Tula
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Ein Apfel kann nicht vom Baum fallen
Guru-Geri ließ sich wie gewöhnlich Zeit mit dem ersten Zug. Nicht weil er seine Strategie über dem noch unberührten Brett im Detail vorausplante. Wenn wir uns einmal pro Woche am Donnerstagabend trafen, dann der Unterhaltung wegen. Bei Guru-Geri konnte man sich nicht nur trefflich amüsieren, sondern auch stets etwas dazulernen. Seinem Personalausweis nach hieß er in Wirklichkeit Gerhard. Aber als Eigentümer eines mächtigen weißen Bartes, bei dessen Anblick selbst ein Druide vor Neid erblassen würde, war ihm ein nach schlichtem Arbeitersohn klingender Name peinlich. Das hatte er nicht verdient, bei all seinen philosophischen Fachkenntnissen, die von Diogenes bis hin zu Erich von Däniken reichten. Es gab niemanden in der Nachbarschaft, der sich nicht mit einem hochschätzenden ‚Werter Guru-Geri‘ an ihn wendete. Diesem Ruf entsprechend schlürfte er also minutenlang in Gedanken versunken an seinem Bio-Mate, während ich ein Bier süffelte. Sich meiner Erwartung bewusst, wägte er bis zum Auftakt der Partie ab, welche meiner klaftertiefen Wissenslücken er heute zu füllen gedachte.
Bauer f2:f3. „Sag mal, was ist eigentlich aus deinem Bruder geworden? Ist der nach sieben Jahren noch immer an der Uni?“ Sein erster Zug verblüffte mich. Schach gehörte nicht zu den Spezialgebieten von Guru-Geri, zugegeben. Ich hatte ihm allerdings dutzende Male die gebräuchlichsten Eröffnungen erklärt. Vielleicht doch eine Finte, grübelte ich und erwiderte: „Nein, Markus ist bereits seit zwei Jahren mit seinem Informatikstudium fertig.“
„Ach so, ganz der Vater“ brabbelte er mir entgegen, als ich mit Bauer e7:e5 antwortete. Die Gelegenheit, den Weisen wenigstens einmal erfolgreich zu korrigieren, durfte ich mir nicht entgehen lassen: „Unser Vater ist Betriebswirtschaftler. Da bringst du etwas durcheinander.“
„Sag ich doch. Oder arbeitet der etwa ohne Computer?“ Eine typische Guru-Geri-Erleuchtung, stellte ich bewundernd fest, überraschend neue, unleugbare Parallelen im undurchdringlichen Dickicht der Tatsachen entblößend. Ich glotzte leicht resigniert auf die Schale voller Äpfel neben uns auf dem Tisch und seufzte: „Ja, ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“
Guru-Geri ergriff den Bauern auf g2 und schob ihn bedächtig zwei Felder vorwärts, ohne ihn loszulassen. Er verharrte zwei Dutzend Augenblicke, hob graziös die Figur zwischen Daumen und Mittelfinger zwei Zentimeter in die Luft und murmelte: „Unsinn“. Mit ähnlichen Showeinlagen musste man bei ihm jederzeit rechnen. Nach weiteren zwei Dutzend Augenblicken landete der Bauer aufs Neue auf g4: „Unsinn“ wiederholte er, „ein Apfel kann nicht vom Baum fallen.“
Nun war ich auf zweierlei Weise durcheinander. Augenscheinlich hatte sein Bio-Mate halluzinative Nebenwirkungen. „Natürlich kann ein Apfel vom Baum fallen. Das weiß jedes Schulkind!“
„Die lernen etwas in der Schule?“ Guru-Geri lachte laut auf. „Ein Apfel kann nicht vom Baum fallen. Beweise mir das Gegenteil.“
Ob er mich innerhalb einer halben Stunde schon wieder anpumpen und mir deshalb eine Genugtuung verschaffen wollte? Irgendeine Absicht musste hinter diesem Unfug stecken. „Mein lieber Guru-Geri, der Apfel fällt vom Baum und dann auf Newtons Kopf. Oder war es eine Banane?“
„Pah! Das ist nur Anekdote und nicht eindeutig bewiesen. Ich dementiere aber weder Newton noch die Existenz der Schwerkraft. Es bleibt bei der schlichten Erkenntnis: ein Apfel kann nicht vom Baum fallen.“
Seinem irritierten Blick nach zu urteilen, meinte er es ernst. Wie sollte man dem beikommen? „Hör mal, die Äpfel hier, wo kommen die her? Nicht von einem Baum?“
„Ich streite nicht ab, dass sie vor ein paar Wochen an irgendeinem Baum hingen. Die sind aber ganz gewiss geerntet worden, mit Händen oder Maschinen, bevor sie im Supermarkt herumlagen.“
Mein Freund war also doch zum Scherzen aufgelegt. „Letztes Jahr bei uns im Garten hast du mitgeholfen, die Dinger aufzusammeln. Ergo, die Äpfel sind vom Baum gefallen.“
Guru-Geri verzog spöttisch den Mund: „Die lagen im Gras, sicherlich. Das ist aber kein hinreichender Beweis. Ich habe keinen einzigen beim Fallen gesehen. Die meisten haben wir übrigens gepflückt, wie du dich selbst erinnern wirst.“
„Wenn wir die Äpfel nicht abrupfen, fallen sie irgendwann herunter. Früher oder später fallen sie ab, weil sie reif sind. Worauf willst du hinaus?“
Guru-Geri strich sich andachtsvoll durch den Bart: „Wenn du sie nicht pflückst … Das ist eine Bedingung, auf die der Apfel keinen Einfluss hat. Ein bestimmter Apfel, an einem bestimmten Baum und nur zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt KÖNNTE herunterfallen. Das ist nur ein zufälliges Ereignis, eine Wahrscheinlichkeit und somit nicht als absolut zu betrachten. Folgerichtig ist meine Behauptung nicht widerlegbar: ein Apfel kann nicht vom Baum fallen.“
Mit einem kräftigen Schluck leerte ich die Flasche Bier und gab mich geschlagen. Irgendwo hatte er ja recht; alles ist relativ. Die Partie allerdings weniger. Dame d8-h4. „Schach-Matt! Ein Apfel fällt ohne Schlange vom Baum, solange du ihn nicht daran hinderst.“
Guru-Geri reagierte beleidigt. In zwei Zügen hatte er noch nie verloren. „Jetzt wirst du überheblich. Mit deiner Wortklauberei kommst du bei mir nicht weit. Wie sprach der alte Konfuzius?: Wer Geist hat, hat sicher auch das rechte Wort, aber wer Worte hat, hat darum noch nicht notwendig Geist.“
Daraufhin griff er sich einen Apfel und drehte ihn in der Luft hin und her wie einst Hamlet den Schädel von Yorick: „Sieh nur, dieser hier hat nicht einmal einen Stiel“. Dann biss er triumphierend hinein.
Guru-Geri ließ sich wie gewöhnlich Zeit mit dem ersten Zug. Nicht weil er seine Strategie über dem noch unberührten Brett im Detail vorausplante. Wenn wir uns einmal pro Woche am Donnerstagabend trafen, dann der Unterhaltung wegen. Bei Guru-Geri konnte man sich nicht nur trefflich amüsieren, sondern auch stets etwas dazulernen. Seinem Personalausweis nach hieß er in Wirklichkeit Gerhard. Aber als Eigentümer eines mächtigen weißen Bartes, bei dessen Anblick selbst ein Druide vor Neid erblassen würde, war ihm ein nach schlichtem Arbeitersohn klingender Name peinlich. Das hatte er nicht verdient, bei all seinen philosophischen Fachkenntnissen, die von Diogenes bis hin zu Erich von Däniken reichten. Es gab niemanden in der Nachbarschaft, der sich nicht mit einem hochschätzenden ‚Werter Guru-Geri‘ an ihn wendete. Diesem Ruf entsprechend schlürfte er also minutenlang in Gedanken versunken an seinem Bio-Mate, während ich ein Bier süffelte. Sich meiner Erwartung bewusst, wägte er bis zum Auftakt der Partie ab, welche meiner klaftertiefen Wissenslücken er heute zu füllen gedachte.
Bauer f2:f3. „Sag mal, was ist eigentlich aus deinem Bruder geworden? Ist der nach sieben Jahren noch immer an der Uni?“ Sein erster Zug verblüffte mich. Schach gehörte nicht zu den Spezialgebieten von Guru-Geri, zugegeben. Ich hatte ihm allerdings dutzende Male die gebräuchlichsten Eröffnungen erklärt. Vielleicht doch eine Finte, grübelte ich und erwiderte: „Nein, Markus ist bereits seit zwei Jahren mit seinem Informatikstudium fertig.“
„Ach so, ganz der Vater“ brabbelte er mir entgegen, als ich mit Bauer e7:e5 antwortete. Die Gelegenheit, den Weisen wenigstens einmal erfolgreich zu korrigieren, durfte ich mir nicht entgehen lassen: „Unser Vater ist Betriebswirtschaftler. Da bringst du etwas durcheinander.“
„Sag ich doch. Oder arbeitet der etwa ohne Computer?“ Eine typische Guru-Geri-Erleuchtung, stellte ich bewundernd fest, überraschend neue, unleugbare Parallelen im undurchdringlichen Dickicht der Tatsachen entblößend. Ich glotzte leicht resigniert auf die Schale voller Äpfel neben uns auf dem Tisch und seufzte: „Ja, ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“
Guru-Geri ergriff den Bauern auf g2 und schob ihn bedächtig zwei Felder vorwärts, ohne ihn loszulassen. Er verharrte zwei Dutzend Augenblicke, hob graziös die Figur zwischen Daumen und Mittelfinger zwei Zentimeter in die Luft und murmelte: „Unsinn“. Mit ähnlichen Showeinlagen musste man bei ihm jederzeit rechnen. Nach weiteren zwei Dutzend Augenblicken landete der Bauer aufs Neue auf g4: „Unsinn“ wiederholte er, „ein Apfel kann nicht vom Baum fallen.“
Nun war ich auf zweierlei Weise durcheinander. Augenscheinlich hatte sein Bio-Mate halluzinative Nebenwirkungen. „Natürlich kann ein Apfel vom Baum fallen. Das weiß jedes Schulkind!“
„Die lernen etwas in der Schule?“ Guru-Geri lachte laut auf. „Ein Apfel kann nicht vom Baum fallen. Beweise mir das Gegenteil.“
Ob er mich innerhalb einer halben Stunde schon wieder anpumpen und mir deshalb eine Genugtuung verschaffen wollte? Irgendeine Absicht musste hinter diesem Unfug stecken. „Mein lieber Guru-Geri, der Apfel fällt vom Baum und dann auf Newtons Kopf. Oder war es eine Banane?“
„Pah! Das ist nur Anekdote und nicht eindeutig bewiesen. Ich dementiere aber weder Newton noch die Existenz der Schwerkraft. Es bleibt bei der schlichten Erkenntnis: ein Apfel kann nicht vom Baum fallen.“
Seinem irritierten Blick nach zu urteilen, meinte er es ernst. Wie sollte man dem beikommen? „Hör mal, die Äpfel hier, wo kommen die her? Nicht von einem Baum?“
„Ich streite nicht ab, dass sie vor ein paar Wochen an irgendeinem Baum hingen. Die sind aber ganz gewiss geerntet worden, mit Händen oder Maschinen, bevor sie im Supermarkt herumlagen.“
Mein Freund war also doch zum Scherzen aufgelegt. „Letztes Jahr bei uns im Garten hast du mitgeholfen, die Dinger aufzusammeln. Ergo, die Äpfel sind vom Baum gefallen.“
Guru-Geri verzog spöttisch den Mund: „Die lagen im Gras, sicherlich. Das ist aber kein hinreichender Beweis. Ich habe keinen einzigen beim Fallen gesehen. Die meisten haben wir übrigens gepflückt, wie du dich selbst erinnern wirst.“
„Wenn wir die Äpfel nicht abrupfen, fallen sie irgendwann herunter. Früher oder später fallen sie ab, weil sie reif sind. Worauf willst du hinaus?“
Guru-Geri strich sich andachtsvoll durch den Bart: „Wenn du sie nicht pflückst … Das ist eine Bedingung, auf die der Apfel keinen Einfluss hat. Ein bestimmter Apfel, an einem bestimmten Baum und nur zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt KÖNNTE herunterfallen. Das ist nur ein zufälliges Ereignis, eine Wahrscheinlichkeit und somit nicht als absolut zu betrachten. Folgerichtig ist meine Behauptung nicht widerlegbar: ein Apfel kann nicht vom Baum fallen.“
Mit einem kräftigen Schluck leerte ich die Flasche Bier und gab mich geschlagen. Irgendwo hatte er ja recht; alles ist relativ. Die Partie allerdings weniger. Dame d8-h4. „Schach-Matt! Ein Apfel fällt ohne Schlange vom Baum, solange du ihn nicht daran hinderst.“
Guru-Geri reagierte beleidigt. In zwei Zügen hatte er noch nie verloren. „Jetzt wirst du überheblich. Mit deiner Wortklauberei kommst du bei mir nicht weit. Wie sprach der alte Konfuzius?: Wer Geist hat, hat sicher auch das rechte Wort, aber wer Worte hat, hat darum noch nicht notwendig Geist.“
Daraufhin griff er sich einen Apfel und drehte ihn in der Luft hin und her wie einst Hamlet den Schädel von Yorick: „Sieh nur, dieser hier hat nicht einmal einen Stiel“. Dann biss er triumphierend hinein.
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