Ein Alptraum

hein

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Vorbemerkung des Autors:

Den ersten Teil dieser Geschichte habe bereits früher unter dem Titel „Die Höchststrafe“ hier eingestellt. Damals erschienen mir die folgenden Absätze doch ein wenig zu weit hergeholt.

Inzwischen habe ich das Buch „Permanent Record“ von Edward Snowden gelesen und musste feststellen, dass meine Phantasien noch weit hinter der Realität zurückbleiben.

Auf die Gefahr hin, dass ich in Zukunft wohl kein Visum für die USA mehr erhalten werde, hier der vollständige Text:



Ein Alptraum

Neulich abends fiel es mir zum ersten Mal richtig auf: alle Lichter im Haus waren gelöscht, und trotzdem konnte ich mich bequem orientieren. LED an allen Ecken und Enden: Radio, Fernseher, Computer, Telefon, Zahnbürsten und ich weiß nicht was sonst. Alleine im Hauswirtschaftsraum dreizehn! Punkte: Breitbandanschluss, Fritz-Box, Heizung, Gaswarner… . Wenn Greta das wüsste würde ich wohl laufend Besuch von den Friday-Kids bekommen.

Als ich dann im Bett lag löste sich eine Frage aus der Tiefe meines Gehirns: wieso blinken da noch einige Lichter am Breitbandanschluss? Läuft da noch was? Kann doch nicht sein, ist doch nichts mehr aktiv! Sind die Geräte auf Standby denn nicht aus? Was könnte es sein?

Der Fernseher? Hat der arme Mensch in Korea denn noch keinen Feierabend gemacht? Diese bemitleidenswerte Kreatur mit der einzigen Aufgabe, ein durchschnittliches mitteleuropäisches Ehepaar mit Kamera und Mikrofon zu beobachten? Der trotz einem Diplom in Germanistik nichts von der mageren, in einer unverständlichen Sprache geführten Unterhaltung zwischen den beiden vor dem Fernseher hindämmernden Personen verstehen konnte?

Sein Report dürfte wohl mal wieder dürftig ausfallen sein: verschlüsselte Kommunikation zwischen den Zielpersonen erzeugen einen Verdacht, der aber durch die sonstigen Umstände (Schläfrigkeit; ordinäres Fernsehprogramm) nicht vertieft wird. Empfehlung: weitere Beobachtung, aber möglichst durch einen anderen Sachbearbeiter.

Zufrieden mit dieser Erklärung war ich gerade am wegduseln als mir ein neuer Gedanke durch den Kopf schoss: die Chinesen! War ein aufmerksamer Aufklärer in einem anspruchsvollen literarischen Forum auf einige meiner mehr oder weniger qualitativ hochwertigen Ergüsse aufmerksam geworden? Beleidigte dieses obskure Schrifttum das chinesische Volk, beeinträchtigte es gar die nationale Sicherheit, oder war es zumindest kommerziell interessant?

Um dies zu überprüfen wären sie sicher in der Lage, meinen Rechner zu hacken und meine bisher noch nicht veröffentlichten Gedanken zu analysieren. Hatten sie bereits diese neue, für die Rubrik „Lust und Liebe“ vorgesehene Geschichte, gefunden?

Ich stellte es mir so vor: da sitzt nun jemand aus dem Millionenheer der Analysten, quält sich durch die vielen unbedeutenden, teilweise abrupt wegen Sinnlosigkeit aufgegebenen Schriften und landet schließlich bei dem Beitrag für „Lust und Liebe“. Diese Ausführungen werden von ihm eingehend und mit hohem persönlichem Einsatz, der bis zu einer manuellen Betätigung in der Hose reicht, studiert. Sein Bericht an die Staatsführung endet mit der Empfehlung: „keine Gefahr, aber möglicherweise kommerziell interessant; man sollte probehalber eine minimale Auflage von einer Million Exemplaren drucken“.

Bereits kurz vor dem Tiefschlaf dann noch ein schockierender Blitz: die Amerikaner! Hatte ich nicht leichtsinnigerweise in einem Mail an meine Tante in Amerika das Wort „Explosion Box“ fallen lassen? Hatte die automatische Überwachung dies mitbekommen und nicht kapiert, dass es sich hierbei lediglich um eine simple Bastelei aus Pappe handelte? War jetzt die NSA hinter mir her? Wurde jeder geschriebene Gedanke von mir direkt in die krakenhaften Datensammlungen dieser eigentlich befreundeten Nation gespiegelt? Hatte dort ein Algorithmus in dem peinlichen Beitrag die Worte „lang, dick, ausdauernd, sehr befriedigend“ gefunden und dies dann auch noch in seiner täglichen Zusammenfassung der staatsgefährdenden Ergebnisse erwähnt? Eine abstruse Vorstellung.

Unausgeschlafen und gerädert erinnerte ich mich am nächsten Morgen nur noch wage an die Alpträume der vergangenen Nacht: verfolgt von Koreanern, Chinesen und Amerikanern (wieso keine Russen?) hatte ich versucht, über die Grenze nach Dänemark zu fliehen. Dabei war ich aber an dem neuen, das Land vor unseren verseuchten Wildschweinen schützenden, Zaun gescheitert. Das weitere Geschehen verschwindet in den nebulösen Weiten meines strapazierten Hirns.

Am Frühstückstisch schlürfte ich gerade den ersten Kaffee des Tages und lauschte - noch im Halbschlaf und nur mit halbem Ohr - den Nachrichten im Radio.
Aber so viel verstand ich doch: ohne erkennbarem Grund hatte der PROTUS die Zölle auf deutsche Autos vervielfacht. Außerdem rätselte man über den neuesten Tweet des @realDonaldTrump: „ICH habe den Längsten und Dicksten, ICH bin am Ausdauerndsten, und noch JEDE war mit MIR zufrieden!“.

Als ich den Sinn dieser Nachricht endlich begriffen hatte nahm ich ohne Umschweife meinen Laptop, legte ihn unter den Vorderreifen meines Autos und fuhr einige Male darüber. Dann warf ich ihn in den nächsten Teich. Ab sofort werden nur noch Briefe geschrieben!

Nur dem guten Mann in Korea bieten wir noch jeden Abend die Gelegenheit, uns in bequemer Lage zu betrachten und anhand unserer spärlichen Äußerungen eine weitere fremde Sprache zu studieren.



(Nach einiger Zeit löste ein Whistleblower das Rätsel um diesen ominösen Tweet: bereits im Bett und mit dem letzten Hamburger des Tages in der Hand hatte der PROTUS noch den aktuellen Geheimdienstbericht überflogen. Einiger Schlüsselworte hatten ihn so in Aufruhr versetzt das er prompt die Umprogrammierung der Zielkoordinaten einiger Atomraketen auf einen kleinen Ort im nördlichen Deutschland befahl. Den Feuerbefehl konnte ihm aber ein mit minimalem Restverstand versehener Lakai gerade noch ausreden. Als Kompensation dafür wurde die Sache mit den Zöllen angeregt. Den bekannten Tweet hatte der Oberbefehlshaber dann persönlich - und ausnahmsweise ohne größere Turbulenzen in der Rechtschreibung – formuliert und verschickt.)



Nachsatz des Verfassers: die Veröffentlichung dieses Beitrages erfolgt über den Account eines (nicht so lieben) Kollegen. Die genauen Zielkoordinaten seiner Privatwohnung werden bei Bedarf gerne nachgereicht.
 



 
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