Ein anderer Morgen Kurzgeschichte

Rupert Davis

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Mit den letzten Schritten zur Tür verschwand die Zielstrebigkeit aus den Schritten. Er baute sich vor ihr auf, fixierte mit den Augen die Klinke, mit den Gedanken die Angst. Was wird hinter dieser Tür sein? WER wird hinter dieser sein? Und wie würden sie über ihn urteilen?
Es gibt nur einen Weg. Er verdrängte die Angst, gab sich seinen Erwartungen hin und erlaubte es sich für einen Moment zu träumen. Er drückte die Klinke hinunter und trat in den Raum...
...Hallo, da bin ich und ich bin neu!
Ich will euch jetzt nicht lange mit meinem Lebenslauf nerven (ganz neugierige dürfen gern an rupertdavis@web.de
schreiben und mich ausquetschen!) und euch erst einmal mein erstes hier veröffentlichtes Werk vorstellen, das ihr gleich geniessen und natürlich auch nach herzenslust zereissen könnt. Ich freu mich aber auch über positive Kritik.
Aber nun viel Spaß...


Ein anderer Morgen

Nein, Ja, Nein, Nein, Ja, Nein, Nein.
Wie jeden morgen war er um Punkt sieben Uhr aus seinem tiefen, ereignislosen Schlaf erwacht. Wie jeden morgen hatte er sich gleich darauf in die kleine Erfrischungszelle des Doppelzimmers begeben und sich gewaschen. Und wie jeden Morgen hatte er danach sein Bett in Ordnung bringen wollen, doch an diesem Morgen war etwas sehr merkwürdiges passiert. Ein kleiner Zettel hatte unter dem schmalen Türspalt hervorgelugt.
Jetzt saß er nun schon seit fast einer dreiviertel Stunde mit dem Zettel in der Hand auf seinem ungemachten Bett und starrte auf die kryptischen Symbole, die jemand mit einem Kugelschreiber darauf gemalt hatte. Er verstand ihren Sinn nicht und er konnte ihn bislang auch nicht deuten, alles was er erkannte waren unregelmäßige Wiederholungen der gleichen Zeichen, ja sogar Wiederholungen der gleichen Zeichenfolgen. Aber bis zu diesem Moment hatten ihn all seine Überlegungen zu keinem Ergebnis geführt. Dann, plötzlich, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Es waren Worte! Er war überwältigt von der Idee, Worte, etwas, das man sagen konnte, einen Laut, in gemalte Zeichen zu verwandeln. Zeichen, die man sehen und wieder in Worte verändern könnte. Diese Entdeckung schien den Horizont seiner Vorstellungskraft ins unendliche explodieren lassen zu wollen. Er war noch nie im Leben so aufgeregt gewesen. Wenn man Worte malen konnte, und gemaltes Worte waren... Er war nämlich selbst ein Künstler.
Aufgewühlt rutschte der kleine Junge von seiner Matratze herunter. Bis auf die Tatsache, dass er keine Haare hatte, erweckte er in seinem weißen, schmucklosen Overall den Eindruck eines kerngesunden, prächtig entwickelten Zwölfjährigen. Seine Arme verschwanden unter der Matratze, die auf einem einfachen Stahlgestell lag und erschienen kurz darauf wieder mit einem kleinen Papierstapel und einem roten Filzschreiber. Er hatte diese Dinge vor ein paar Tagen, aus einem Impuls heraus, bei seiner letzten medizinischen Untersuchung vom Schreibtisch des Doktors mitgenommen. Er kletterte wieder auf sein Bett und begann die bemalten Zettel vor sich auszubreiten, verfiel in eine apathische Haltung und sortierte sie alle nach bestimmten Kriterien. Bilder mit vorwiegend runden Linien auf einen Stapel, Bilder mit gezackten Linen auf einen anderen und Bilder, bei denen er versucht hatte, Gegenstände zu malen auf einen dritten. Eins legte er einzeln beiseite. Es war ein Selbstbildnis. Er hatte einen ganzen Tag lang damit zugebracht, sein Gesicht abzutasten um die Form mit dem roten Filzer auf das Papier zu übertragen. Letztendlich war er mit seinem Werk sehr unzufrieden gewesen und selbst sein Zimmergenosse, der bis gestern noch das Bett auf der gegenüberliegenden Seite belegt hatte, hatte ihm gesagt, dass es kaum so aussah wie er selbst. Aber ganz besonders ärgerten ihn die kleinen eingedrückten Punkte und verschmierten Linien, die jedes Mal entstanden waren, wenn er beim Zeichnen die Zeit vergessen hatte und er plötzlich die Schritte der Wärter vor der Tür gehört hatte. Er wusste nicht, ob er etwas verbotenes tat, aber er glaubte es sei besser, die Bilder vor ihnen zu verstecken. Bisher hatten sie nichts entdeckt.
Zufrieden betrachtete er die roten Bilder. Die Farbe des Stiftes und die Formen, die er damit malen konnte, faszinierten ihn mehr als alles andere in seinem Leben. Die roten Linien auf seinen Bildern waren die einzige Farbe, die er kannte. Sein ganzes Zimmer und auch die wenigen Räume, in denen er bisher sonst gewesen war, waren kalkweiß gestrichen. Sein Overall war weiß und ebenso seine Bettwäsche. Das Gestell seines Bettes schimmerte im matten Glanz unbehandelten Metalls. Schimmerte im gleißenden Licht der strahlend hellen Deckenleuchte. Dies und die kleine Waschnische waren seine Welt. Das war alles, was er kannte. Das und sein Traum, immer bessere und schönere Bilder zu malen. Er löste sich von seinem Traum und starrte wieder auf den mysteriösen Zettel.
Und plötzlich traf ihn die Erkenntnis ein weiteres Mal.
»Ja!«, rief er aus. »Nein!«, murmelte er.
Die Zeichen auf dem Zettel waren Antworten, Antworten für...
Er schreckte auf. Der Test! Heute war sein letzter Test. Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, wie lange er schon wach war. Die Wärter könnten jeden Moment kommen und ihn abholen. Gestern waren sie da gewesen und hatten seinen Zimmergenossen geholt. Wenn sie die Bilder entdeckten! Hastig kramte er sie und den roten Stift zusammen, stopfte alles wieder unter die Matratze und machte in Windeseile sein Bett. Nur den fremden Zettel behielt er noch in der Hand. Als er mit allem fertig war setzte er sich ordentlich auf die Bettkante und las die Zeichen laut ab. »Nein, Ja, Nein, Nein, Ja, Nein, Nein.« So war es richtig, genauso musste es sein. Es waren die Antworten für den Test. Er sagte sie noch einmal auf und versuchte sie sich zu merken. Und noch einmal und noch einmal. Als draußen auf dem Gang dumpfe Schritte ertönten, stopfte er den Zettel hastig zu den anderen unter die Matratze. »Nein, Ja, Nein, Nein, Ja, Nein, Nein.«, wiederholte er noch einmal flüsternd um sicherzugehen, dann öffnete sich die Tür.


Dan Hosanna ließ seinen massigen Körper in den Bürosessel hinter seinem schweren Schreibtisch sinken. Die gelblichen Strahlen der Morgensonne drangen durch die dünnen Spalten der Lammellenjalousien hinter ihm und zerteilten den
düsteren Raum mit reglosen Kaskaden hellen Lichts. Es war Montag, und montags war es am schlimmsten. Missmutig, beinahe widerwillig aktivierte er das Flachbilddisplay auf seinem großen Schreibtisch. Seine Hände fuhren über das Holz. Es war gutes, teures Holz. Aber nach all den Jahren konnte ihn das ebenso wenig aufmuntern wie der komfortable Ledersessel. Auch das unverschämt hohe Gehalt, das er für seinen einfachen Job bekam, tröstete ihn mittlerweile über nichts mehr hinweg. Aber er bekam das Geld auch nicht für den Job den er tat, er bekam es für seine Moral, sein Gewissen, für seine Seele, die er verkauft hatte.
»Leiter der Qualitätskontrolle«. Das war es, was er zu antworten pflegte, wenn man ihn nach seinem Beruf fragte.
»In welchem Bereich denn?«, war dann häufig die nächste Frage. »Wissenschaftlich!«, entgegnete er für gewöhnlich. Das ersparte ihm weitere Detailfragen.
Ein dumpfer Signalton riss ihn aus seinen trübseligen Gedanken. Sein Rechner war bereit und auf dem Flachbildschirm leuchtete seine heutige Auftragsliste auf. Es gab wieder 68 Entscheidungen zu treffen. Zwar galten dabei vorgeschriebene Kriterien, aber es gab immer gewisse Grauzonen und somit war es letztendlich immer irgendwie seine Entscheidung, seine Schuld. Aber vielleicht würde es heute besser werden, vielleicht würde er heute einen richtig guten Tag haben. Unauffällig kontrollierte er den großen Schubladenschrank unter seinem Schreibtisch, aber er war immer noch verschlossen.
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine düstere Miene, das seinem von Gramfalten zerklüftetes Gesicht einen grotesken Ausdruck verlieh. Es war keine Freude, aber zum erstenmal, seitdem er diesen Job hatte, war er gespannt darauf, was an diesem Tag passieren würde. Er warf einen Blick auf die Uhr. Sein erster »Prüfling«, wie er sie nannte, sollte bereits auf dem Weg zu ihm sein. Er fand, es klang persönlicher und machte seinen Job erträglicher. Es dauerte keine zwei Minuten mehr, bis sich die schwere Tür gegenüber seinem Schreibtisch öffnete und sein Arbeitstag begann.
»Komm herein!«, sagte er mit tiefer, freundlicher Stimme.
Ein kleiner, haarloser Junge in einem weißen Overall trat durch die halb geöffnete Tür in den von Lichtstrahlen durchzogenen Raum. Helle Linien legten sich über seinen Overall. Seine Blicke strichen durch den Raum, musterten den großen Schreibtisch, den gewaltigen alten Mann dahinter, den breiten Sessel davor und wechselten schließlich neugierig zwischen den beiden großen Türen hin und her, die den Raum flankierten. Dan wusste, was sich hinter diesen beiden Türen befand, deshalb positionierte er sich auch stets so an seinem Schreibtisch, dass die rechte Tür außerhalb seines Blickfeldes lag. Aus seiner Sicht konnte er sie verbannen, aber nicht aus seinen Gedanken.
»Setz dich!«, sagte er höflich und deutete auf den großen Sessel vor seinem Schreibtisch. Er sah den Jungen nicht an. Seine Augen waren zwar auf ihn gerichtet, aber er sah mehr durch ihn hindurch. Er wusste ohnehin wie er aussah. Der Junge rutschte auf den viel zu großen Sessel.
»Leg bitte deine Hand auf die Metallfläche«, bat Dan ihn und er gehorchte. Auf seinem Bildschirm erschien eine Nummer, die in dem winzig kleinen Chip gespeichert war, den der Junge unter der Haut seiner rechten Handfläche trug. Dan verglich die Nummer mit der ersten seiner Auftragsliste und bestätigte die Übereinstimmung auf dem Touchscreen. Dann räusperte er sich und wandte sich dem Jungen zu. »Bist Du aufgeregt?«
Der Junge zuckte innerlich zusammen. Nein, ja, nein, nein, ja, nein,
nein, hatte er in Gedanken immer wiederholt. Die Antworten für den Test. Aber war dies schon die erste Frage? Hatte der Test schon begonnen? Natürlich war er aufgeregt. Er wusste nicht, was mit ihm passieren würde, er wusste nur, dass er nicht mehr in sein Zimmer zurückkehren würde. »Nein«, antwortete er ausdruckslos. Dans Stirn zog sich immer weiter zusammen, in den Sekunden die vergingen, bis der Junge endlich geantwortet hatte. Die Prüflinge sollten die Fragen einfach nur beantworten, wenn sie erst noch darüber nachdachten, dann waren sie schon durch das enge Raster von Testkriterien gefallen. Diesmal war es knapp gewesen.
»Weißt Du, wie viel drei und drei sind?« Dies war eine Frage, über die er nicht nachdenken musste, natürlich wusste er es. Er hatte den Mathetest mit Bravour bestanden. Es waren...
Im letzten Moment hielt er sich zurück, das Ergebnis zu sagen. »Ja«, antwortete er stattdessen. Der dicke Mann hinter dem Schreibtisch nickte und berührte mit einer Hand seinen Bildschirm. »Hast Du einen Traum?«, fragte er dann. Der Junge konnte sich gerade noch beherrschen aus einem Impuls heraus zu nicken. Natürlich hatte er einen Traum, er wollte Künstler werden, er wollte Bilder malen. Aber der
Zettel der unter seiner Tür hervorgelugt hatte, sagte etwas anderes, also antwortete er: »Nein.«
»Denkst Du oft nach?«
Pausenlos. »Nein.«
»Warst Du bei allen medizinischen Untersuchungen?«.
Er wusste nicht genau, wie viele »alle« waren. »Ja«, antwortete er.
Dan nickte zufrieden. Der Junge hatte die zweite Falle im Test gemeistert, die freies Denken enttarnen sollte. Jeder andere hätte sich nämlich zuerst erkundigt, wie viele
es gewesen sein müssten.
»Haben sie Dir Angst gemacht?« Die Ärzte, die unheimlichen Maschinen mit ihren Kabeln, Sensoren und Nadeln. »Nein.«
»Hast Du Dich schon einmal gefragt, wie Du aussiehst?«
Es war die erste Frage, die er sich selbst gestellt hatte und der Junge wunderte sich, warum der Mann gerade das wissen wollte. Einen Moment zweifelte er an den Antworten auf dem Zettel, rang sich dann aber doch zu einem »Nein« durch.
Dan nickte und sein Gesicht verzerrte sich zu einem schmalen Lächeln. Schon das zweite Mal an diesem Morgen. Der erste Prüfling hatte den Test bestanden und alle sieben Fragen richtig beantwortet. Eine falsche Antwort und er wäre durchgefallen. Er hatte keine Emotionen, befolgte seine Anweisungen wörtlich und er hatte weder ein Bewusstsein, noch ein Ich-Bewusstsein entwickelt. Das war es jedenfalls, was den Wissenschaftlern an diesem Test wichtig war. Dan hatte keine Ahnung, wie sie diese Dinge genau herleiteten, er war nur dazu da, die Fragen zu stellen und die Antworten in das Raster einzutragen. Und, entsprechend des Ergebnisses, die Jungen durch die rechte oder durch die linke Tür hinauszubitten.
»Sehr gut, Du hast bestanden« Dan deutete mit erlöster Miene auf die linke Tür. Eigentlich war es ihm verboten, mehr als nötig zu sagen. Aber er sagte es immer so, auch wenn der Prüfling nicht bestanden hatte und durch die rechte Tür gehen musste.


Was war nur geschehen? Er starrte auf den Bildschirm vor ihm. Zahlenreihen, Diagramme, Texte und Bilder liefen in unglaublicher Geschwindigkeit darüber. Die Manschette, die man ihm um den Kopf geschnallt hatte, drückte und sein Kopf schmerzte aufgrund der unzähligen Informationen, die im Millisekundentakt in ihn hineingepumpt wurden. Er schaffte es kaum noch, klar zu denken. Es kostete ihn Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Es fühlte sich an, als würde etwas sein Gehirn auffressen wollen. Er konnte sich kaum noch an den Test erinnern, den er absolviert hatte. Die Fragen, die Antworten und was danach geschehen war. Immer mehr wurden seine Gedanken von den neuen Informationen in die Ecke gedrängt und er spürte, wie er immer mehr von ihnen verlor. Kernphysik nahm ihren Platz ein, dann folgte Chirurgie. Was sollte er damit anfangen?
Ein rotes Diagramm blitzte auf dem Bildschirm auf. Rot! Es gab noch so viel mehr Farben auf diesem Monitor und sie peitschten ihn aus. Wann lernte er zu malen? Seine Augen tanzten den fliegenden Zeilen auf dem Bildschirm hinterher. Sie tanzten und er hatte Mühe sie zu stoppen. Er kämpfte gegen den Zwang an. Es bereitete ihm immer mehr Qualen. Er glaubte innerlich zu zerreißen. Mit einem verzweifelten Aufbäumen aller Kraft gelang es ihm, die Augen zu schließen. Der Schmerz explodierte, er wollte schreien, doch er hatte keine Gewalt über seine Stimme. Die Informationen schlugen weiter auf ihn ein, schlichen sich direkt in seine Gedanken, aber sie überfluteten ihn nicht mehr so heftig. Er öffnete die Augen, starrte über den Monitorrand. Ein gequältes Lächeln huschte über sein Gesicht. Tatsächlich, er war es. Sein Zimmergenosse. Seine Augen zuckten, starrten auf den
Monitor vor ihm, zuckten hin und her, flimmerten beinahe in ihrer schnellen Bewegung. Auf seinem Kopf klemmte dieselbe Manschette, die er auch trug. Kleine bunte Dioden blinkten an ihr. Er wollte ihn auf sich aufmerksam machen, wollte ihm zuwinken, aber seine Hände waren festgeschnallt.
»Hey!«, rief er ihm zu, aber er reagierte nicht. »Hallo!«, versuchte er es noch mal. Erfolglos. Er beobachtete ihn eine Weile, während die Informationen weiter in sein Gehirn flossen. Er war bereits bei Gentechnologie angekommen und sein Traum, Künstler zu werden, bröckelte Stück für Stück. Verzweifelt drehte er seinen Kopf nach links. Da war er wieder! Sein Zimmergenosse. Aber...? Sein Kopf ruckte wieder zurück und musterte den Jungen auf der gegenüberliegenden Seite. Das war er auch. Sie sahen gleich aus! Wie konnte das sein? Sein Blick huschte verwirrt zwischen den beiden hin und her, dann sah er nach rechts. Und da saß er auch. Er beugte sich etwas vor. Es war eine ganze, nicht enden wollende Reihe. Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Bildschirme in beiden Richtungen und auf der anderen Seite und auch noch dahinter. Alle saßen sie konzentriert davor. Alle sahen sie
so aus wie sein Zimmergenosse. Plötzlich durchfuhr ihn ein Schmerz, den er bisher noch nicht kannte. Es stach nicht, es brannte nicht und es pochte auch nicht. Es war ein Schmerz in seinen Gedanken. Plötzlich glaubte er zu wissen, wie er selber aussehen musste, plötzlich begriff er, dass sich sein Traum nie erfüllen würde. Er würde vernichtet werden, aber ein Teil von ihm würde für immer dableiben. Dableiben und diesen fremden Schmerz verursachen. Er wünschte sich, nie geboren zu sein, wünschte sich auf der Stelle zu sterben, aber er war gefangen.


Der letzte Prüfling verschwand durch die linke Tür und Dan Hosanna ließ sich erleichtert in seinen luxuriösen Sessel zurückfallen. Sein Gewissen fraß sich durch seine Seele, wandte sich wie eine Schlange in seinen Eingeweiden und wilderte. Auf seinem Bildschirm verschwand die Liste mit den Seriennummern der heutigen »Erzeugnisse«. Er spürte, dass er diesen Job nicht mehr lange durchhalten würde. Es waren keinen defekten Radios, die er aussortierte, es waren immer noch Menschen. Zumindest Lebewesen. Zu einem gewissen Teil wenigstens, auch wenn sie keine Persönlichkeit besaßen. Und wenn sie doch eine hatten, dann wurden sie aussortiert, umgebracht, vergast. Sein finsterer Blick fiel auf die rechte Tür, die aus seinem Raum herausführte. Einundzwanzig! Einundzwanzig Mal hatte er heute auf diese Tür deuten müssen. Einundzwanzig dieser Jungen hatte er dort hineingeschickt. Einundzwanzig hoffnungsvolle junge Leben beendet. Und das nur, weil sie Persönlichkeit besaßen. Dan verstand nicht, wieso man sie töten musste, aber er verstand, dass es falsch war. Trotzdem machte die Zahl ihm auch Mut. Einundzwanzig! Es waren weit weniger als die üblichen 50%, die er sonst Tag für Tag durch diese grausame Tür schicken musste. Er fühlte sich nicht viel besser, aber es war ein Anfang. Er beugte sich vor und seine wurstigen Finger wühlten in einer der Schubladen. Er nahm einen Umschlag heraus und erhob sich aus seinem Sessel. Die morgigen Klone sollten aus Trakt 35 kommen. Er würde also auf dem Nachhauseweg noch einen kleinen Umweg machen müssen. Etwas geduckt spähte er in den Umschlag hinein um den Inhalt zu überprüfen. Es waren viele kleine Zettel. Nein, Ja, Nein, Nein, Ja, Nein, Nein. Er lächelte.
 

TupperWal

Mitglied
Cool!

ich glaube, ich werde ein fan! :)

solides handwerk und richtig gut strukturiert!
mehr kann ich als laie leider nicht sagen... :(

ich freue mich auf mehr!!!

gruß
frank
 

Rupert Davis

Mitglied
Wow, danke!

hi tupperwal,

was heißt denn laie? wie lange kannst du schon lesen?
man muß ja kein autor oder deutschlehrer sein, um zu sagen was einem gefällt und was nicht.
weil (ich hab ein bisschen das gefühl, dass das oft ein wenig vergessen wird) die geschichten ja vielmehr von "laien" gelesen werden als von profis.
ansonsten wäre der buchmarkt wenig einträglich!

aber herzlicen dank, für dein positives feedback. so macht man doch gerne weiter! wenn du noch was dazu auf dem herzen hast, auch negativ, dann scheu dich bitte nicht es loszuwreden (laie hin oder her!).

viele grüße,

rupert

p.s.: kommst du eigentlich aus wuppertal?
 

Elli K.

Mitglied
Dem Lob kann ich mir nur anschließen!!

Die Geschichte hat mich gleich in ihren Bann gezogen, ist sehr spannend und lebendig geschrieben!

Daher fällt mir auch keinerlei konstruktive Kritik zu dem Text ein, ich finde ihn sehr gut, so wie er ist. :)

Zum Inhaltlichen habe ich mich gefragt, wie es sein kann, dass bei dieser absolut anregungsfreien Art der "Erziehung" (welch' Hohn!) überhaupt noch ein - und sogar vergleichsweise hoher! - Prozentsatz von "Persönlichkeiten" heranwachsen kann.
Aber das ist ja wohl auch gerade das Anliegen deiner Geschichte Das "Gute" und Eigenständige im Menschen auch und gerade in dieser inhumenen Klonwelt wenn schon nicht siegen, so sich doch wenigstens ansatzweise behaupten zu lassen. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt... Und Einfluß auf den Geist und das Denken zu nehmen, ist wohl - bisher! - noch die größte Hürde aller Gentechnologie - zum Glück!

Sehr schön! Mach weiter!! :)

Liebe Grüße,
Elli
 

Rupert Davis

Mitglied
irgendwo wirds schon her sein...

hallo elli,

herzlichen dank erstmal für deine kritik. freut mich das dir die geschichte gefällt.
und konstruktiv war sie allemal.
ich habe nämlich festgestellt, das sich die leser doch gerne und in erster linie auf den vorgeschobenen klonplott stürzen. das ist jetzt nichts falsches oder schlimmes, man nimmt sich das aus der geschichte was einen selber interessiert, oder was am augenscheinlichsten ist. aber ich habe hier einfach eine geschichte geschrieben, in der es um zwei menschen in völlig verschiedenen ausgangssituationen geht und um ihre dadurch beeinflussten träume.
der kleine junge steht gerade quasi erst vor der türschwelle zu seinem leben und hat alle möglichkeiten seine träume zu verwirklichen (so glaubt er das zumindest).
dan hingegen, ist in den konventionen seines lebens gefangen. er macht einen job den er verabscheut und versucht sich doch mit seinen geringen möglichkeiten ein stück weit einen traum zu erfüllen (den traum sein gewissen zu beruhigen), indem er diese zettelchen verteilt.
so ist das aus der sicht der firguren. der leser sieht es aber genau anders herum. der junge ist der gefangene und dan ist frei.
am ende der geschichte würde der junge das übrigens ebenso sehen. und wie ist er dorthin gelangt? richtig, durch den zettel den er von dan hat! er wäre getötet worden, hätte er den zettel nicht gehabt und zum schluß wünscht er sich ja lieber tod zu sein, als in dieser ewigen qual zu leben.
die träume zweier menschen sind hier kollidiert und werden fragwürdig.
hat dan ihm wirklich einen gefallen getan?

gehen wir mal in die metaebene.
der junge ist der traum, dan ist die realität und der test ist das leben. können wir unsere träume wirklich leben?
oder ist das leben zu konform, müssen wir uns so sehr seinen regeln unterwerfen, dass wir kaum platz für unsere träume haben??

das ist jedenfalls der (sehr) tiefgründige plott, der sich hinter der für sich schon interessanten ethischen frage des textes befindet. aber ich versuche einfach schon seit langen, texte zu schreiben, die eben diese beiden, eine "globale" und eine "persönliche" ebene in sich vereinen, damit sich der "intelektuelle" wie auch der "emotionale" seinen teil aus der geschichte ziehen kann.
(das heißt übrigens nicht, das intelektuelle nicht emotional und umgekehrt sein können. es geht hier nur um die art des lesens zu einem gewissen zeitpunkt.
du hast diese geschichte also auf die "intelektuelle"-weise gelesen und dich mit der frage, wie die persönlichkeit überhaut noch entstehen kann beschäftigt.

nun, ich glaube was das angeht, hab ich mich mal wieder auf die populärwissenschaftliche "das-wird-schon-irgendwie" these verlassen. aber, ich stells mir ungefähr so wie in einer computerchipfabrik vor, wo alles superhygenisch sein muß, aber eben noch viel schlimmer. und daher werden viele der genetischen schablonenabzüge (sind ja alle gleich) verunreinigt, oder das "persönlichkeitsblockende gen" funktioniert net mehr. oder es sind regelmäßige mutationen, die in jeder generation bei 50% der schablonen auftauchen, aber molekulargenetisch nicht ermittelt werden können. daher ja dann auch der test im nachhinein. naja, und sein traum künstler zu werden, der ja seine persönlichkeit quasi erst "geweckt" hat, entstand ja auch nur durch den roten filzer, den er aus einem plötzlichen impuls heraus vom schreibtisch der ärzte gestohlen hatte.

so, jetzt habe ich dich (und auch alle anderen die es sich atun) aber mal genug vollgetextet!

einen schönen tag noch und viele grüße,

rupert
 

Elli K.

Mitglied
Hi Rupert!

Also, zunächst einmal bin ich starr vor Ehrfurcht, wie jemand in der Lage sein kann, eine solche Abhandlung schon vor dem Frühstück zu verfassen!!

Seufz: Schon wieder werde ich als intellektuell bezeichnet(Ja, grins dir nur eins, Frank!! :p ).
Dabei habe ich die Geschichte ganz "emotional" nur als Geschichte gelesen, ohne mir über die Metaebene Gedanken zu machen.

Du hast es schon vertrackt ausgeheckt, diese Frage, wer denn jetzt frei und wer gefangen ist. Wirklich "frei" ist ja wohl keiner in der Story. Und der Junge mag den Dan vielleicht verfluchen - würde er aber tatsächlich Konsequenzen ziehen? Klon hin oder her: Der wohl stärkste Trieb aller Lebewesen ist der Überlebenstrieb, koste es, was es wolle und sei die Situation auch noch so ausweglos. Sollte der Junge erneut und diesmal selber entscheiden können, durch welche Tür er gehen will: Ich halte es für relativ unwahrscheinlich, daß er tatsächlich den Tod wählen würde.
Ein Blick auf alle vergangenen oder gegenwärtigen Menschheitsqualen genügt: Nur selten gibt jemand sein Leben selbst im größten Leiden freiwillig auf. Die große Mehrheit ergibt sich in Kampf und/oder Siechtum.

Nun gut, da habe ich vielleicht schon wieder herumintellektualisiert. ;)

Liebe Grüße,
Elli
 

Rupert Davis

Mitglied
auch eine interessante

frage!

aber darauf gibt es immer dieselbe antwort:
hab ich das eine, will ich das andere!
natürlich nur mit dem unterschied, das er im falle des todes keinen anderen wunsch mehr haben wird.aber er lebt, und somit sehnt er sich nach dem anderen.

viele grüße,

rupert
 

Rupert Davis

Mitglied
nanu?

mmmh!
ich les hier eigentlich nicht sehr viel schlechte kritik, daher frage ich mich woher denn diese drei punkte kommen??
ich bin ja selbst sehr selbstkritisch, aber ich glaube so schlecht ists nun auch nicht! aber mal davon ab, stellt so einen bewertung ja auch nur eine meinung da, keine kritik. insbesondere dann, wenn man neben der bewertung keinen kommentar zu der sache abgibt.
was, wie ich ja mal sagen muß, ziemlich enttäuschend, aber hier in der lupe auch ebenso verbreitet ist.
mir ist schon klar das meine geschichten nicht allen gefallen können, aber gerade denen die sie nict gefallen, möchte ich ans herz legen, mir mitzuteilen wieso das der fall ist.
meinungen muß ich respektieren, aber mit kritik kann ich arbeiten und mich entwickeln. und jetzt ratet mal, warum ich meine geschichten hier veröffentliche!!
also bitte, nicht nur punkte verteilen sondern auch (und vor allem) begründen.
einfach nur "gut" oder "schlecht" zu sagen zeugt von keiner sonderlich literarischen einstellung und hilft niemanden in seinem persönlichen entwicklungsprozess voran zu schreiten.
also, kollege-3-punkte, ich würde mich sehr freuen, wenn du meine geschichte mal auseinandernimmst und mich auf die schwachstellen, die du wohl gefunden hast hinweist.

herzlichen dank udn viele grüße,

rupert
 



 
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