. Und Ihnen natürlich den Nobelpreis einbringen. Leider wird Ihre Theorie dazu rudimentär bleiben. Sie werden deshalb auch nichts von den katastrophalen Folgen ahnen."
Jetzt dämmerte Hendricks, worauf sein Besucher hinaus wollte.

"Nein!"
Nein, er würde seinen Versuch nicht abbrechen. Um nichts auf der Welt würde er auf den Ruhm verzichten, die Zeitreise entdeckt zu haben. "Wir können später korrigieren. Sie wissen, was falsch gelaufen ist. Wir können es ändern!"
Der Mann aus der Zukunft schüttelte den Kopf. "Dieses eine Experiment morgen ist bereits eines zuviel. Der Effekt wird viel stärker ausfallen als Sie vorausberechnet haben. Die Gravitationsinterferenzen. Sie sind morgen viel stärker als vor 8 Monaten. Sie verstehen?"
Er wartete Hendricks Antwort nicht ab.
"Jede Zeitmanipulation löst Verwerfungen der Raumzeit aus. Sie schaukeln sich auf. In 200 Jahren wird man so weit sein, dass man die Theorie entwickelt und die Folgen erkennt. Man würde auf Experimente verzichten. Aber der Zufall hat es so gewollt, dass in unserer Zeitlinie zuerst das Experiment kommt."
Er streckte Hendricks seine Hände entgegen. Verformte Finger. Verdreht. Übereinander liegend. Knotige Gelenke, fleckige, schuppige Haut. Fingernägel wie Krallen, gelblich, schwarz unterlaufen.
"Der Rest meines Körpers sieht nicht besser aus. Die Wellen in der Zeit haben Einfluss auf die Materie. Destruktiven Einfluss. Und belebte Materie reagiert besonders empfindlich."

Hendricks schluckte. "Aber wenn ich meine Entdeckung nicht mache verändere ich die Zukunft. Jeder drittklassige Science Fiction Roman warnt davor. Sie würden gar nicht geboren werden. Es gäbe Sie gar nicht."
Der Fremde nickte. "Richtig. Genau deshalb bin ich hier. Verändern Sie unsere Zeitlinie! Wir wünschen uns, nie geboren zu werden. Nicht in dieses Leben, das wir leben müssen."

Verwirrt sank Hendricks in seinen Sessel zurück. "Das geht nicht. Ich kann das nicht. Ich will das nicht!"
"Sie müssen." erwiderte der Fremde. Ohne zu fragen schenkte er sich selbst nach.
Die Gedanken in Hendricks Gehirn kreisten auf Hochtouren. Langsam sortierte er die Fakten. "Wenn ich das Experiment nicht durchführe dann wird es keinen Anlass für Ihre Zeitreise geben. Aber Sie sind hier. Das ist unlogisch."
"Sie haben das Problem erkannt. In der aktuellen Version dieser Zeitlinie werden sie Ihr Experiment auf jeden Fall durchführen."
Er griff zum Glas und leerte es in einem Zuge.
Hendricks begriff den letzten Satz und erstarrte.

Das kleine Kästchen, das der Fremde aus der Tasche zog sah nicht aus wie eine Waffe. Eine Technologie, die irgendjemand irgendwann in der Zukunft für einen ganz anderen Zweck erfinden würde entzog Hendricks Körper sämtliche Energie. Auf atomarer Ebene. In Bruchteilen einer Sekunde verwandelte er sich in einen Eisblock mit der Temperatur des absoluten Nullpunkts.

Mitarbeiter des Instituts öffneten am nächsten Vormittag die Tür des Apartments, nachdem man vergeblich auf Hendricks Erscheinen gewartet hatte. Man fand etwa 80 Liter Schleim, der später als organisch identifiziert wurde. Und zwei benutzte Gläser.
 

brndmtzk

Mitglied
Verärgert stieß Hendricks die Tastatur von sich. Sie krachte gegen den Fuß des Monitors der bedenklich ins Wanken geriet. Durch seine Shutter-Brille sah er in diesem Moment nicht nur zwei Protonen sondern sogar vier. Zusammen mit den anderen Teilchen auf dem Schirm erinnerte ihn das Bild an ein Gesicht mit einem großen, lachenden Mund.
Er schaffte es, die Brille abzulegen ohne sie dabei zu beschädigen. Eine Meisterleistung. Zumindest für ihn. In diesem Moment.
Er war nie ein besonders beherrschter Mensch gewesen. Sonst hätte er auch nicht die Gelegenheit zu diesem Experiment bekommen. Er hatte sich durchgeboxt. Bärtige Jünglinge aus dem Weg gedrängt, glubschäugige Vorzimmerdamen mit seiner cholerischen Art eingeschüchtert und Kontrahenten lautstark nieder diskutiert. Der moderne Wissenschaftsbetrieb eignete sich nun mal nicht für konsensfähige Weicheier.
Er hatte sich die Chance auf dieses Experiment geschaffen und dafür seinen letzten Gönner geopfert. Doch nun? Hoch gepokert, hoch verloren?
Nervös schaukelte er mit seinem Stuhl hin und her. Es musste ein Fehler der Sensoren sein. Die Messergebnissse waren Müll. Und deshalb konnten sie seine These nicht widerlegen. Genau genommen hatte er sein Experiment also gar nicht durchführen können. Vielleicht ließe sich mit dieser Begründung eine Wiederholung erreichen? Irgendwann?

* * *

Drei Monate später brütete Hendricks immer noch über den Daten des Experiments. Er hatte einen neuen Termin bekommen. In 8 Monaten. Das war immer noch schneller als gedacht, denn der Beschleuniger war eigentlich auf Jahre hinaus ausgebucht. Bis dahin wollte er versuchen, aus den Rohdaten der missglückten Messung wenigstens etwas Brauchbares herauszufiltern.
Unmittelbar vor dem Auftreffen der beschleunigten Teilchen begann das Ziel-Proton zu zittern. Und dann erschienen auf den Sensoren plötzlich ein zweites Proton. Im selben Moment auch Bruchstücke der Kollision. Die noch gar nicht stattgefunden hatte.
Ein Echo in den Signalleitungen? Fehlerhafte Synchronisation der Sensoren? Ein Fehler in der Auswertungs-Software?
Vielleicht könnte er die Auswirkung des Fehlers auf die Messung herausrechnen wenn er die Ursache fand. Es brauchte eine Lösung. Ohne Bestätigung seiner Theorie konnte er seine Laufbahn vergessen.
Immer wieder drängte sich das grinsende Gesicht in seine Gedanken, dass ihm der wackelnde Monitor für einen Augenblick vorgegaukelt hatte. Bewegung des Bildes wegen der Vibration des Monitors und Zeitversatz der Bilder wegen der 3D-Darstellung. Logisch.
Zeitversatz! Das Wort ließ Hendriks nicht mehr los. Waren die Messwerte zeitversetzt? Das hatte er schon ausgeschlossen. War das Proton zeitversetzt? Hatte er die Zeitreise eines Protons beobachtet?

Die folgenden Wochen vergrub sich Hendricks in seinem Labor. War es wirklich eine Zeitverschiebung? Wenn er beim nächsten Experiment die Zeitreise reproduzieren könnte wäre das eine Sensation. Aber was hatte sie ausgelöst? Die einzige ungewöhnliche Beobachtung war das kurze Zucken des ersten Protons. Interferenzen von irgendwas? Gravitationswellen?

Nach und nach formte sich in Hendricks Kopf eine Theorie. Er würde die Rahmenbedingungen des nächsten Experiments nur geringfügig ändern müssen, um sie zu beweisen. Die Theorie der Zeitreisen.

* * *

Hendricks gehörte nicht zu den Menschen, die von Selbstzweifeln geplagt wurden. Er war sicher, dass sein Versuch die Möglichkeit einer Zeitreise bestätigen würde. Die Versuchsanordnung war aufgebaut, die Computer programmiert. Es gab nichts, was jetzt noch verändert oder gar verbessert werden könnte. Was zu tun war, war getan. Er sah keinen Grund, im Labor zu bleiben. Mit flüchtigem Gruß verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern und ging.

Für die Externen gab es einige Zimmer im obersten Geschoss des Institutsgebäudes. Klein, aber mit hübscher Aussicht. Nach 8 Monaten ununterbrochener Arbeit wollte Hendricks einen Abend genießen ohne an die Wissenschaft zu denken. Er besaß das Talent, den Alltag ausblenden zu können.
Entgegen allen Gesundheits- und Modetrends bevorzugte er Korn. Keinen Rotwein, keinen Whisky, keinen Cognac, und erst recht keinen Absinth. Guten, alten deutschen Roggenkorn. Jahre im Holzfass gelagert, leicht trüb, rund und herrlich aromatisch.
Es entsprach seiner Natur, mit niemandem mehr über seine Vorliebe zu sprechen. Oder gar zu einem Glas einzuladen. Zu groß war das Unverständnis, auf das er in der Vergangenheit gestoßen war.
Bedächtig goss er den Schnaps in einen Cognacschwenker und sah aus dem Fenster. Es war bewölkt. Doch durch eine kleine Lücke zwängte sich ein roter Strahl der untergehenden Sonne und ließ einen Teil des Himmels von unten her erglühen.

"Ein seltener Anblick, nicht wahr?"
Hendricks nahm die Stimme wahr, aber er reagierte nicht. Nur langsam dämmerte ein ungutes Gefühl in ihm auf. Er war in seinem Zimmer. Er hatte hinter sich abgeschlossen. Er war allein. Wer zum Teufel...
Verblüfft drehter er sich um. Was vor ihm stand konnte er nicht wirklich als Menschen bezeichnen. Eher als Wesen. Schon irgendwie menschlich. Von der Grundstruktur her. Aber auch mitleiderregend. Krank. Abstrakt. Picassohaft.
"Wie kommen sie hier rein?"
Hendricks war es in diesem Moment völlig egal, wer da vor ihm stand. Wissenschaftler fragen anders als normale Menschen. Und ihn interessierte vor allem, wie dieses Wesen durch die verschlossene Tür in sein Zimmer gelangt war.
"Das sollten Sie doch ahnen, Dr. Hendricks." Trotz seines fratzenhaften Aussehens konnte Hendricks das ironische Lächeln in diesem fremdartigen Gesicht nicht übersehen.
"Durch die Zeit natürlich. Nicht durch die Tür. Genau genommen bin ich schon länger hier und sie sind zu mir gestoßen. Mitsamt ihrem Zimmer, diesem herrlichen Sonnenuntergang und ihrem Schnaps. Und dem ganzen Rest."
Hendrick erstarrte. Für einen Moment hatte er an einen schlechten Scherz seiner Kollegen geglaubt. Niemand mochte ihn wirklich und ab und zu ließen sogar emotionsarme Wissenschaftler ihren negativen Gefühlen freien Lauf. Aber niemand wusste von seiner Zeitreise-Theorie. Er hatte niemanden informiert, nichts angekündigt. Auch aus der Versuchsvorbereitung konnte man nicht darauf schließen.

"Woher...".
"Ich erkläre es Ihnen sofort. Aber wenn Sie zunächst so freundlich wären..." Er deutete auf das Glas in Hendricks Hand. "Bei uns ist so etwas Mangelware. Eigentlich mangelt es an allem, nicht nur an solchen Köstlichkeiten."
Hendricks füllte ein zweites Glas und reichte es seinem Besucher. Er zuckte zurück, als sein Blick auf die verformten Finger fiel, die sich dem Glas entgegen streckten.
Der Fremde nahm es gelassen.
"Wie gesagt, ich erkläre es Ihnen sofort. Aber lassen Sie uns zuerst anstoßen."
Hendricks prostete ihm zu doch ihre Gläser berührten sich dabei nicht. Er hätte es nie zugegeben. Aber in diesem Moment brauchte er den Schnaps wie nichts anderes in der Welt. Er kippte das ganze Glas in einem Zug hinunter.

"Setzen wir uns." schlug er vor.
Der Fremde nippte nochmals an seinem Glas und setzte es ab. Hendricks schenkte sich nach.
"Es wird also funktionieren?"
Ein stummes Nicken war die Antwort. Doch er fand im Blick seines Gegenübers keine Euphorie. Nur Trauer. Abgrundtiefe, endlose Trauer.
"Ja, es wird funktionieren. Deshalb bin ich hier."
Urplötzlich wurde Hendricks euphorisch.
"Na dann schießen Sie mal los."
"Ich hoffe, das wird nicht nötig werden." Hendricks entging, dass der Mann bei diesen Worten nicht lächelte. Er lehnte sich zurück und lauschte.
"Sie haben mit Ihrer Vermutung recht. Raum erfordert Zeit und Zeit erfordert Raum. Man kann eines auf Kosten des anderen überwinden. Die Wissenschaft wird diesen Zusammenhang theoretisch schlüssig beweisen. In 200 Jahren. Vorher wird es die Voraussetzungen einfach nicht geben."
Hendricks nickte vor sich hin. Ja es stimmte. Er hatte eine Vermutung und wusste, wie man sie experimentell bestätigen konnte. Aber er hatte absolut keine Ahnung, warum das alles so war.

"Eigentlich benötigt man unvorstellbare Energiemengen für eine Manipulation der Zeit. Zumindest in unserem Universum. Die Wissenschaftler nach Ihnen haben lange gerätselt, wie Sie diese Energie überhaupt bereitstellen konnten. Bis schließlich die Theorie der Gravitationswellen die Lösung brachte. Sie überkreuzen sich. Genau hier, genau zu diesem Zeitpunkt. Es gibt Überlagerungen, extreme Stauchungen und Dehnungen im Raumzeit Gefüge, in winzigen, subatomaren Dimensionen. Aber auch in ungeahnter Stärke. Für die Zeitreise eines Protons reicht die Energie aus."

Die Traurigkeit seines Blicks schlug sich jetzt auch in seiner Stimme wieder. Wortlos bittend reichte er Hendricks das Glas, das dieser bereitwillig nachfüllte. Gierig nach den nächsten Informationen sah er seinen Gesprächspartner an.
"Genau diese Wellen haben vor 8 Monaten eine extreme Dehnung des Raums bewirkt, genau dort wo sich ihr Proton befand. Und sie haben es bemerkt. Und ihre Schlüsse gezogen."
Bedächtig nahm er einen weiteren Schluck.
"Die Wahrscheinlichkeit für all das ist extrem niedrig. Eine Zahl mit noch höherem Exponent als es Teilchen im Universum gibt. Aber es ist geschehen."
Hendricks stutzte. "Soll das heißen, dass die Raumpulsationen nicht ständig auftreten? Es war alles ein Zufall?" Er bekam plötzlich Angst, sein Experiment nicht reproduzieren zu können.
"Im Prinzip treten sie ständig auf. Überall. Nur eben nicht so stark wie hier und jetzt. Ein Jahr früher oder ein Jahr später und wir wären uns nie begegnet."
Hendricks atmete auf.
"Aber es gibt nun mal unendlich viele Zeitlinien im Universum. Jedes Ereignis, so unwahrscheinlich es auch ist, wird sich auf einer von ihnen irgendwann ereignen. Und wir beide haben mit unserer Zeitlinie leider den schwarzen Peter gezogen, wie Sie es zu ihrer Zeit so schön formulieren."

Der Verlauf des Gesprächs gefiehl Hendricks nun gar nicht mehr. Der Fremde machte nicht den Eindruck, als wolle er zur Entdeckung der Zeitreisen gratulieren. Ihn umgab eher die Aura eines Anklägers.
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Ich will, damit sagen, dass Ihre Entdeckung 200 Jahre zu früh kommt. Mindestens. Ihr Experiment wird morgen die Möglichkeit von Zeitreisen bestätigen. Und Ihnen natürlich den Nobelpreis einbringen. Leider wird Ihre Theorie dazu rudimentär bleiben. Sie werden deshalb auch nichts von den katastrophalen Folgen ahnen."
Jetzt dämmerte Hendricks, worauf sein Besucher hinaus wollte.

"Nein!"
Nein, er würde seinen Versuch nicht abbrechen. Um nichts auf der Welt würde er auf den Ruhm verzichten, die Zeitreise entdeckt zu haben. "Wir können später korrigieren. Sie wissen, was falsch gelaufen ist. Wir können es ändern!"
Der Mann aus der Zukunft schüttelte den Kopf. "Dieses eine Experiment morgen ist bereits eines zuviel. Der Effekt wird viel stärker ausfallen als Sie vorausberechnet haben. Die Gravitationsinterferenzen. Sie sind morgen viel stärker als vor 8 Monaten. Sie verstehen?"
Er wartete Hendricks Antwort nicht ab.
"Jede Zeitmanipulation löst Verwerfungen der Raumzeit aus. Sie schaukeln sich auf. In 200 Jahren wird man so weit sein, dass man die Theorie entwickelt und die Folgen erkennt. Man würde auf Experimente verzichten. Aber der Zufall hat es so gewollt, dass in unserer Zeitlinie zuerst das Experiment kommt."
Er streckte Hendricks seine Hände entgegen. Verformte Finger. Verdreht. Übereinander liegend. Knotige Gelenke, fleckige, schuppige Haut. Fingernägel wie Krallen, gelblich, schwarz unterlaufen.
"Der Rest meines Körpers sieht nicht besser aus. Die Wellen in der Zeit haben Einfluss auf die Materie. Destruktiven Einfluss. Und belebte Materie reagiert besonders empfindlich."

Hendricks schluckte. "Aber wenn ich meine Entdeckung nicht mache verändere ich die Zukunft. Jeder drittklassige Science Fiction Roman warnt davor. Sie würden gar nicht geboren werden. Es gäbe Sie gar nicht."
Der Fremde nickte. "Richtig. Genau deshalb bin ich hier. Verändern Sie unsere Zeitlinie! Wir wünschen uns, nie geboren zu werden. Nicht in dieses Leben, das wir leben müssen."

Verwirrt sank Hendricks in seinen Sessel zurück. "Das geht nicht. Ich kann das nicht. Ich will das nicht!"
"Sie müssen." erwiderte der Fremde. Ohne zu fragen schenkte er sich selbst nach.
Die Gedanken in Hendricks Gehirn kreisten auf Hochtouren. Langsam sortierte er die Fakten. "Wenn ich das Experiment nicht durchführe dann wird es keinen Anlass für Ihre Zeitreise geben. Aber Sie sind hier. Das ist unlogisch."
"Sie haben das Problem erkannt. In der aktuellen Version dieser Zeitlinie werden sie Ihr Experiment auf jeden Fall durchführen."
Er griff zum Glas und leerte es in einem Zuge.
Hendricks begriff den letzten Satz und erstarrte.

Das kleine Kästchen, das der Fremde aus der Tasche zog sah nicht aus wie eine Waffe. Eine Technologie, die irgendjemand irgendwann in der Zukunft für einen ganz anderen Zweck erfinden würde entzog Hendricks Körper sämtliche Energie. Auf atomarer Ebene. In Bruchteilen einer Sekunde verwandelte er sich in einen Eisblock mit der Temperatur des absoluten Nullpunkts.

Mitarbeiter des Instituts öffneten am nächsten Vormittag die Tür des Apartments, nachdem man vergeblich auf Hendricks Erscheinen gewartet hatte. Man fand etwa 80 Liter Schleim, der später als organisch identifiziert wurde. Und zwei benutzte Gläser.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Okay, na dann ran an die Details! Ich schau mal, wie weit ich jetzt komme …

Generell: Die Leerzeilen scheinen willkürlich gesetzt, sie sind fast nie durch den Inhalt (Szenenwechsel, Orts- oder Zeitsprung etc.) unterfüttert.

Am Stil kann ich nicht groß rummeckern. Mir persönlich ist er etwas zu gleichmäßig in seinem Klang - wie eine Kiesfläche. Ich weiß nicht, ob das der Grund ist, warum ich den Text kaum spannend fand.

Vielleicht ist es auch so, weil nach "Jetzt dämmerte Hendricks, worauf sein Besucher hinaus wollte." noch so viel Text kommt. Dieser Satz leitet die Pointe ein, du schweifst aber nochmal zur Vorbereitung der Pointe (zur Erklärphase) um. Effektiver wäre sicher, wenn der Gast das mit dem "verdreht" erzählt und andeutet, dass niemand so leben will - und dass Hendricks erst da realisiert, dass der Gast ihn von dem Experiment abhalten will. Dann kann H sofort protestieren und der Gast (der damit ja gerechnet hat) ganz schnell das Problem lösen. Danach der Schluss und die fast perfekte Spannungskurve steht.

Details:

Verärgert stieß Hendricks die Tastatur von sich. Sie krachte gegen den Fuß des Monitors[red]KOMMA[/red] der bedenklich ins Wanken geriet. Durch seine Shutter-Brille sah er in diesem Moment nicht nur zwei Protonen[red]KOMMA[/red] sondern sogar vier. Zusammen mit den anderen Teilchen auf dem Schirm erinnerte ihn das Bild an ein Gesicht mit einem großen, lachenden Mund.

Er schaffte es, die Brille abzulegen ohne sie dabei zu beschädigen. Eine Meisterleistung. Zumindest für ihn. In diesem Moment.
Das "für ihn" wird im folgenden erklärt, das "in diesem Moment" hängt echt lange in der Luft.

Er war nie ein besonders beherrschter Mensch gewesen. Sonst hätte er auch nicht die Gelegenheit zu diesem Experiment bekommen. Er hatte sich durchgeboxt. Bärtige Jünglinge aus dem Weg gedrängt, glubschäugige Vorzimmerdamen mit seiner cholerischen Art eingeschüchtert und Kontrahenten lautstark nieder diskutiert. Der moderne Wissenschaftsbetrieb eignete sich nun mal nicht für konsensfähige Weicheier.
Das ist alles ganz hübsch, aber hat nur wenig Bedeutung für die Story, oder? Mich hat der Ausflug gestört, weil ich mich viel mehr für "diesen Moment" interessiert habe.
"niederdiskutiert" fände ich besser

Er hatte sich die Chance auf dieses Experiment geschaffen und dafür seinen letzten Gönner geopfert. Doch nun? Hoch gepokert, hoch verloren?
Die Gönner spielen nie wieder eine Rolle, das brauch ich nicht. Was ich gebraucht hätte, wäre ein Hinweis darauf gewesen, wieso er jetzt irgendwas von "verloren" denkt. Hätte er jetzt Gönner gebraucht?

Nervös schaukelte er mit seinem Stuhl hin und her. Es musste ein Fehler der Sensoren sein. Die Messergebnissse waren Müll. Und deshalb konnten sie seine These nicht widerlegen. Genau genommen hatte er sein Experiment also gar nicht durchführen können. Vielleicht ließe sich mit dieser Begründung eine Wiederholung erreichen? Irgendwann?
Warum ist er nervös, wenn die Ergbnisse seine These nicht widerlegen? Ist doch nicht schlecht. Es wäre natürlich besser, sie würden die These belegen, aber so besteht immerhin noch eine Chance …
Wie: Er hatte sein Experiment nicht durchführen können? Stromausfall? Und wieso nur "genau genommen hatte er es nicht durchführen können"? Sehr kryptisch das alles … ;)


* * *

Drei Monate später brütete Hendricks immer noch über den Daten des Experiments. Er hatte einen neuen Termin bekommen. In 8 Monaten. Das war immer noch schneller als gedacht, denn der Beschleuniger war eigentlich auf Jahre hinaus ausgebucht. Bis dahin wollte er versuchen, aus den Rohdaten der missglückten Messung wenigstens etwas Brauchbares herauszufiltern.
Unmittelbar vor dem Auftreffen der beschleunigten Teilchen begann das Ziel-Proton zu zittern. Und dann erschienen auf den Sensoren plötzlich ein zweites Proton. Im selben Moment auch Bruchstücke der Kollision. Die noch gar nicht stattgefunden hatte.
Zahlen ausschreiben! (Es sei denn, das wird unübersichtlich - aber "acht" kann man recht lesen.)
Das war eher, als er gedacht hatte - oder?
Dann erschien ein Proton, nicht erschienen.

Ein Echo in den Signalleitungen? Fehlerhafte Synchronisation der Sensoren? Ein Fehler in der Auswertungs-Software?
Wenn ein Binde-S im zusammengesetzten Wort steht, schreibt man es nicht mit Bindestrich.
Wenn es ein Fehler in der Sychronisation der Sensoren gewesen wäre, dürfte das Phänonem nicht auf allen auftauchen. Es dürfte af keinem auftauchen - nur die Anzeigen in der Summe dürften diese Diskrepanz aufweisen.

Vielleicht könnte er die Auswirkung des Fehlers auf die Messung herausrechnen[red]KOMMA[/red] wenn er die Ursache fand. Es brauchte eine Lösung. Ohne Bestätigung seiner Theorie konnte er seine Laufbahn vergessen.
Ausrufezeichen nach "Lösung" fände ich besser.
Es brauchte eins Lösung? Er brauchte eine!
Jetzt geht als doch darum, seine These zu bestätigen, nicht darum, sie zu widerlegen …

Immer wieder drängte sich das grinsende Gesicht in seine Gedanken, [strike]dass[/strike][red]das[/red] ihm der wackelnde Monitor für einen Augenblick vorgegaukelt hatte. Bewegung des Bildes wegen der Vibration des Monitors und Zeitversatz der Bilder wegen der 3D-Darstellung. Logisch.
Richtig ist es, den Attribut-Satz an das näher zu bestimmende Wort (bzw. die Wortgruppe) anzuhängen - also an „Gesicht“, nicht an „Monitor“. Von dieser Regel weicht man eigentlich nur ab, wenn hinter dem zu bestimmenden Wort (bzw. der Wortgruppe) ein oder zwei Partikel (z. B. der zweite Teil eines Verbes) folgt.
Wieso ist "Zeitversatz wegen 3-D-Darstellung" logisch?


Wenn er beim nächsten Experiment die Zeitreise reproduzieren könnte[red]KOMMA[/red] wäre das eine Sensation.

Nach und nach formte sich in Hendricks Kopf eine Theorie. Er würde die Rahmenbedingungen des nächsten Experiments nur geringfügig ändern müssen, um sie zu beweisen. Die Theorie der Zeitreisen.
Der letzte Satz gehört inhaltlich und klanglich hinter den ersten. Da dir dann die Info des zweiten Satzes verloren ginge, musst du wohl ein bisschen stärker umbauen.
 

brndmtzk

Mitglied
Verärgert stieß Hendricks die Tastatur von sich. Sie krachte gegen den Fuß des Monitors, der bedenklich ins Wanken geriet. Durch seine Shutter-Brille sah er in diesem Moment nicht nur zwei Protonen, sondern sogar vier. Zusammen mit den anderen Teilchen auf dem Schirm erinnerte ihn das Bild an ein Gesicht mit einem großen, lachenden Mund.
Er schaffte es, die Brille abzulegen ohne sie dabei zu beschädigen. Eine Meisterleistung. Zumindest für ihn. In diesem Moment der Enttäuschung.
Er war nie ein besonders beherrschter Mensch gewesen. Sonst hätte er auch nicht die Gelegenheit zu diesem Experiment bekommen. Er hatte sich durchgeboxt. Bärtige Jünglinge aus dem Weg gedrängt, glubschäugige Vorzimmerdamen mit seiner cholerischen Art eingeschüchtert und Kontrahenten lautstark nieder diskutiert. Der moderne Wissenschaftsbetrieb eignete sich nun mal nicht für konsensfähige Weicheier.
Er hatte sich die Chance auf dieses Experiment geschaffen und dafür seinen letzten Gönner geopfert. Doch nun? Hoch gepokert, hoch verloren?
Nervös schaukelte er mit seinem Stuhl hin und her. Es musste ein Fehler der Sensoren sein. Die Messergebnissse waren Müll. Und deshalb konnten sie seine These nicht widerlegen. Genau genommen hatte er sein Experiment also gar nicht durchführen können. Vielleicht ließe sich mit dieser Begründung eine Wiederholung erreichen? Irgendwann?

* * *

Drei Monate später brütete Hendricks immer noch über den Daten des Experiments. Er hatte einen neuen Termin bekommen. In acht Monaten. Das war immer noch schneller als gedacht, denn der Beschleuniger war eigentlich auf Jahre hinaus ausgebucht. Bis dahin wollte er versuchen, aus den Rohdaten der missglückten Messung wenigstens etwas Brauchbares herauszufiltern.
Unmittelbar vor dem Auftreffen der beschleunigten Teilchen begann das Ziel-Proton zu zittern. Und dann erschienen auf den Sensoren plötzlich ein zweites Proton. Im selben Moment auch Bruchstücke der Kollision. Die noch gar nicht stattgefunden hatte.
Ein Echo in den Signalleitungen? Fehlerhafte Synchronisation der Sensoren? Ein Fehler in der Auswertungssoftware?
Vielleicht könnte er die Auswirkung des Fehlers auf die Messung herausrechnen, wenn er die Ursache fand. Es brauchte eine Lösung! Ohne Bestätigung seiner Theorie konnte er seine Laufbahn vergessen.
Immer wieder drängte sich das grinsende Gesicht in seine Gedanken, das ihm der wackelnde Monitor für einen Augenblick vorgegaukelt hatte. Bewegung des Bildes wegen der Vibration des Monitors und Zeitversatz der Bilder wegen der 3D-Darstellung. Logisch.
Zeitversatz! Das Wort ließ Hendriks nicht mehr los. Waren die Messwerte zeitversetzt? Das hatte er schon ausgeschlossen. War das Proton zeitversetzt? Hatte er die Zeitreise eines Protons beobachtet?

Die folgenden Wochen vergrub sich Hendricks in seinem Labor. War es wirklich eine Zeitverschiebung? Wenn er beim nächsten Experiment die Zeitreise reproduzieren könnte, wäre das eine Sensation. Aber was hatte sie ausgelöst? Die einzige ungewöhnliche Beobachtung war das kurze Zucken des ersten Protons. Interferenzen von irgendwas? Gravitationswellen?

Nach und nach formte sich in Hendricks Kopf eine Theorie. Er würde die Rahmenbedingungen des nächsten Experiments nur geringfügig ändern müssen, um die Theorie der Zeitreisen beweisen zu können.

* * *

Hendricks gehörte nicht zu den Menschen, die von Selbstzweifeln geplagt wurden. Er war sicher, dass sein Versuch die Möglichkeit einer Zeitreise bestätigen würde. Die Versuchsanordnung war aufgebaut, die Computer programmiert. Es gab nichts, was jetzt noch verändert oder gar verbessert werden könnte. Was zu tun war, war getan. Er sah keinen Grund, im Labor zu bleiben. Mit flüchtigem Gruß verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern und ging.

Für die Externen gab es einige Zimmer im obersten Geschoss des Institutsgebäudes. Klein, aber mit hübscher Aussicht. Nach 8 Monaten ununterbrochener Arbeit wollte Hendricks einen Abend genießen ohne an die Wissenschaft zu denken. Er besaß das Talent, den Alltag ausblenden zu können.
Entgegen allen Gesundheits- und Modetrends bevorzugte er Korn. Keinen Rotwein, keinen Whisky, keinen Cognac, und erst recht keinen Absinth. Guten, alten deutschen Roggenkorn. Jahre im Holzfass gelagert, leicht trüb, rund und herrlich aromatisch.
Es entsprach seiner Natur, mit niemandem mehr über seine Vorliebe zu sprechen. Oder gar zu einem Glas einzuladen. Zu groß war das Unverständnis, auf das er in der Vergangenheit gestoßen war.
Bedächtig goss er den Schnaps in einen Cognacschwenker und sah aus dem Fenster. Es war bewölkt. Doch durch eine kleine Lücke zwängte sich ein roter Strahl der untergehenden Sonne und ließ einen Teil des Himmels von unten her erglühen.

"Ein seltener Anblick, nicht wahr?"
Hendricks nahm die Stimme wahr, aber er reagierte nicht. Nur langsam dämmerte ein ungutes Gefühl in ihm auf. Er war in seinem Zimmer. Er hatte hinter sich abgeschlossen. Er war allein. Wer zum Teufel...
Verblüfft drehter er sich um. Was vor ihm stand konnte er nicht wirklich als Menschen bezeichnen. Eher als Wesen. Schon irgendwie menschlich. Von der Grundstruktur her. Aber auch mitleiderregend. Krank. Abstrakt. Picassohaft.
"Wie kommen sie hier rein?"
Hendricks war es in diesem Moment völlig egal, wer da vor ihm stand. Wissenschaftler fragen anders als normale Menschen. Und ihn interessierte vor allem, wie dieses Wesen durch die verschlossene Tür in sein Zimmer gelangt war.
"Das sollten Sie doch ahnen, Dr. Hendricks." Trotz seines fratzenhaften Aussehens konnte Hendricks das ironische Lächeln in diesem fremdartigen Gesicht nicht übersehen.
"Durch die Zeit natürlich. Nicht durch die Tür. Genau genommen bin ich schon länger hier und sie sind zu mir gestoßen. Mitsamt ihrem Zimmer, diesem herrlichen Sonnenuntergang und ihrem Schnaps. Und dem ganzen Rest."
Hendrick erstarrte. Für einen Moment hatte er an einen schlechten Scherz seiner Kollegen geglaubt. Niemand mochte ihn wirklich und ab und zu ließen sogar emotionsarme Wissenschaftler ihren negativen Gefühlen freien Lauf. Aber niemand wusste von seiner Zeitreise-Theorie. Er hatte niemanden informiert, nichts angekündigt. Auch aus der Versuchsvorbereitung konnte man nicht darauf schließen.

"Woher...".
"Ich erkläre es Ihnen sofort. Aber wenn Sie zunächst so freundlich wären..." Er deutete auf das Glas in Hendricks Hand. "Bei uns ist so etwas Mangelware. Eigentlich mangelt es an allem, nicht nur an solchen Köstlichkeiten."
Hendricks füllte ein zweites Glas und reichte es seinem Besucher. Er zuckte zurück, als sein Blick auf die verformten Finger fiel, die sich dem Glas entgegen streckten.
Der Fremde nahm es gelassen.
"Wie gesagt, ich erkläre es Ihnen sofort. Aber lassen Sie uns zuerst anstoßen."
Hendricks prostete ihm zu doch ihre Gläser berührten sich dabei nicht. Er hätte es nie zugegeben. Aber in diesem Moment brauchte er den Schnaps wie nichts anderes in der Welt. Er kippte das ganze Glas in einem Zug hinunter.

"Setzen wir uns." schlug er vor.
Der Fremde nippte nochmals an seinem Glas und setzte es ab. Hendricks schenkte sich nach.
"Es wird also funktionieren?"
Ein stummes Nicken war die Antwort. Doch er fand im Blick seines Gegenübers keine Euphorie. Nur Trauer. Abgrundtiefe, endlose Trauer.
"Ja, es wird funktionieren. Deshalb bin ich hier."
Urplötzlich wurde Hendricks euphorisch.
"Na dann schießen Sie mal los."
"Ich hoffe, das wird nicht nötig werden." Hendricks entging, dass der Mann bei diesen Worten nicht lächelte. Er lehnte sich zurück und lauschte.
"Sie haben mit Ihrer Vermutung recht. Raum erfordert Zeit und Zeit erfordert Raum. Man kann eines auf Kosten des anderen überwinden. Die Wissenschaft wird diesen Zusammenhang theoretisch schlüssig beweisen. In 200 Jahren. Vorher wird es die Voraussetzungen einfach nicht geben."
Hendricks nickte vor sich hin. Ja es stimmte. Er hatte eine Vermutung und wusste, wie man sie experimentell bestätigen konnte. Aber er hatte absolut keine Ahnung, warum das alles so war.

"Eigentlich benötigt man unvorstellbare Energiemengen für eine Manipulation der Zeit. Zumindest in unserem Universum. Die Wissenschaftler nach Ihnen haben lange gerätselt, wie Sie diese Energie überhaupt bereitstellen konnten. Bis schließlich die Theorie der Gravitationswellen die Lösung brachte. Sie überkreuzen sich. Genau hier, genau zu diesem Zeitpunkt. Es gibt Überlagerungen, extreme Stauchungen und Dehnungen im Raumzeit Gefüge, in winzigen, subatomaren Dimensionen. Aber auch in ungeahnter Stärke. Für die Zeitreise eines Protons reicht die Energie aus."

Die Traurigkeit seines Blicks schlug sich jetzt auch in seiner Stimme wieder. Wortlos bittend reichte er Hendricks das Glas, das dieser bereitwillig nachfüllte. Gierig nach den nächsten Informationen sah er seinen Gesprächspartner an.
"Genau diese Wellen haben vor 8 Monaten eine extreme Dehnung des Raums bewirkt, genau dort wo sich ihr Proton befand. Und sie haben es bemerkt. Und ihre Schlüsse gezogen."
Bedächtig nahm er einen weiteren Schluck.
"Die Wahrscheinlichkeit für all das ist extrem niedrig. Eine Zahl mit noch höherem Exponent als es Teilchen im Universum gibt. Aber es ist geschehen."
Hendricks stutzte. "Soll das heißen, dass die Raumpulsationen nicht ständig auftreten? Es war alles ein Zufall?" Er bekam plötzlich Angst, sein Experiment nicht reproduzieren zu können.
"Im Prinzip treten sie ständig auf. Überall. Nur eben nicht so stark wie hier und jetzt. Ein Jahr früher oder ein Jahr später und wir wären uns nie begegnet."
Hendricks atmete auf.
"Aber es gibt nun mal unendlich viele Zeitlinien im Universum. Jedes Ereignis, so unwahrscheinlich es auch ist, wird sich auf einer von ihnen irgendwann ereignen. Und wir beide haben mit unserer Zeitlinie leider den schwarzen Peter gezogen, wie Sie es zu ihrer Zeit so schön formulieren."

Der Verlauf des Gesprächs gefiehl Hendricks nun gar nicht mehr. Der Fremde machte nicht den Eindruck, als wolle er zur Entdeckung der Zeitreisen gratulieren. Ihn umgab eher die Aura eines Anklägers.
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Ich will, damit sagen, dass Ihre Entdeckung 200 Jahre zu früh kommt. Mindestens. Ihr Experiment wird morgen die Möglichkeit von Zeitreisen bestätigen. Und Ihnen natürlich den Nobelpreis einbringen. Leider wird Ihre Theorie dazu rudimentär bleiben. Sie werden deshalb auch nichts von den katastrophalen Folgen ahnen."
Jetzt dämmerte Hendricks, worauf sein Besucher hinaus wollte.

"Nein!"
Nein, er würde seinen Versuch nicht abbrechen. Um nichts auf der Welt würde er auf den Ruhm verzichten, die Zeitreise entdeckt zu haben. "Wir können später korrigieren. Sie wissen, was falsch gelaufen ist. Wir können es ändern!"
Der Mann aus der Zukunft schüttelte den Kopf. "Dieses eine Experiment morgen ist bereits eines zuviel. Der Effekt wird viel stärker ausfallen als Sie vorausberechnet haben. Die Gravitationsinterferenzen. Sie sind morgen viel stärker als vor 8 Monaten. Sie verstehen?"
Er wartete Hendricks Antwort nicht ab.
"Jede Zeitmanipulation löst Verwerfungen der Raumzeit aus. Sie schaukeln sich auf. In 200 Jahren wird man so weit sein, dass man die Theorie entwickelt und die Folgen erkennt. Man würde auf Experimente verzichten. Aber der Zufall hat es so gewollt, dass in unserer Zeitlinie zuerst das Experiment kommt."
Er streckte Hendricks seine Hände entgegen. Verformte Finger. Verdreht. Übereinander liegend. Knotige Gelenke, fleckige, schuppige Haut. Fingernägel wie Krallen, gelblich, schwarz unterlaufen.
"Der Rest meines Körpers sieht nicht besser aus. Die Wellen in der Zeit haben Einfluss auf die Materie. Destruktiven Einfluss. Und belebte Materie reagiert besonders empfindlich."

Hendricks schluckte. "Aber wenn ich meine Entdeckung nicht mache verändere ich die Zukunft. Jeder drittklassige Science Fiction Roman warnt davor. Sie würden gar nicht geboren werden. Es gäbe Sie gar nicht."
Der Fremde nickte. "Richtig. Genau deshalb bin ich hier. Verändern Sie unsere Zeitlinie! Wir wünschen uns, nie geboren zu werden. Nicht in dieses Leben, das wir leben müssen."

Verwirrt sank Hendricks in seinen Sessel zurück. "Das geht nicht. Ich kann das nicht. Ich will das nicht!"
"Sie müssen." erwiderte der Fremde. Ohne zu fragen schenkte er sich selbst nach.
Die Gedanken in Hendricks Gehirn kreisten auf Hochtouren. Langsam sortierte er die Fakten. "Wenn ich das Experiment nicht durchführe dann wird es keinen Anlass für Ihre Zeitreise geben. Aber Sie sind hier. Das ist unlogisch."
"Sie haben das Problem erkannt. In der aktuellen Version dieser Zeitlinie werden sie Ihr Experiment auf jeden Fall durchführen."
Er griff zum Glas und leerte es in einem Zuge.
Hendricks begriff den letzten Satz und erstarrte.

Das kleine Kästchen, das der Fremde aus der Tasche zog sah nicht aus wie eine Waffe. Eine Technologie, die irgendjemand irgendwann in der Zukunft für einen ganz anderen Zweck erfinden würde entzog Hendricks Körper sämtliche Energie. Auf atomarer Ebene. In Bruchteilen einer Sekunde verwandelte er sich in einen Eisblock mit der Temperatur des absoluten Nullpunkts.

Mitarbeiter des Instituts öffneten am nächsten Vormittag die Tür des Apartments, nachdem man vergeblich auf Hendricks Erscheinen gewartet hatte. Man fand etwa 80 Liter Schleim, der später als organisch identifiziert wurde. Und zwei benutzte Gläser.
 

brndmtzk

Mitglied
Hallo jon,
vielen Dank für die Hinweise.
Eine Anmerkung von mir zu einigen kritisierten Textstellen:

Er war nie ein besonders beherrschter Mensch gewesen....
und
Er hatte sich die Chance auf dieses Experiment geschaffen und dafür seinen letzten Gönner geopfert. ...
Diese Anmerkungen sollen die Hauptfigur charakterisieren. Als Einzelgänger der zur Not (im übertragenen Sinne) über Leichen geht.

Eine Ihrer Fragen war:
Warum ist er nervös, wenn die Ergbnisse seine These nicht widerlegen?

Er ist ehrgeizig und ein Perfektionist. Daher ist er nervös, weil seine Theorie nicht auf Anhieb bestätigt wurde. Er will den Erfolg und nicht nur das Ausbleiben des Misserfolgs.

Eine weitere Anmerkung Ihrerseits:
Er hatte sein Experiment nicht durchführen können?
Wenn ein Teil der Ausrüstung nicht funktioniert dann war es ihm nicht möglich, das Experiment vollständig durchzuführen. Das ist sein Standpunkt bzw. Begründung, um eine Wiederholung zu erreichen.

Und noch eine:
Wieso ist "Zeitversatz wegen 3-D-Darstellung" logisch?
Einige 3D-techniken beruhen darauf, zwei Teilbilder nacheinander (also mit Zeitversatz) auf dem Monitor anzuzeigen und durch Shutterbrillen abwechselnd nur dem linken oder dem rechten Auge zu zeigen. Der 3D-Eindruck ergibt sich aus den geringfügigen Unterschieden der Teilbilder. Diese Unterschiede können aber auch durch eine Bewegung des Monitors entstehen. Im beschriebenen Moment hat die Hauptperson einen Geistesblitz, da sie unterschiedliche räumliche und zeitliche Positionierung miteinander in Verbindung bringt.
Das muss jetzt nicht wissenschaftlich korrekt sein sondern nur als Anlass für eine plötzliche geniale Idee herhalten.

Nochmals Danke

Bernd
 

brndmtzk

Mitglied
Verärgert stieß Hendricks die Tastatur von sich. Sie krachte gegen den Fuß des Monitors, der bedenklich ins Wanken geriet. Durch seine Shutter-Brille sah er in diesem Moment nicht nur zwei Protonen, sondern sogar vier. Zusammen mit den anderen Teilchen auf dem Schirm erinnerte ihn das Bild an ein Gesicht mit einem großen, lachenden Mund.
Er schaffte es, die Brille abzulegen ohne sie dabei zu beschädigen. Eine Meisterleistung. Zumindest für ihn. In diesem Moment der Enttäuschung.
Er war nie ein besonders beherrschter Mensch gewesen. Sonst hätte er auch nicht die Gelegenheit zu diesem Experiment bekommen. Er hatte sich durchgeboxt. Bärtige Jünglinge aus dem Weg gedrängt, glubschäugige Vorzimmerdamen mit seiner cholerischen Art eingeschüchtert und Kontrahenten lautstark nieder diskutiert. Der moderne Wissenschaftsbetrieb eignete sich nun mal nicht für konsensfähige Weicheier.
Er hatte sich die Chance auf dieses Experiment geschaffen und dafür seinen letzten Gönner geopfert. Doch nun? Hoch gepokert, hoch verloren?
Nervös schaukelte er mit seinem Stuhl hin und her. Es musste ein Fehler der Sensoren sein. Die Messergebnissse waren Müll. Und deshalb konnten sie seine These nicht widerlegen. Genau genommen hatte er sein Experiment also gar nicht durchführen können. Vielleicht ließe sich mit dieser Begründung eine Wiederholung erreichen? Irgendwann?

* * *

Drei Monate später brütete Hendricks immer noch über den Daten des Experiments. Er hatte einen neuen Termin bekommen. In acht Monaten. Das war immer noch schneller als gedacht, denn der Beschleuniger war eigentlich auf Jahre hinaus ausgebucht. Bis dahin wollte er versuchen, aus den Rohdaten der missglückten Messung wenigstens etwas Brauchbares herauszufiltern.
Unmittelbar vor dem Auftreffen der beschleunigten Teilchen begann das Ziel-Proton zu zittern. Und dann erschienen auf den Sensoren plötzlich ein zweites Proton. Im selben Moment auch Bruchstücke der Kollision. Die noch gar nicht stattgefunden hatte.
Ein Echo in den Signalleitungen? Fehlerhafte Synchronisation der Sensoren? Ein Fehler in der Auswertungssoftware?
Vielleicht könnte er die Auswirkung des Fehlers auf die Messung herausrechnen, wenn er die Ursache fand. Es brauchte eine Lösung! Ohne Bestätigung seiner Theorie konnte er seine Laufbahn vergessen.
Immer wieder drängte sich das grinsende Gesicht in seine Gedanken, das ihm der wackelnde Monitor für einen Augenblick vorgegaukelt hatte. Bewegung des Bildes wegen der Vibration des Monitors und Zeitversatz der Bilder wegen der 3D-Darstellung. Logisch.
Zeitversatz! Das Wort ließ Hendriks nicht mehr los. Waren die Messwerte zeitversetzt? Das hatte er schon ausgeschlossen. War das Proton zeitversetzt? Hatte er die Zeitreise eines Protons beobachtet?
[ 5]Die folgenden Wochen vergrub sich Hendricks in seinem Labor. War es wirklich eine Zeitverschiebung? Wenn er beim nächsten Experiment die Zeitreise reproduzieren könnte, wäre das eine Sensation. Aber was hatte sie ausgelöst? Die einzige ungewöhnliche Beobachtung war das kurze Zucken des ersten Protons. Interferenzen von irgendwas? Gravitationswellen?
[ 5]Nach und nach formte sich in Hendricks Kopf eine Theorie. Er würde die Rahmenbedingungen des nächsten Experiments nur geringfügig ändern müssen, um die Theorie der Zeitreisen beweisen zu können.

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Hendricks gehörte nicht zu den Menschen, die von Selbstzweifeln geplagt wurden. Er war sicher, dass sein Versuch die Möglichkeit einer Zeitreise bestätigen würde. Die Versuchsanordnung war aufgebaut, die Computer programmiert. Es gab nichts, was jetzt noch verändert oder gar verbessert werden könnte. Was zu tun war, war getan. Er sah keinen Grund, im Labor zu bleiben. Mit flüchtigem Gruß verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern und ging.
[ 5]Für die Externen gab es einige Zimmer im obersten Geschoss des Institutsgebäudes. Klein, aber mit hübscher Aussicht. Nach 8 Monaten ununterbrochener Arbeit wollte Hendricks einen Abend genießen ohne an die Wissenschaft zu denken. Er besaß das Talent, den Alltag ausblenden zu können.
Entgegen allen Gesundheits- und Modetrends bevorzugte er Korn. Keinen Rotwein, keinen Whisky, keinen Cognac, und erst recht keinen Absinth. Guten, alten deutschen Roggenkorn. Jahre im Holzfass gelagert, leicht trüb, rund und herrlich aromatisch.
Es entsprach seiner Natur, mit niemandem mehr über seine Vorliebe zu sprechen. Oder gar zu einem Glas einzuladen. Zu groß war das Unverständnis, auf das er in der Vergangenheit gestoßen war.
Bedächtig goss er den Schnaps in einen Cognacschwenker und sah aus dem Fenster. Es war bewölkt. Doch durch eine kleine Lücke zwängte sich ein roter Strahl der untergehenden Sonne und ließ einen Teil des Himmels von unten her erglühen.
[ 5]"Ein seltener Anblick, nicht wahr?"
Hendricks nahm die Stimme wahr, aber er reagierte nicht. Nur langsam dämmerte ein ungutes Gefühl in ihm auf. Er war in seinem Zimmer. Er hatte hinter sich abgeschlossen. Er war allein. Wer zum Teufel...
Verblüfft drehter er sich um. Was vor ihm stand konnte er nicht wirklich als Menschen bezeichnen. Eher als Wesen. Schon irgendwie menschlich. Von der Grundstruktur her. Aber auch mitleiderregend. Krank. Abstrakt. Picassohaft.
"Wie kommen sie hier rein?"
Hendricks war es in diesem Moment völlig egal, wer da vor ihm stand. Wissenschaftler fragen anders als normale Menschen. Und ihn interessierte vor allem, wie dieses Wesen durch die verschlossene Tür in sein Zimmer gelangt war.
"Das sollten Sie doch ahnen, Dr. Hendricks." Trotz seines fratzenhaften Aussehens konnte Hendricks das ironische Lächeln in diesem fremdartigen Gesicht nicht übersehen.
"Durch die Zeit natürlich. Nicht durch die Tür. Genau genommen bin ich schon länger hier und sie sind zu mir gestoßen. Mitsamt ihrem Zimmer, diesem herrlichen Sonnenuntergang und ihrem Schnaps. Und dem ganzen Rest."
Hendrick erstarrte. Für einen Moment hatte er an einen schlechten Scherz seiner Kollegen geglaubt. Niemand mochte ihn wirklich und ab und zu ließen sogar emotionsarme Wissenschaftler ihren negativen Gefühlen freien Lauf. Aber niemand wusste von seiner Zeitreise-Theorie. Er hatte niemanden informiert, nichts angekündigt. Auch aus der Versuchsvorbereitung konnte man nicht darauf schließen.
[ 5]"Woher...".
"Ich erkläre es Ihnen sofort. Aber wenn Sie zunächst so freundlich wären..." Er deutete auf das Glas in Hendricks Hand. "Bei uns ist so etwas Mangelware. Eigentlich mangelt es an allem, nicht nur an solchen Köstlichkeiten."
Hendricks füllte ein zweites Glas und reichte es seinem Besucher. Er zuckte zurück, als sein Blick auf die verformten Finger fiel, die sich dem Glas entgegen streckten.
Der Fremde nahm es gelassen.
"Wie gesagt, ich erkläre es Ihnen sofort. Aber lassen Sie uns zuerst anstoßen."
Hendricks prostete ihm zu doch ihre Gläser berührten sich dabei nicht. Er hätte es nie zugegeben. Aber in diesem Moment brauchte er den Schnaps wie nichts anderes in der Welt. Er kippte das ganze Glas in einem Zug hinunter.
[ 5]"Setzen wir uns." schlug er vor.
Der Fremde nippte nochmals an seinem Glas und setzte es ab. Hendricks schenkte sich nach.
"Es wird also funktionieren?"
Ein stummes Nicken war die Antwort. Doch er fand im Blick seines Gegenübers keine Euphorie. Nur Trauer. Abgrundtiefe, endlose Trauer.
"Ja, es wird funktionieren. Deshalb bin ich hier."
Urplötzlich wurde Hendricks euphorisch.
"Na dann schießen Sie mal los."
"Ich hoffe, das wird nicht nötig werden." Hendricks entging, dass der Mann bei diesen Worten nicht lächelte. Er lehnte sich zurück und lauschte.
"Sie haben mit Ihrer Vermutung recht. Raum erfordert Zeit und Zeit erfordert Raum. Man kann eines auf Kosten des anderen überwinden. Die Wissenschaft wird diesen Zusammenhang theoretisch schlüssig beweisen. In 200 Jahren. Vorher wird es die Voraussetzungen einfach nicht geben."
Hendricks nickte vor sich hin. Ja es stimmte. Er hatte eine Vermutung und wusste, wie man sie experimentell bestätigen konnte. Aber er hatte absolut keine Ahnung, warum das alles so war.
[ 5]"Eigentlich benötigt man unvorstellbare Energiemengen für eine Manipulation der Zeit. Zumindest in unserem Universum. Die Wissenschaftler nach Ihnen haben lange gerätselt, wie Sie diese Energie überhaupt bereitstellen konnten. Bis schließlich die Theorie der Gravitationswellen die Lösung brachte. Sie überkreuzen sich. Genau hier, genau zu diesem Zeitpunkt. Es gibt Überlagerungen, extreme Stauchungen und Dehnungen im Raumzeit Gefüge, in winzigen, subatomaren Dimensionen. Aber auch in ungeahnter Stärke. Für die Zeitreise eines Protons reicht die Energie aus."
[ 5]Die Traurigkeit seines Blicks schlug sich jetzt auch in seiner Stimme wieder. Wortlos bittend reichte er Hendricks das Glas, das dieser bereitwillig nachfüllte. Gierig nach den nächsten Informationen sah er seinen Gesprächspartner an.
"Genau diese Wellen haben vor 8 Monaten eine extreme Dehnung des Raums bewirkt, genau dort wo sich ihr Proton befand. Und sie haben es bemerkt. Und ihre Schlüsse gezogen."
Bedächtig nahm er einen weiteren Schluck.
"Die Wahrscheinlichkeit für all das ist extrem niedrig. Eine Zahl mit noch höherem Exponent als es Teilchen im Universum gibt. Aber es ist geschehen."
Hendricks stutzte. "Soll das heißen, dass die Raumpulsationen nicht ständig auftreten? Es war alles ein Zufall?" Er bekam plötzlich Angst, sein Experiment nicht reproduzieren zu können.
"Im Prinzip treten sie ständig auf. Überall. Nur eben nicht so stark wie hier und jetzt. Ein Jahr früher oder ein Jahr später und wir wären uns nie begegnet."
Hendricks atmete auf.
"Aber es gibt nun mal unendlich viele Zeitlinien im Universum. Jedes Ereignis, so unwahrscheinlich es auch ist, wird sich auf einer von ihnen irgendwann ereignen. Und wir beide haben mit unserer Zeitlinie leider den schwarzen Peter gezogen, wie Sie es zu ihrer Zeit so schön formulieren."
[ 5]Der Verlauf des Gesprächs gefiel Hendricks nun gar nicht mehr. Der Fremde machte nicht den Eindruck, als wolle er zur Entdeckung der Zeitreisen gratulieren. Ihn umgab eher die Aura eines Anklägers.
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Ich will, damit sagen, dass Ihre Entdeckung 200 Jahre zu früh kommt. Mindestens. Ihr Experiment wird morgen die Möglichkeit von Zeitreisen bestätigen. Und Ihnen natürlich den Nobelpreis einbringen. Leider wird Ihre Theorie dazu rudimentär bleiben. Sie werden deshalb auch nichts von den katastrophalen Folgen ahnen."
Jetzt dämmerte Hendricks, worauf sein Besucher hinaus wollte.
[ 5]"Nein!"
Nein, er würde seinen Versuch nicht abbrechen. Um nichts auf der Welt würde er auf den Ruhm verzichten, die Zeitreise entdeckt zu haben. "Wir können später korrigieren. Sie wissen, was falsch gelaufen ist. Wir können es ändern!"
Der Mann aus der Zukunft schüttelte den Kopf. "Dieses eine Experiment morgen ist bereits eines zuviel. Der Effekt wird viel stärker ausfallen als Sie vorausberechnet haben. Die Gravitationsinterferenzen. Sie sind morgen viel stärker als vor 8 Monaten. Sie verstehen?"
Er wartete Hendricks Antwort nicht ab.
"Jede Zeitmanipulation löst Verwerfungen der Raumzeit aus. Sie schaukeln sich auf. In 200 Jahren wird man so weit sein, dass man die Theorie entwickelt und die Folgen erkennt. Man würde auf Experimente verzichten. Aber der Zufall hat es so gewollt, dass in unserer Zeitlinie zuerst das Experiment kommt."
Er streckte Hendricks seine Hände entgegen. Verformte Finger. Verdreht. Übereinander liegend. Knotige Gelenke, fleckige, schuppige Haut. Fingernägel wie Krallen, gelblich, schwarz unterlaufen.
"Der Rest meines Körpers sieht nicht besser aus. Die Wellen in der Zeit haben Einfluss auf die Materie. Destruktiven Einfluss. Und belebte Materie reagiert besonders empfindlich."
[ 5]Hendricks schluckte. "Aber wenn ich meine Entdeckung nicht mache verändere ich die Zukunft. Jeder drittklassige Science Fiction Roman warnt davor. Sie würden gar nicht geboren werden. Es gäbe Sie gar nicht."
Der Fremde nickte. "Richtig. Genau deshalb bin ich hier. Verändern Sie unsere Zeitlinie! Wir wünschen uns, nie geboren zu werden. Nicht in dieses Leben, das wir leben müssen."
[ 5]Verwirrt sank Hendricks in seinen Sessel zurück. "Das geht nicht. Ich kann das nicht. Ich will das nicht!"
"Sie müssen." erwiderte der Fremde. Ohne zu fragen schenkte er sich selbst nach.
Die Gedanken in Hendricks Gehirn kreisten auf Hochtouren. Langsam sortierte er die Fakten. "Wenn ich das Experiment nicht durchführe dann wird es keinen Anlass für Ihre Zeitreise geben. Aber Sie sind hier. Das ist unlogisch."
"Sie haben das Problem erkannt. In der aktuellen Version dieser Zeitlinie werden sie Ihr Experiment auf jeden Fall durchführen."
Er griff zum Glas und leerte es in einem Zuge.
Hendricks begriff den letzten Satz und erstarrte.
[ 5]Das kleine Kästchen, das der Fremde aus der Tasche zog sah nicht aus wie eine Waffe. Eine Technologie, die irgendjemand irgendwann in der Zukunft für einen ganz anderen Zweck erfinden würde entzog Hendricks Körper sämtliche Energie. Auf atomarer Ebene. In Bruchteilen einer Sekunde verwandelte er sich in einen Eisblock mit der Temperatur des absoluten Nullpunkts.
[ 5]Mitarbeiter des Instituts öffneten am nächsten Vormittag die Tür des Apartments, nachdem man vergeblich auf Hendricks Erscheinen gewartet hatte. Man fand etwa 80 Liter Schleim, der später als organisch identifiziert wurde. Und zwei benutzte Gläser.
 



 
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