Arno Abendschön
Mitglied
Eine Geschichte aus der Wendezeit
Die Dorfhunde bellten und Walter gab ihnen Antwort, hier oben auf Notwende. Pauli lag noch im Bett. Halb versuchte er, ein letztes Mal einzuschlafen – nach unruhig verbrachter Nacht, in seinen Träumen hatte er unwürdige Rollen spielen müssen -, halb dachte er mit zärtlichem Grimm an Walter unten in seinem Zwinger. Was für ein Köter: sandfarbenes Fell, sehr kräftige Hinterläufe und ein enormes Geschlecht. Pauli konnte sich ihn genau vorstellen, wie er jetzt, am äußersten Rand seines Terrains stehend, ins Vorland hinabhorchte und gutturale Explosionen von sich gab. Ein Hund zum Fürchten, dabei harmlos, abgesehen von dieser Tollheit, diesem ewigen, leidigen Apportierzwang. Verdorben war er schon, als sie ihn brachten. Pauli war nämlich hereingelegt worden, damals vor drei Jahren, als sie ihn, vier Monate alt, für achthundert Mark bei ihm ließen. Wenn er gewusst hätte, dass sich das herabhängende linke Ohr niemals aufrichten würde … Ein Schäferhund mit Dackelohr! (Daher vielleicht auch das sandfarbene Fell.) Ins Riesenhafte war er seitdem gewachsen und mit ihm sein Schlappohr.
Es ging auf neun Uhr morgens. Pauli, dreiundfünfzig Jahre alt, von Beruf Schriftsteller und seit drei Jahren auf dem Land ansässig, hatte sich nicht mehr ans Frühaufstehen gewöhnen können. Zu viele Kreuzberger Nächte steckten ihm in den Knochen, sagte er. (Dabei hatte er länger in Hannover als in Berlin gelebt.) Und was hatten die Nachtwachen gebracht? Am Schluss hatte es kaum zum Leben gereicht. Da trat endlich der lange erwartete Glücksfall ein, sein Vater starb mit siebenundachtzig – die Lackfabrik konnte verkauft werden. Er tat das ökonomisch Richtige: kaufte ein kleines Anwesen hier auf dem Land, wo es noch billig war; zog mit Margarita hierher; ließ sie für die Hälfte der laufenden Kosten aufkommen – und schrieb weiter. Inzwischen schien sich das Blatt, an dem er schon so lange schrieb, zu wenden. Vor drei Wochen hatte er seinen ersten Fernsehauftritt gehabt. War das seine Notwende, endlich?
Margarita hatte den Einfall mit dem Namen gehabt. Es erinnere an Capras Bestseller und knüpfe zugleich an die katholischen Traditionen der Landbevölkerung an. New Age und die Vierzehn Nothelfer, sie konnten alles gebrauchen. Und so hieß die alte Schäferei am Abhang der Haßberge (ursprünglich nur ein Wingerthäuschen, als hier noch Reben wuchsen; am Schluss dann ein Kindererholungsheim) neuerdings die Notwende.
Walter gab keine Ruhe; er war es gewohnt, um diese Zeit ausgeführt zu werden. Pauli stand auf und zog sich an. Auf dem Weg ins Freie sah er kurz bei Margarita hinein, die schon seit einer Stunde in ihrem Atelier arbeitete; sie hatte es in dem früheren Baderaum des Erholungsheimes eingerichtet.
„Gib mir Bescheid, wenn du zurück bist. Ich mache dann den Tee für uns beide.“ Zwar sorgte sonst jeder für sich selbst – Pauli war seit einiger Zeit Vegetarier -, aber den Tee ließ er von ihr mitzubereiten; das war ökonomischer so.
Bevor er den Zwinger öffnete, befühlte er die Außentasche seiner Jacke. Es waren noch genügend kleine Steine drin. Walter war nämlich darauf versessen, Steine aufzuspüren und dem zurückzubringen, der sie von sich geschleudert hatte. In diesem Hinterherjagen, Aufschnappen und Apportieren bestand für ihn der ausschließliche Sinn seiner Hundeexistenz. Da ließ er nicht mit sich spaßen. Pauli hatte es erfahren, als er einmal ohne geeignete Gegenstände in den Zwinger trat. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre unter der Wucht des ihn anspringenden Hundes zu Boden gegangen. In höchster Not hatte er sich von dem Lyrikband in seiner Linken getrennt. Seitdem argwöhnte er, Walter lege es eben darauf an, ihn in diese ausweglose Situation zu bringen, in der er ihm mit leeren Händen gegenüberstand. Dafür sprach, dass Walter ihm nicht erlaubte, sich in seiner Nähe nach einem Stein zu bücken. Er stürzte sich dann sofort auf das von Pauli ins Auge gefasste Objekt. Um jeden Preis wollte er Paulis zugreifender Hand zuvorkommen, und sei es auch, dass er nach ihr schnappte. In solcher Lage stieß Pauli dann den Stein mit der Fußspitze von sich, um sich eine Atempause zu verschaffen.
Walter trainierte, er apportierte immer rascher. Es war der Kampf um den letzten Stein. Es galt, die Steine sehr weit fortzuschleudern, Walter in irgendeinem Dickicht zu beschäftigen und sich rasch mit einem neuen Vorrat zu versehen. Pauli scheute sich nicht, die Steine tief in Brombeerhecken zu schleudern, aus denen Walter sich erst nach längerer Zeit, zwar blutend, doch mit dem Stein im triefenden Maul befreite. Pauli konnte sich noch einen weiteren Vorteil in ihrem Spiel verschaffen: Was Arglist war, war Walter unbekannt. Pauli tat so, als hätte er einen Gegenstand in der Hand, mit der er die gewöhnliche Bewegung des Fortschleuderns beschrieb. Walter verfolgte mit schwachen Augen die fiktive Flugbahn und suchte dann ausdauernd und erfolglos den von ihm berechneten Aufprallort im Gebüsch ab. Besiegt kehrte er nach einigen Minuten zurück und gab für eine kurze Weile Ruhe.
Heute trieb er Walter den Hohlweg hinunter und kehrte mit ihm über die Wiese zurück. Als er ihn im Zwinger eingeschlossen hatte, ging er zum Briefkasten. Der Postbote hatte die Zeitung schon eingesteckt. Außerdem war da ein Brief ohne Absender, seine Adresse in einer ihm unbekannten, nachlässigen Handschrift geschrieben.
Ob es vielleicht ein anonymer Brief war? Pauli hatte noch niemals einen erhalten. Da er nun durch das Fernsehen zu einer Figur der Zeitgeschichte geworden war – so formulierte er es, um Selbstironie bemüht, bei sich selbst -, fand er es natürlich, in Zukunft von Leuten angegriffen zu werden, die unerkannt bleiben wollten. Aber konnte er denn überhaupt in jenem Studiogespräch Anstoß erregt haben? Das Thema an sich war heikel: Wandlungen der Sexualmoral? Schon das Fragezeichen mochte eine Menge Zeitgenossen ärgern. Es wurde ihm jedoch leicht gemacht. Die Moderatorin stellte ihn vor und drang dann scheinbar gleich zum Kern der Sache vor: „Aus Ihrem Werk, vor allem aus Ihrem Frühwerk weiß man, dass Ihnen nichts Menschliches fremd ist. Ich denke da an den Sammelband In Ängsten und Lüsten. Heute aber schreiben Sie keine Prosatexte mehr. Sie haben sich der Lyrik zugewandt, vor allem der Naturlyrik. Sie leben jetzt auf dem Land – mit einer Frau, ich darf wohl sagen: mit einer Freundin. Hat es in Ihrer persönlichen Sexualmoral Wandlungen gegeben?“ – Da lächelte er und sagte nur: „Das ist ein weites Feld, um mit dem alten Fontane zu sprechen …“ Und sie unterbrach ihn sofort: „ …der aus der Mark Brandenburg kam. Sie aber sind Thüringer.“ Und wandte sich seiner Nachbarin zu. Da war er fein raus. Außerdem war es so abgesprochen. Auch spätabends im Dritten durfte man den Zuschauern nicht zu viel zumuten. Später blieb er vielsagend unverbindlich. Nur einmal wurde er heftig, wetterte gegen das bloße Konsumieren von Sexualpartnern. Das schien ihm ungefährlich. Kein Mensch von Verstand und keiner mit Gefühl konnte dem widersprechen.
Pauli ging zu Margarita, um ihr zu sagen, er werde jetzt frühstücken. Während er mit ihr sprach, ging ihm durch den Kopf, was die Moderatorin den Zuschauern hatte suggerieren wollen. Er sollte zu dieser untersetzten Vierzigerin, deren schwarzes Haar jetzt rasch ergraute, körperliche Beziehungen unterhalten? Das war eine absurde Insinuation! Margarita hatte vor Jahren eines seiner erfolglosen Bücher illustriert. Das war der Beginn von rein sachlichen Beziehungen gewesen, an denen sich auch in Zukunft nichts ändern sollte. Pauli bevorzugte sehr junge, sehr schlanke Frauen … Ja, ja, man nannte das knabenhaft … und die Knaben liebte er auch sehr jung und sehr schlank … Am besten, wenn weder die Knaben noch die jungen Frauen an ihr Geschlecht erinnerten … und auch an kein anderes und an ein drittes dazwischen schon gar nicht … Das Geschlechtliche sollte allein seine Sache sein.
Margarita versprach, den Tee in Kürze zuzubereiten. Er holte die Gerste, die er am Vorabend eingeweicht hatte, aus der Küche und ließ sich auf der Veranda in einem Korbsessel nieder. Es war ein diesiger Morgen, die Kühltürme von Grafenrheinfeld hatten sich in ihren eigenen Kondensfahnen unsichtbar gemacht. Es war ihm nicht angenehm, wenn Besucher da waren und sie das Atomkraftwerk deutlich wahrnehmen konnten. Es war ihm ferner unangenehm, wenn er Auskunft über sein Sexualleben geben sollte. Er vermied es doch auch, sich selbst Rechenschaft abzugeben. Mit einiger Mühe gelang es ihm, eine Erinnerung an seinen vorigen Besuch in Berlin zu verscheuchen. Ein Schauspieler, mit dem er befreundet war, hatte ihn in ein Studio mitgenommen. Während einer Drehpause war der berühmte Regisseur, den er nicht eben gut kannte, auf ihn aufmerksam geworden. Und der Herr M. (wie er ihn bei sich stets nannte), hatte ihn freundlich und boshaft angelächelt und gefragt: „Und dein Sexualleben, mein lieber Pauli, was macht dein Sexualleben?“ – Nein, nicht mehr daran denken. Er wollte jetzt lieber den Brief lesen. Indem er ihn öffnete, bemerkte er, dass er in Köln abgestempelt war.
Der Brief bestand aus zwei eng mit Maschinenschrift bedeckten Seiten. Er enthielt weder eine Anrede noch einen Absender, auch keine Unterschrift. Pauli wurde vom Anonymus schon im ersten Satz geduzt und machte sich auf ein wirres Pamphlet gefasst. Aber nein, der ihm noch Unbekannte schien ihn tatsächlich zu kennen, und er schrieb überlegt und ziemlich sachlich. Er selbst, begann der Verfasser, sei jetzt etwa so alt, wie Pauli es zum Zeitpunkt ihrer ersten so unbefriedigenden Bekanntschaft gewesen sei. (Aber wann war das?) Freilich habe er Paulis zutreffendes Geburtsjahr erst dessen Personalausweis entnehmen können; Pauli habe sich ihm gegenüber nämlich für fünf Jahre jünger ausgegeben. Schon bald sei er damals von ihm beauftragt worden, während seiner, Paulis, Abwesenheit von Berlin ein Paket von der Post abzuholen; zu welchem Zweck ihm der verräterische Ausweis ausgehändigt worden sei. (Pauli fühlte Beschämung, zum einen, da er sich erinnerte, in einer lange zurückliegenden Periode seines Lebens tatsächlich so verfahren zu sein; zu anderen, da er das Beweisstück seiner Unaufrichtigkeit selbst geliefert hatte.)
Der Briefschreiber machte einen Absatz und geriet nun in einen euphorischen Ton, den Pauli sich durchaus nicht erklären konnte. Er habe Marius und Toni kennen gelernt! (Als wüsste jedermann, wer das sei.) Sie lebten jetzt zu dritt wie Figuren von Jean Genet, den er doch sicher verabscheue. (Der Verfasser schien ihn wirklich gut zu kennen.) Wie Figuren von Jean Genet, aber auch wiederum recht bürgerlich, sie hätten zu leben. Und Marius habe ihn, Pauli, den Kleinschriftsteller getauft. Jedes Mal, wenn sie zusammen seien, bringe er die Rede auf Pauli, den Kleinschriftsteller, und besonders Toni amüsiere das sehr, wenn sie zusammen seien. Sogar ihm verschaffe diese Anrufung eine gewisse Befriedigung – wenn sie zusammen seien. (Also doch ein Pamphlet. Es war krauses Zeug und in jedem Fall ärgerlich, da in verletzender Absicht geschrieben. Und worauf wollte er damit hinaus, dass er dreimal die Tatsache ihres Zusammenseins besonders erwähnte? Pauli dachte aber nicht darüber nach, sondern las gleich weiter.)
Der immer noch anonyme Verfasser wechselte erneut das Thema und lieferte jetzt, zu Paulis Erstaunen, dessen ziemlich komplette Biographie ab, die er wahrhaft proteisch nannte. „Du kamst aus der DDR, ohne dass man den Grund genau kennt. Wolltest du deinem Vater näher kommen, der gleich nach dem Krieg in den Westen gegangen war? Neben wenigem anderem brachtest du deine sozialistischen Überzeugungen mit, und für sie fandest du, leicht modifiziert, versteht sich, Verwendung in der Studentenbewegung. Hier und da konntest du schon ein paar Sächelchen veröffentlichen und schriebst regelmäßig für die deutsche Prawda, die West-Berliner Wahrheit also. So wurdst du Referendar, um zur Abwechslung mal Tucholsky statt Fontane zu zitieren. Allmählich verschob sich zwar nicht dein Weltbild, nur der Schwerpunkt deiner Interessen – und das war, genauer besehen, eben doch ein und dasselbe für dich. Die Wahrheit brachte nichts mehr von dir, du fandest auch geistig Abstand zur DDR und studiertest jetzt Frantz Fanon. Das Referendariat war um, der Radikalenerlass da – als Entwicklungshelfer gingst du nach Peru. Was hattest du dir vom Urwald am Amazonas nicht alles versprochen: Du warst schon damals ein Dichter. Aber Peru war irgendwie nicht ganz das Richtige für dich – bei Halbzeit des Vertrages warst du wieder da. Was nun, was tun? Zum Glück waren da eben neue Blätter erschienen, Zeitungen, die ganz anders sein wollten. Man lernte gerade eine neue Vokabel: alternativ. So wurdst du Redakteur … Brachtest da deinen Restbestand Sozialismus unter und dein immer noch reges Interesse für die Dritte Welt. Mit der Zeitung ging es auf und ab – panta rhei, die alten Philosophen kamen auch wieder in Mode. Als man dir in Hannover kündigte, räumtest du den Schreibtisch auf und nahmst nur noch mit, was dir zeitgemäß erschien: Ökologie, Basisdemokratie, Rückbesinnung auf dies und das. Der Sozialismus? – War inzwischen tot. Dann lebtest du von Vorschüssen auf Bücher, die so aktuell waren, dass man sie in der Masse ebenso aktueller Werke nicht recht würdigen konnte. Inzwischen hast du geerbt, und wir haben dich neulich im Fernsehen erlebt …“
Pauli ließ das Blatt sinken. Mein Gott, woher so viel Hass? Die Einzelheiten stimmten zum größten Teil, und doch war alles falsch. Immerhin würde es schwierig werden, darauf zu antworten. Zu antworten?
Margarita kam auf die Veranda. Er steckte den Brief rasch weg und schob ihr, um sie abzulenken, die Zeitung hin. Sie glaubte, er wolle sie auf die Schlagzeile aufmerksam machen und las laut:
„Ungarn schließt spätere Mitgliedschaft in EG nicht aus – aha!“
Beim Frühstück sprachen sie über die Lage in Osteuropa. Das war seit einiger Zeit ihr bevorzugtes Thema, wenn sie auf der Veranda zusammensaßen. Heute indessen zeigte sich Pauli dabei weniger optimistisch als sonst. Polen und Ungarn waren also abgehakt, Margarita wollte seine Prognose hören, wer als nächster Staat drankomme, die DDR oder die Tschechoslowakei.
Er meinte, eher Prag als Ost-Berlin. Aber niemand könne wirklich vorhersagen, in welchem Tempo der weitere Prozess verlaufe und zu welchen Ergebnissen er führe; diese könnten von Land zu Land sehr verschieden ausfallen.
„Aber der Sozialismus ist doch tot!“
Er stutzte - eben das hatte er gerade auch im Brief gelesen. Er spürte die Wahnvorstellung in sich aufsteigen, der Brief sei von Margarita verfasst oder auch nur inspiriert. Aber nein, das war unmöglich, der anonyme Schreiber bewies Kenntnisse, die Margarita sich unmöglich verschafft haben konnte.
„Nietzsche hat schon vor hundert Jahren gesagt: Gott ist tot. Aber die Kirche existiert immer noch.“
Sie sah ihn verständnislos an. Sonst war er ganz anders an dieses Thema herangegangen. Noch gestern hatte er Mitteleuropa als einen natürlichen Wirtschafts- und Kulturraum bezeichnet, wie auch immer er politisch organisiert sei. Die Einheit sei auf Dauer gar nicht zu verhindern. Margarita hatte ihm sofort zugestimmt und erkennen lassen, wie erfreulich es für sie sein würde, ihre Gouachen auch einmal in Leipzig oder Dresden ausstellen zu können.
Sie brachen die Diskussion ab, die heute nicht recht in Gang kommen wollte. Als Margarita hinausging, sagte sie: „Ich muss gleich noch einmal wegfahren. Um halb zwölf bin ich mit dem Kreiskulturreferenten verabredet. Vielleicht kann ich mich wieder an der Verkaufsausstellung im Advent beteiligen.“
Er sagte ihr, sie solle nur fahren, er brauche den Wagen heute nicht. Kaum war sie hinausgegangen, griff er hastig zum Brief.
Pauli war nicht neugierig auf die weiteren Enthüllungen, die unvermeidlich noch folgen würden. Aber er wollte endlich wissen, wer sich hinter dem Verfasser verbarg und welchen Zweck der Brief verfolgte. Er fühlte sich wie ein zum Tod Verurteilter unmittelbar vor der Vollstreckung, wie ein Verurteilter, dem die Hinrichtungsart noch unbekannt ist und dem es einen letzte Befriedigung verschaffen würde, zu erfahren, welches menschliche Antlitz die rote Kapuze des Scharfrichters verhüllt.
Pikant hätten sie seine Erscheinung auf dem Bildschirm gefunden. Das gelte für Marius und Toni und besonders für ihn selbst, den Anonymus, der sich noch gut an ihr letztes Zusammentreffen vor etwa zwei Jahren erinnern könne. Er, Pauli, sei also seinem großen Thema treu geblieben: dem Eintreten für die Sittlichkeit, dem Kampf gegen den Konsumismus und dem gelegentlichen Unterliegen in diesem Kampf, soweit er die eigene Person betreffe. Er nannte ihm ein Hamburger Homosexuellenlokal – da hätten sie sich nach langen Jahren zufällig gesehen und gesprochen. (Pauli konnte sich an die Räumlichkeiten erinnern, nicht jedoch an die Personen, mit denen er sich dort unterhalten hatte.) Pauli sei gerade von einer Amerikareise zurückgekommen und habe Schwärmerisches über New York zum Besten gegeben. Dort leben und arbeiten zu können! Und Brooklyn sei so wie Kreuzberg, als es noch funktioniert habe. Und dann habe er gesagt, er wohne jetzt auf dem Land und schreibe weiter, doch zu seiner Selbstbestätigung sei ihm Gedrucktwerden längst nicht mehr nötig. Schließlich habe er ein Taschenbuch mit kritischen Schriften von Pasolini in der Hand gehabt und begonnen, es enthusiastisch zu loben, wie bei ihm üblich. Plötzlich habe er das Buch weggesteckt, ihr Gespräch abgebrochen und sei wortlos in den Katakomben unter der Bar verschwunden. (Ja, er erinnerte sich: die steile, schlecht beleuchtete Kellertreppe – der muffige, verwinkelte Keller, in dem sich das wenige Licht von der Treppe bald verlor – Klumpen anonymer männlicher Körper – Hände, die sich einem in der völligen Finsternis entgegenstreckten – Lust, die auf jedes Vorspiel verzichtete und gleich zur Hauptsache kam …) Er wisse nicht, wie lange Pauli dort unten geblieben sei, fuhr der Briefschreiber fort, er habe diesen Abstieg in Jahren nicht unternommen und sei nach einer halben Stunde gegangen, ohne Pauli wiedergesehen zu haben.
Pauli begriff jetzt, dass dem Verfasser nichts daran lag, unerkannt zu bleiben. Die Form des anonymen Briefes war eine Finte. Er sollte neugierig gemacht werden, um leichter verhöhnt und gequält werden zu können. Und dann: Er konnte nichts zurückweisen, ohne damit anderes zu bestätigen. Er war ohnmächtig. Jedoch blieb ihm der Verfasser noch immer verborgen. Er las daher weiter:
„Bevor ich zum Schluss komme, will ich dir noch kurz unsere Riten hier in Köln schildern, in denen du einen so wichtigen Part übernommen hast. Zunächst musst du wissen, dass Marius und Toni sich schon sehr lange kennen, sechs oder sieben Jahre. Marius ist sadistisch, Toni mehr oder weniger masochistisch. Marius verfuhr also mit Toni, wie es bei Leuten wie ihnen der Brauch ist, Jahr um Jahr. Es geht auch anders, aber so geht es auch. Ich weiß nicht, ob ich es dir im Einzelnen beschreiben muss, vielleicht ein anderes Mal. Allmählich zeigte sich nun, dass auf Tonis Seite gewisse Restbedürfnisse nach eher freundlicher als strenger Behandlung unbefriedigt blieben und Marius durchaus nicht imstande war, Tonis ambivalenter Natur völlig gerecht zu werden. So verfielen sie in einer schönen Mainacht auf mich. Und seitdem wirke ich gelegentlich in ihren Inszenierungen mit, die dann drei Akte haben. Im ersten bin ich mit Toni allein und gebe mich recht gefühlvoll, was mir ja liegt. Dann überrascht uns Marius. Er überwältigt mich (was mir nicht unlieb) und bindet mich mit Hilfe des von widerstreitenden Gefühlen beherrschten Toni. So muss ich ohnmächtig zusehen, wie Marius Toni bestraft. Hat Marius sich schließlich bei der Züchtigung völlig verausgabt, darf ich mich zum Schluss, Trost spendend, wieder mit Toni beschäftigen.
Diese Einstudierung haben wir neuerdings um einen raffinierten Effekt ergänzt. Marius hat deinen Fernsehauftritt aufgezeichnet, deine Wortbeiträge herausgeschnitten und auf Band hintereinander montiert. Er droht uns nun: Denkt an den Kleinschriftsteller! und lässt das Band mit deiner Stimme laufen: Das ist ein weites Feld … Hören wir doch endlich auf, Sexualkonsum zu betreiben …Zuerst wirkt das noch stimulierend, denn wir, Toni und ich, wollen stärker sein als diese Stimme. Marius erhöht die Lautstärke: Das ist ein weites Feld … Hören wir doch endlich auf …Jetzt finden wir es komisch und fangen an, uns lachend voneinander zu lösen. Marius lässt es noch einmal sehr laut ablaufen: Das ist ein weites Feld …Da erfasst uns Ekel und …“
Er nahm die Brille ab und las nicht weiter. Ekel, das war es, Heuchelei und Selbstbetrug – und am Ende nur Ekel. Er wusste plötzlich, wer den Brief verfasst hatte. Er sah sich mit N. in jener Bar stehen und hörte sich über Pasolini reden. Aber diese Entdeckung ließ ihn nun kalt. Er wollte wegfahren, heute noch, nach Frankfurt oder nach München. Oder, besser noch, dahin, wo niemand ihn kannte. Nach Lyon oder nach Mailand, vielleicht.
Er hörte, wie Margarita mit dem Wagen davonfuhr. Walter begann zu bellen, und die Dorfhunde antworteten ihm.
Die Dorfhunde bellten und Walter gab ihnen Antwort, hier oben auf Notwende. Pauli lag noch im Bett. Halb versuchte er, ein letztes Mal einzuschlafen – nach unruhig verbrachter Nacht, in seinen Träumen hatte er unwürdige Rollen spielen müssen -, halb dachte er mit zärtlichem Grimm an Walter unten in seinem Zwinger. Was für ein Köter: sandfarbenes Fell, sehr kräftige Hinterläufe und ein enormes Geschlecht. Pauli konnte sich ihn genau vorstellen, wie er jetzt, am äußersten Rand seines Terrains stehend, ins Vorland hinabhorchte und gutturale Explosionen von sich gab. Ein Hund zum Fürchten, dabei harmlos, abgesehen von dieser Tollheit, diesem ewigen, leidigen Apportierzwang. Verdorben war er schon, als sie ihn brachten. Pauli war nämlich hereingelegt worden, damals vor drei Jahren, als sie ihn, vier Monate alt, für achthundert Mark bei ihm ließen. Wenn er gewusst hätte, dass sich das herabhängende linke Ohr niemals aufrichten würde … Ein Schäferhund mit Dackelohr! (Daher vielleicht auch das sandfarbene Fell.) Ins Riesenhafte war er seitdem gewachsen und mit ihm sein Schlappohr.
Es ging auf neun Uhr morgens. Pauli, dreiundfünfzig Jahre alt, von Beruf Schriftsteller und seit drei Jahren auf dem Land ansässig, hatte sich nicht mehr ans Frühaufstehen gewöhnen können. Zu viele Kreuzberger Nächte steckten ihm in den Knochen, sagte er. (Dabei hatte er länger in Hannover als in Berlin gelebt.) Und was hatten die Nachtwachen gebracht? Am Schluss hatte es kaum zum Leben gereicht. Da trat endlich der lange erwartete Glücksfall ein, sein Vater starb mit siebenundachtzig – die Lackfabrik konnte verkauft werden. Er tat das ökonomisch Richtige: kaufte ein kleines Anwesen hier auf dem Land, wo es noch billig war; zog mit Margarita hierher; ließ sie für die Hälfte der laufenden Kosten aufkommen – und schrieb weiter. Inzwischen schien sich das Blatt, an dem er schon so lange schrieb, zu wenden. Vor drei Wochen hatte er seinen ersten Fernsehauftritt gehabt. War das seine Notwende, endlich?
Margarita hatte den Einfall mit dem Namen gehabt. Es erinnere an Capras Bestseller und knüpfe zugleich an die katholischen Traditionen der Landbevölkerung an. New Age und die Vierzehn Nothelfer, sie konnten alles gebrauchen. Und so hieß die alte Schäferei am Abhang der Haßberge (ursprünglich nur ein Wingerthäuschen, als hier noch Reben wuchsen; am Schluss dann ein Kindererholungsheim) neuerdings die Notwende.
Walter gab keine Ruhe; er war es gewohnt, um diese Zeit ausgeführt zu werden. Pauli stand auf und zog sich an. Auf dem Weg ins Freie sah er kurz bei Margarita hinein, die schon seit einer Stunde in ihrem Atelier arbeitete; sie hatte es in dem früheren Baderaum des Erholungsheimes eingerichtet.
„Gib mir Bescheid, wenn du zurück bist. Ich mache dann den Tee für uns beide.“ Zwar sorgte sonst jeder für sich selbst – Pauli war seit einiger Zeit Vegetarier -, aber den Tee ließ er von ihr mitzubereiten; das war ökonomischer so.
Bevor er den Zwinger öffnete, befühlte er die Außentasche seiner Jacke. Es waren noch genügend kleine Steine drin. Walter war nämlich darauf versessen, Steine aufzuspüren und dem zurückzubringen, der sie von sich geschleudert hatte. In diesem Hinterherjagen, Aufschnappen und Apportieren bestand für ihn der ausschließliche Sinn seiner Hundeexistenz. Da ließ er nicht mit sich spaßen. Pauli hatte es erfahren, als er einmal ohne geeignete Gegenstände in den Zwinger trat. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre unter der Wucht des ihn anspringenden Hundes zu Boden gegangen. In höchster Not hatte er sich von dem Lyrikband in seiner Linken getrennt. Seitdem argwöhnte er, Walter lege es eben darauf an, ihn in diese ausweglose Situation zu bringen, in der er ihm mit leeren Händen gegenüberstand. Dafür sprach, dass Walter ihm nicht erlaubte, sich in seiner Nähe nach einem Stein zu bücken. Er stürzte sich dann sofort auf das von Pauli ins Auge gefasste Objekt. Um jeden Preis wollte er Paulis zugreifender Hand zuvorkommen, und sei es auch, dass er nach ihr schnappte. In solcher Lage stieß Pauli dann den Stein mit der Fußspitze von sich, um sich eine Atempause zu verschaffen.
Walter trainierte, er apportierte immer rascher. Es war der Kampf um den letzten Stein. Es galt, die Steine sehr weit fortzuschleudern, Walter in irgendeinem Dickicht zu beschäftigen und sich rasch mit einem neuen Vorrat zu versehen. Pauli scheute sich nicht, die Steine tief in Brombeerhecken zu schleudern, aus denen Walter sich erst nach längerer Zeit, zwar blutend, doch mit dem Stein im triefenden Maul befreite. Pauli konnte sich noch einen weiteren Vorteil in ihrem Spiel verschaffen: Was Arglist war, war Walter unbekannt. Pauli tat so, als hätte er einen Gegenstand in der Hand, mit der er die gewöhnliche Bewegung des Fortschleuderns beschrieb. Walter verfolgte mit schwachen Augen die fiktive Flugbahn und suchte dann ausdauernd und erfolglos den von ihm berechneten Aufprallort im Gebüsch ab. Besiegt kehrte er nach einigen Minuten zurück und gab für eine kurze Weile Ruhe.
Heute trieb er Walter den Hohlweg hinunter und kehrte mit ihm über die Wiese zurück. Als er ihn im Zwinger eingeschlossen hatte, ging er zum Briefkasten. Der Postbote hatte die Zeitung schon eingesteckt. Außerdem war da ein Brief ohne Absender, seine Adresse in einer ihm unbekannten, nachlässigen Handschrift geschrieben.
Ob es vielleicht ein anonymer Brief war? Pauli hatte noch niemals einen erhalten. Da er nun durch das Fernsehen zu einer Figur der Zeitgeschichte geworden war – so formulierte er es, um Selbstironie bemüht, bei sich selbst -, fand er es natürlich, in Zukunft von Leuten angegriffen zu werden, die unerkannt bleiben wollten. Aber konnte er denn überhaupt in jenem Studiogespräch Anstoß erregt haben? Das Thema an sich war heikel: Wandlungen der Sexualmoral? Schon das Fragezeichen mochte eine Menge Zeitgenossen ärgern. Es wurde ihm jedoch leicht gemacht. Die Moderatorin stellte ihn vor und drang dann scheinbar gleich zum Kern der Sache vor: „Aus Ihrem Werk, vor allem aus Ihrem Frühwerk weiß man, dass Ihnen nichts Menschliches fremd ist. Ich denke da an den Sammelband In Ängsten und Lüsten. Heute aber schreiben Sie keine Prosatexte mehr. Sie haben sich der Lyrik zugewandt, vor allem der Naturlyrik. Sie leben jetzt auf dem Land – mit einer Frau, ich darf wohl sagen: mit einer Freundin. Hat es in Ihrer persönlichen Sexualmoral Wandlungen gegeben?“ – Da lächelte er und sagte nur: „Das ist ein weites Feld, um mit dem alten Fontane zu sprechen …“ Und sie unterbrach ihn sofort: „ …der aus der Mark Brandenburg kam. Sie aber sind Thüringer.“ Und wandte sich seiner Nachbarin zu. Da war er fein raus. Außerdem war es so abgesprochen. Auch spätabends im Dritten durfte man den Zuschauern nicht zu viel zumuten. Später blieb er vielsagend unverbindlich. Nur einmal wurde er heftig, wetterte gegen das bloße Konsumieren von Sexualpartnern. Das schien ihm ungefährlich. Kein Mensch von Verstand und keiner mit Gefühl konnte dem widersprechen.
Pauli ging zu Margarita, um ihr zu sagen, er werde jetzt frühstücken. Während er mit ihr sprach, ging ihm durch den Kopf, was die Moderatorin den Zuschauern hatte suggerieren wollen. Er sollte zu dieser untersetzten Vierzigerin, deren schwarzes Haar jetzt rasch ergraute, körperliche Beziehungen unterhalten? Das war eine absurde Insinuation! Margarita hatte vor Jahren eines seiner erfolglosen Bücher illustriert. Das war der Beginn von rein sachlichen Beziehungen gewesen, an denen sich auch in Zukunft nichts ändern sollte. Pauli bevorzugte sehr junge, sehr schlanke Frauen … Ja, ja, man nannte das knabenhaft … und die Knaben liebte er auch sehr jung und sehr schlank … Am besten, wenn weder die Knaben noch die jungen Frauen an ihr Geschlecht erinnerten … und auch an kein anderes und an ein drittes dazwischen schon gar nicht … Das Geschlechtliche sollte allein seine Sache sein.
Margarita versprach, den Tee in Kürze zuzubereiten. Er holte die Gerste, die er am Vorabend eingeweicht hatte, aus der Küche und ließ sich auf der Veranda in einem Korbsessel nieder. Es war ein diesiger Morgen, die Kühltürme von Grafenrheinfeld hatten sich in ihren eigenen Kondensfahnen unsichtbar gemacht. Es war ihm nicht angenehm, wenn Besucher da waren und sie das Atomkraftwerk deutlich wahrnehmen konnten. Es war ihm ferner unangenehm, wenn er Auskunft über sein Sexualleben geben sollte. Er vermied es doch auch, sich selbst Rechenschaft abzugeben. Mit einiger Mühe gelang es ihm, eine Erinnerung an seinen vorigen Besuch in Berlin zu verscheuchen. Ein Schauspieler, mit dem er befreundet war, hatte ihn in ein Studio mitgenommen. Während einer Drehpause war der berühmte Regisseur, den er nicht eben gut kannte, auf ihn aufmerksam geworden. Und der Herr M. (wie er ihn bei sich stets nannte), hatte ihn freundlich und boshaft angelächelt und gefragt: „Und dein Sexualleben, mein lieber Pauli, was macht dein Sexualleben?“ – Nein, nicht mehr daran denken. Er wollte jetzt lieber den Brief lesen. Indem er ihn öffnete, bemerkte er, dass er in Köln abgestempelt war.
Der Brief bestand aus zwei eng mit Maschinenschrift bedeckten Seiten. Er enthielt weder eine Anrede noch einen Absender, auch keine Unterschrift. Pauli wurde vom Anonymus schon im ersten Satz geduzt und machte sich auf ein wirres Pamphlet gefasst. Aber nein, der ihm noch Unbekannte schien ihn tatsächlich zu kennen, und er schrieb überlegt und ziemlich sachlich. Er selbst, begann der Verfasser, sei jetzt etwa so alt, wie Pauli es zum Zeitpunkt ihrer ersten so unbefriedigenden Bekanntschaft gewesen sei. (Aber wann war das?) Freilich habe er Paulis zutreffendes Geburtsjahr erst dessen Personalausweis entnehmen können; Pauli habe sich ihm gegenüber nämlich für fünf Jahre jünger ausgegeben. Schon bald sei er damals von ihm beauftragt worden, während seiner, Paulis, Abwesenheit von Berlin ein Paket von der Post abzuholen; zu welchem Zweck ihm der verräterische Ausweis ausgehändigt worden sei. (Pauli fühlte Beschämung, zum einen, da er sich erinnerte, in einer lange zurückliegenden Periode seines Lebens tatsächlich so verfahren zu sein; zu anderen, da er das Beweisstück seiner Unaufrichtigkeit selbst geliefert hatte.)
Der Briefschreiber machte einen Absatz und geriet nun in einen euphorischen Ton, den Pauli sich durchaus nicht erklären konnte. Er habe Marius und Toni kennen gelernt! (Als wüsste jedermann, wer das sei.) Sie lebten jetzt zu dritt wie Figuren von Jean Genet, den er doch sicher verabscheue. (Der Verfasser schien ihn wirklich gut zu kennen.) Wie Figuren von Jean Genet, aber auch wiederum recht bürgerlich, sie hätten zu leben. Und Marius habe ihn, Pauli, den Kleinschriftsteller getauft. Jedes Mal, wenn sie zusammen seien, bringe er die Rede auf Pauli, den Kleinschriftsteller, und besonders Toni amüsiere das sehr, wenn sie zusammen seien. Sogar ihm verschaffe diese Anrufung eine gewisse Befriedigung – wenn sie zusammen seien. (Also doch ein Pamphlet. Es war krauses Zeug und in jedem Fall ärgerlich, da in verletzender Absicht geschrieben. Und worauf wollte er damit hinaus, dass er dreimal die Tatsache ihres Zusammenseins besonders erwähnte? Pauli dachte aber nicht darüber nach, sondern las gleich weiter.)
Der immer noch anonyme Verfasser wechselte erneut das Thema und lieferte jetzt, zu Paulis Erstaunen, dessen ziemlich komplette Biographie ab, die er wahrhaft proteisch nannte. „Du kamst aus der DDR, ohne dass man den Grund genau kennt. Wolltest du deinem Vater näher kommen, der gleich nach dem Krieg in den Westen gegangen war? Neben wenigem anderem brachtest du deine sozialistischen Überzeugungen mit, und für sie fandest du, leicht modifiziert, versteht sich, Verwendung in der Studentenbewegung. Hier und da konntest du schon ein paar Sächelchen veröffentlichen und schriebst regelmäßig für die deutsche Prawda, die West-Berliner Wahrheit also. So wurdst du Referendar, um zur Abwechslung mal Tucholsky statt Fontane zu zitieren. Allmählich verschob sich zwar nicht dein Weltbild, nur der Schwerpunkt deiner Interessen – und das war, genauer besehen, eben doch ein und dasselbe für dich. Die Wahrheit brachte nichts mehr von dir, du fandest auch geistig Abstand zur DDR und studiertest jetzt Frantz Fanon. Das Referendariat war um, der Radikalenerlass da – als Entwicklungshelfer gingst du nach Peru. Was hattest du dir vom Urwald am Amazonas nicht alles versprochen: Du warst schon damals ein Dichter. Aber Peru war irgendwie nicht ganz das Richtige für dich – bei Halbzeit des Vertrages warst du wieder da. Was nun, was tun? Zum Glück waren da eben neue Blätter erschienen, Zeitungen, die ganz anders sein wollten. Man lernte gerade eine neue Vokabel: alternativ. So wurdst du Redakteur … Brachtest da deinen Restbestand Sozialismus unter und dein immer noch reges Interesse für die Dritte Welt. Mit der Zeitung ging es auf und ab – panta rhei, die alten Philosophen kamen auch wieder in Mode. Als man dir in Hannover kündigte, räumtest du den Schreibtisch auf und nahmst nur noch mit, was dir zeitgemäß erschien: Ökologie, Basisdemokratie, Rückbesinnung auf dies und das. Der Sozialismus? – War inzwischen tot. Dann lebtest du von Vorschüssen auf Bücher, die so aktuell waren, dass man sie in der Masse ebenso aktueller Werke nicht recht würdigen konnte. Inzwischen hast du geerbt, und wir haben dich neulich im Fernsehen erlebt …“
Pauli ließ das Blatt sinken. Mein Gott, woher so viel Hass? Die Einzelheiten stimmten zum größten Teil, und doch war alles falsch. Immerhin würde es schwierig werden, darauf zu antworten. Zu antworten?
Margarita kam auf die Veranda. Er steckte den Brief rasch weg und schob ihr, um sie abzulenken, die Zeitung hin. Sie glaubte, er wolle sie auf die Schlagzeile aufmerksam machen und las laut:
„Ungarn schließt spätere Mitgliedschaft in EG nicht aus – aha!“
Beim Frühstück sprachen sie über die Lage in Osteuropa. Das war seit einiger Zeit ihr bevorzugtes Thema, wenn sie auf der Veranda zusammensaßen. Heute indessen zeigte sich Pauli dabei weniger optimistisch als sonst. Polen und Ungarn waren also abgehakt, Margarita wollte seine Prognose hören, wer als nächster Staat drankomme, die DDR oder die Tschechoslowakei.
Er meinte, eher Prag als Ost-Berlin. Aber niemand könne wirklich vorhersagen, in welchem Tempo der weitere Prozess verlaufe und zu welchen Ergebnissen er führe; diese könnten von Land zu Land sehr verschieden ausfallen.
„Aber der Sozialismus ist doch tot!“
Er stutzte - eben das hatte er gerade auch im Brief gelesen. Er spürte die Wahnvorstellung in sich aufsteigen, der Brief sei von Margarita verfasst oder auch nur inspiriert. Aber nein, das war unmöglich, der anonyme Schreiber bewies Kenntnisse, die Margarita sich unmöglich verschafft haben konnte.
„Nietzsche hat schon vor hundert Jahren gesagt: Gott ist tot. Aber die Kirche existiert immer noch.“
Sie sah ihn verständnislos an. Sonst war er ganz anders an dieses Thema herangegangen. Noch gestern hatte er Mitteleuropa als einen natürlichen Wirtschafts- und Kulturraum bezeichnet, wie auch immer er politisch organisiert sei. Die Einheit sei auf Dauer gar nicht zu verhindern. Margarita hatte ihm sofort zugestimmt und erkennen lassen, wie erfreulich es für sie sein würde, ihre Gouachen auch einmal in Leipzig oder Dresden ausstellen zu können.
Sie brachen die Diskussion ab, die heute nicht recht in Gang kommen wollte. Als Margarita hinausging, sagte sie: „Ich muss gleich noch einmal wegfahren. Um halb zwölf bin ich mit dem Kreiskulturreferenten verabredet. Vielleicht kann ich mich wieder an der Verkaufsausstellung im Advent beteiligen.“
Er sagte ihr, sie solle nur fahren, er brauche den Wagen heute nicht. Kaum war sie hinausgegangen, griff er hastig zum Brief.
Pauli war nicht neugierig auf die weiteren Enthüllungen, die unvermeidlich noch folgen würden. Aber er wollte endlich wissen, wer sich hinter dem Verfasser verbarg und welchen Zweck der Brief verfolgte. Er fühlte sich wie ein zum Tod Verurteilter unmittelbar vor der Vollstreckung, wie ein Verurteilter, dem die Hinrichtungsart noch unbekannt ist und dem es einen letzte Befriedigung verschaffen würde, zu erfahren, welches menschliche Antlitz die rote Kapuze des Scharfrichters verhüllt.
Pikant hätten sie seine Erscheinung auf dem Bildschirm gefunden. Das gelte für Marius und Toni und besonders für ihn selbst, den Anonymus, der sich noch gut an ihr letztes Zusammentreffen vor etwa zwei Jahren erinnern könne. Er, Pauli, sei also seinem großen Thema treu geblieben: dem Eintreten für die Sittlichkeit, dem Kampf gegen den Konsumismus und dem gelegentlichen Unterliegen in diesem Kampf, soweit er die eigene Person betreffe. Er nannte ihm ein Hamburger Homosexuellenlokal – da hätten sie sich nach langen Jahren zufällig gesehen und gesprochen. (Pauli konnte sich an die Räumlichkeiten erinnern, nicht jedoch an die Personen, mit denen er sich dort unterhalten hatte.) Pauli sei gerade von einer Amerikareise zurückgekommen und habe Schwärmerisches über New York zum Besten gegeben. Dort leben und arbeiten zu können! Und Brooklyn sei so wie Kreuzberg, als es noch funktioniert habe. Und dann habe er gesagt, er wohne jetzt auf dem Land und schreibe weiter, doch zu seiner Selbstbestätigung sei ihm Gedrucktwerden längst nicht mehr nötig. Schließlich habe er ein Taschenbuch mit kritischen Schriften von Pasolini in der Hand gehabt und begonnen, es enthusiastisch zu loben, wie bei ihm üblich. Plötzlich habe er das Buch weggesteckt, ihr Gespräch abgebrochen und sei wortlos in den Katakomben unter der Bar verschwunden. (Ja, er erinnerte sich: die steile, schlecht beleuchtete Kellertreppe – der muffige, verwinkelte Keller, in dem sich das wenige Licht von der Treppe bald verlor – Klumpen anonymer männlicher Körper – Hände, die sich einem in der völligen Finsternis entgegenstreckten – Lust, die auf jedes Vorspiel verzichtete und gleich zur Hauptsache kam …) Er wisse nicht, wie lange Pauli dort unten geblieben sei, fuhr der Briefschreiber fort, er habe diesen Abstieg in Jahren nicht unternommen und sei nach einer halben Stunde gegangen, ohne Pauli wiedergesehen zu haben.
Pauli begriff jetzt, dass dem Verfasser nichts daran lag, unerkannt zu bleiben. Die Form des anonymen Briefes war eine Finte. Er sollte neugierig gemacht werden, um leichter verhöhnt und gequält werden zu können. Und dann: Er konnte nichts zurückweisen, ohne damit anderes zu bestätigen. Er war ohnmächtig. Jedoch blieb ihm der Verfasser noch immer verborgen. Er las daher weiter:
„Bevor ich zum Schluss komme, will ich dir noch kurz unsere Riten hier in Köln schildern, in denen du einen so wichtigen Part übernommen hast. Zunächst musst du wissen, dass Marius und Toni sich schon sehr lange kennen, sechs oder sieben Jahre. Marius ist sadistisch, Toni mehr oder weniger masochistisch. Marius verfuhr also mit Toni, wie es bei Leuten wie ihnen der Brauch ist, Jahr um Jahr. Es geht auch anders, aber so geht es auch. Ich weiß nicht, ob ich es dir im Einzelnen beschreiben muss, vielleicht ein anderes Mal. Allmählich zeigte sich nun, dass auf Tonis Seite gewisse Restbedürfnisse nach eher freundlicher als strenger Behandlung unbefriedigt blieben und Marius durchaus nicht imstande war, Tonis ambivalenter Natur völlig gerecht zu werden. So verfielen sie in einer schönen Mainacht auf mich. Und seitdem wirke ich gelegentlich in ihren Inszenierungen mit, die dann drei Akte haben. Im ersten bin ich mit Toni allein und gebe mich recht gefühlvoll, was mir ja liegt. Dann überrascht uns Marius. Er überwältigt mich (was mir nicht unlieb) und bindet mich mit Hilfe des von widerstreitenden Gefühlen beherrschten Toni. So muss ich ohnmächtig zusehen, wie Marius Toni bestraft. Hat Marius sich schließlich bei der Züchtigung völlig verausgabt, darf ich mich zum Schluss, Trost spendend, wieder mit Toni beschäftigen.
Diese Einstudierung haben wir neuerdings um einen raffinierten Effekt ergänzt. Marius hat deinen Fernsehauftritt aufgezeichnet, deine Wortbeiträge herausgeschnitten und auf Band hintereinander montiert. Er droht uns nun: Denkt an den Kleinschriftsteller! und lässt das Band mit deiner Stimme laufen: Das ist ein weites Feld … Hören wir doch endlich auf, Sexualkonsum zu betreiben …Zuerst wirkt das noch stimulierend, denn wir, Toni und ich, wollen stärker sein als diese Stimme. Marius erhöht die Lautstärke: Das ist ein weites Feld … Hören wir doch endlich auf …Jetzt finden wir es komisch und fangen an, uns lachend voneinander zu lösen. Marius lässt es noch einmal sehr laut ablaufen: Das ist ein weites Feld …Da erfasst uns Ekel und …“
Er nahm die Brille ab und las nicht weiter. Ekel, das war es, Heuchelei und Selbstbetrug – und am Ende nur Ekel. Er wusste plötzlich, wer den Brief verfasst hatte. Er sah sich mit N. in jener Bar stehen und hörte sich über Pasolini reden. Aber diese Entdeckung ließ ihn nun kalt. Er wollte wegfahren, heute noch, nach Frankfurt oder nach München. Oder, besser noch, dahin, wo niemand ihn kannte. Nach Lyon oder nach Mailand, vielleicht.
Er hörte, wie Margarita mit dem Wagen davonfuhr. Walter begann zu bellen, und die Dorfhunde antworteten ihm.