Ein aufregender Wandertag

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein aufregender Wandertag

Es war an einem schönen warmen Frühlingstag. Kein Wölkchen stand am Himmel, und auch der Wind hatte sich bei der Hitze zur Ruhe gelegt. Es herrschte also ideales Bienen-Flugwetter.
In Opa Oles alten Holzkarren, in welchem er seine Bienenvölker untergebracht und den er direkt neben einem goldgelb blühenden Rapsfeld aufgestellt hatte, brummte und summte es deshalb heute besonders laut.
Im Sekundentakt verließen fleißige Bienen ihren Stock oder setzten, schwer mit Pollen beladen, zur Landung an.
Im Inneren des Bienenstocks herrschte ebenfalls Hochbetrieb. Ganz besonders aufgeregt ging es in der Ecke zu, wo die Bienenschule untergebracht war. Die kleinen Bienen waren mächtig aufgeregt, denn heute war Wandertag angesagt. Voller Ungeduld summte alles durcheinander, während man auf Frau Sabine, die Lehrerin, wartete. Als die endlich eintraf, dauerte es eine Weile, bis einigermaßen Ruhe eingetreten war.
„Heute ist unser zweiter Wandertag“, sagte Frau Sabine und fuhr fort: „Das Rapsfeld kennt ihr ja bereits. Deshalb fliegen wir heute etwas weiter, bis zu einer großen Wiese, wo eine Menge Blumen blühen, die ihr nun kennenlernen sollt. Ihr werdet sehen, da sind richtig tolle Sachen dabei.“
„Ist das sehr weit?“, fragte die kleine Susine.
„Na, hoffentlich nicht“, summte die dicke Praline, die immer am langsamsten flog und trotzdem ständig außer Puste war.
„Dann streng dich ein bisschen an, sonst wird nie eine vernünftige Arbeiterin aus dir.“, schnauzte Biene Christine, die Klassenbeste.
„Also Kinder! Folgt mir!“, rief Frau Sabine und führte die Gruppe zum Flugloch.

Kurz darauf hing der kleine Schwarm bereits in der Luft. Sie flogen über das riesige Rapsfeld, auf dem die ganze Klasse schon bei der Bestäubung mit geholfen hatte.
Dann kamen sie zu einem kleinen Dorf, und als sie das umrundet hatten, sahen sie auch schon die große Wiese. Sie lag an einem steilen Abhang, der vom Wald bis fast ans Dorf herab reichte.
„Na endlich“, schnaufte die dicke Praline und ließ sich auf der erstbesten Blüte nieder.
Auch Karline, Gesine, Clementine, Hermine und all die anderen – deren Namen sich übrigens alle mit ihrer Endsilbe auf „Biene“ reimten – suchten sich nun Blumen aus. Es gab so viele unterschiedliche und lecker aussehende Blüten, dass die Wahl richtig schwer fiel. Aber man hatte ja Zeit und würde alles in Ruhe probieren können.
Schon bald waren alle fleißig beim Pollensammeln und Nektarschlürfen. Die Be-stäubung erledigte sich dabei ganz automatisch.
Nur Christine und Hermine konnten sich noch nicht so recht entscheiden. Zu bunt war die Vielfalt.
Doch plötzlich rief Christine: „Guck mal! Dort drüben am Waldrand – ist das eine Riesenblume! Die ist ja mindestens fünf Meter hoch!“
Und schon flogen die Beiden dort hin. Natürlich handelte es sich nicht um eine Blume, sondern um einen uralten knorrigen Apfelbaum, der voller rosaroter Blüten stand. Aber das konnten Hermine und Christine nicht wissen, denn sie hatten noch nie einen Apfelbaum gesehen.
Sie flogen also mitten hinein in diese Pracht, schlürften was das Zeug hielt und stopften sich die Beintaschen randvoll mit dicken Pollen.
„Och – ich kann kaum noch fliegen“, stöhnte Hermine nach einer Weile und strich sich über den prallen Bauch.
„Du musst nicht so schlingen“, mahnte Christine altklug. „Nektar muss man genießen“, setzte sie belehrend hinzu.
„Wenn es aber so gut schmeckt“, summte Hermine zurück, während sie es sich auf einem Blatt bequem machte, um ein wenig zu verschnaufen.
Doch plötzlich wurde sie von einem lauten Geräusch so erschreckt, dass sie fast vom Blatt gerutscht wäre.
„Tack, tack, tack, tack tack!“, machte es über ihr, und die Töne kamen so rasend schnell, das sie fast zu einem einzigen Rattern zusammenflossen.
„Hast du das gehört?“, fragte Hermine und war vor Schreck ganz blass geworden.
„Ja klar. Das klang richtig unheimlich. Was mag das…?“
„Tack, tack, tack, tack tack!“
Unwillkürlich zogen die Bienenkinder die Köpfe ein. Erst als sie merkten, dass ihnen von dem Getacker keine Gefahr drohte, schauten sie in die Richtung, woher diese Geräusche kamen.
Und dann sahen sie plötzlich über sich einen hübschen bunten Vogel, der sich mit den Krallen an den Stamm klammerte und mit seinem spitzen Schnabel in einem Wahnsinnstempo gegen den Stamm drosch.
„Der hat sie doch nicht mehr alle“, summte Christine ganz leise. So summen Bienen, wenn sie kichern.
Da der komische Vogel mit sich beschäftigt schien, hoben die beiden Bienenkin-der vom Blatt ab, schraubten sich nach oben, um sich das Ganze aus der Nähe anzusehen.
„Tack, tack, tack, tack tack!“
Und während der Vogel hämmerte, flogen winzige Holzspäne durch die Luft.
„Heh, was machst du denn da?!“, rief Christine mutig. „Du hackst ja unsere schöne Blume kaputt.“
Der Vogel schaute sich um, und als er die Beiden entdeckt hatte, blinkerte er ein paarmal ratlos mit den Augen, ehe er fragte: Was für eine Blume? Und wer seid ihr denn überhaupt?“
„Ich bin Biene Christine!“
„Und ich die Biene Hermine! Und wir wollen nicht, dass du unsere Riesenblume kaputt machst!“
„Häh?“
Der Vogel ließ eine Weile den Schnabel offen stehen, dann schien er zu kapieren und fing an zu lachen.
„Das ist keine Blume, sondern ein sehr alter Apfelbaum. Und ich hacke jetzt ein Loch in den knorrigen Stamm. Eine richtige Höhle, und darin werde ich wohnen. Übrigens – ich heiße Sandra Specht.“
Mehr sagte Sandra nicht, denn schon warf sie wieder ihren Kopf in den Nacken und drosch wieder wie eine Wilde auf den Stamm ein.
„Apfelbaum – aha“, murmelte Christine. „Jetzt erinnere ich mich. Frau Sabine hat das im Unterricht erwähnt.“
„Da muss ich krank gewesen sein“, summte Hermine und beobachtete faszinieret, wie Frau Specht den Stamm bearbeitete.
Als die mal kurz inne hielt, fragte Hermine: „Sag mal. Davon muss man doch wahnsinnige Kopfschmerzen kriegen.“
„Gesund ist das ganz bestimmt nicht“, grinste Christine. „Man sagt ja auch über jemanden, der nicht ganz richtig im Kopf ist: Der ist behämmert.“
„Nun werdet mal nicht frech, ihr Gören!“, knurrte Frau Sandra Specht, und drohend setze sie hinzu: „Wenn ich wütend bin, fresse ich auch kleine Bienen.“
„Los, weg hier!“, raunte Christine und flog hinunter zum Fuß des Stammes, um in dessen Umfeld nach Blumen zu suchen.
„Nun guck dir das an!“, rief sie plötzlich. „Dieses komische Gewächs hier hat unzählige Stängel, aber keine einzige Blüte mehr!“
Christine versuchte, auf einem der Stängel zu landen, fuhr aber mit einem lauten „Autsch“ gleich wieder in die Luft.
„Die Dinger sind ja ganz spitz.“
„Das ist gar keine Blume. Das ist bestimmt ein Kaktus“, vermutete Hermine. Auch darüber hatten sie in der Schule gesprochen.
„Kaktusse sind aber grün“, sagte Christine in belehrenden Ton.
„Das heißt Kakteen“, verbesserte Hermine und freute sich, mal mehr zu wissen als die kluge Christine.
Eine Weile umkreisten sie noch das graue stachlige Kugelding und wollten gerade weiter fliegen, als sich die Kugel ein wenig bewegte. Und unter dem Stachelwald kam plötzlich eine kleine spitze Schnauze hervor, die sich schnüffelnd hin und her bewegte, ehe schließlich ein ganzer Kopf sichtbar wurde. Zwei blanke Kulleraugen verfolgten misstrauisch die umher schwirrenden Bienen.
„Das ist gar keine Pflanze. Das ist ein Tier“, stellte Christine fest.
„Lass uns verschwinden“, japste Hermine. „Ein Tier mit so vielen Stacheln, das muss eine Monster-Biene sein.“
„Bin keine Biene“, schnaufte es plötzlich. „Ich heiße Igor Igel. Habt ihr meine Mama gesehen?“
Die Stimme dieses Kugeltieres klang verheult. Gefährlich schien das Wesen trotz seiner tausend Stacheln nicht zu sein.
„Hast du ein Problem?“, fragte Christine, die näher heran geflogen war und nun sah, wie sich die Augen des kleinen Igels langsam mit Tränen füllten.
„Meine Mama iss weg“, kam es wehleidig zurück.
Und dann erzählte Igor, wie er mit seiner Mutter und den beiden Geschwistern im Wald unterwegs gewesen wäre, um nach Fressbarem zu suchen. Auf einmal habe er einen fetten Käfer gesehen, den er fangen wollte.
„Ich bin also hinterher, aber der Käfer war ziemlich schnell. Dann verschwand er im Laub. Als ich gerade nachgucken wollte, wo er sich wohl versteckt haben könnte, stand plötzlich ein Fuchs vor mir. Ein riesengroßer mit einem wahnsinnig langen Schwanz und einem Maul voller scharfer Zähne. Ich habe mich sofort zusammengerollt, so wie es Mama mir gezeigt hat. Doch der Fuchs hat immer mit den Pfoten gestupst, weil er mich auf den Rücken drehen wollte. Ich hatte vielleicht eine Angst. Dann hat er mich so derb gestoßen hat, dass er sich an meinen Stacheln verletzt haben muss. Ich hörte noch, wie er aufheulte, aber der Stoß war so heftig, dass ich einen steilen Abhang hinunter gerollt und hier auf der Wiese gelandet bin. Der Fuchs war weg, aber Mama auch.“
Bei seinen letzten Worten schniefte Igor wieder herzzerreißend.
„Deine Mama sucht dich ganz bestimmt schon“, versuchte Hermine zu trösten.
„Aber wie soll sie mich finden – in dem hohen Gras“, schluchzte Igor.
„Ich frag mal die behämmerte Susi“, sagte Christine und schwirrte hoch zur Frau Specht.
Sie wartete ab, bis die eine Pause einlegte und sagte dann: „Hör mal. Du sitzt doch schon lange hier oben. Hast du die Igel-Mama gesehen?“
„Die was?“
Christine erzählte, was dem kleinen Igor zugestoßen war. Frau Specht hörte bis zu Ende zu und hatte ein ganz ernstes Gesicht, als sie sagte: „Das ist schlimm. Wenn Igor die Mama nicht findet, überlebt er das nicht. Er ist noch viel zu klein, um allein zurecht zu kommen. Die Frau Igel muss schnell gefunden werden.“
Susi Specht schien zu überlegen, und auch Christine dachte angestrengt nach.
„Ich hab’s!“, rief sie schließlich. „Wir trommeln die ganze Klasse zusammen und machen einen Such-Flug durch den Wald.“
„Ich weiß etwas Besseres“, sagte Susi Specht und legte den Kopf weit in den Nacken. „Ich sende eine Nachricht.“
Und schon ging es los
“Tack, tack, tack – tack – tack – tack tack… und so weiter.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Susi endlich fertig zu sein schien.
„Und was sollte das jetzt?“, fragte Christine.
„Das waren Klopfzeichen. Diese Art der Verständigung beherrschen alle Spechte. So können wir uns auf weite Entfernungen verständigen.“
„Und was hast du geklopft?“, wollte Christine wissen.
„Der Spruch lautete: Igel Igor sucht seine Igel-Mama. Wartet auf Wiese am Apfel-baum.“
„Cool“, staunte Hermine, die soeben neben Christine auf einem Blatt gelandet war.
„Hoffentlich funktioniert das auch. Es kann doch sein, dass…“
„Still!“
Susi hatte den Kopf schief gestellt und schien angestrengt zu lauschen.
Und jetzt hörten es die Bienenkinder auch. Im Wald war jemand ebenfalls am Klopfen.
„Das ist Gisela Grünspecht.“
„Und was meldet sie?“
„Ruhe! Jetzt höre ich Opa Siggi, den Schwarzspecht.“
Eine gute halbe Stunde mochten die Klopfzeichen hin und her gegangen sein, als Susi plötzlich sagte: „Mama-Igel wurde gefunden und ist schon auf dem Weg hierher.“
„Cool“, wiederholte Hermine. „Das muss ich gleich dem Igor sagen.“
Auch Christine kehrte auch zu dem kleinen Igel zurück, nachdem sie sich bei Susi für ihre Hilfe bedankt hatte. Doch Susi Specht hörte gar nicht hin, sondern meißelte schon wieder an ihrer Wohnhöhle.
Den beiden Bienenkindern gelang es, den Igor einigermaßen zu beruhigen. Sie versuchten ihm die Wartezeit zu verkürzen, indem sie ihm lustige Geschichten aus der Bienenschule erzählten.

Endlich hörte man es im Gras mächtig schnaufen. Mama Igel kam auf ihren kurzen Beinen eilig durch das Gras gestürmt. Igor gelang bei ihrem Anblick sogar ein Freudenhüpfer.
Im gleichen Moment ertönte hinter ihnen ein vielstimmiges Summen.
„Ach hier steckt ihr!“, vernahmen sie die Stimme von Lehrerin Sabine, die schon den Rest der Klasse um sich geschart hatte. „Kommt Mädels – wir müssen nach Hause.“
„Tschüs Igor! Vielleicht sieht man sich mal wieder!“, rief Hermine.
Der drehte sich trotz aller Wiedersehensfreude um und winkte den Bienen zum Abschied. Und als sie schon im Abflug begriffen waren tönte ihnen noch ein „Herzliches Dankeschön“ von Mama Igel hinterher.
Sind alle da?“, fragte Sabine und versuchte durchzuzählen.
„Praline fehlt!“, rief jemand.
„Los suchen!“, befahl die Lehrerin.
Die Bienen schwärmten aus und suchten die Wiese ab. Sie fanden die Dicke schlafend auf einer saftigen Löwenzahnblüte.
Als man sie geweckt hatte, rieb sie sich verschlafen die Augen und sagte:“ War das ein spannender Wandertag. Ihr glaubt gar nicht, was ich im Traum alles für Abenteuer erlebt habe.“
Was sie dann noch erzählte, ging im Gelächter der Anderen unter.
 



 
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