flammarion
Foren-Redakteur
Enschulljen Sie bitte, det ick mir hier zu Wort melde, aba det Janze is n schrecklicha
Irrtum. Det Leehm, meine ick. Nee, nich det Leehm an sich, sondan, wie wir mitnanna umjehn. Wir beurteiln - ratz, batz - n Menschn nach m erstn Oorenblick, un kümman uns n Scheißdreck dadrum, wie er so jeworn is wie er is. Aba jeda is n Produkt seina Zeit un seina Umjebung. Allet nur ne Frare der Aziehung, wa. Un det will ick hier ma jesaacht haam. Un enschulljen Sie bitte, wenn ick manschma int Hochdeutsche vorfalle - det ha ick ja denn ooch ma in ne Schule jelernt, wa, - aba det meiste uff die nachfoljendn Seitn vaschteehn womööchlich bloß so ne Leute, die damals bei mir um me Ecke jewohnt haam. Also ick fang denn ma jetz am bestn mit n Anfang an. Am Anfang jab et mir noch jar nich, sondan bloß zwee Familien, die sich üüübahaupt nich kanntn und ooch nie nich kennjelernt haam, neemlich eene Familie Seeger in Berlin und eene Familie Hellings in Bayern.
Vor meiner Zeit
Alles, was hier geschrieben steht, ist genauso in meiner Erinnerung. Es ist möglich, dass das, was ich nicht selbst erlebt habe, ein klein wenig anders stattgefunden hat. Die Kenntnisse über meine Familie habe ich zumeist bei Familienfeiern abgelauscht, einiges aus den Gesprächen zwischen Ida und ihrer Schwester herausgehört und nur ganz wenig von meiner Mutter erfahren, denn sie sprach nur selten über ihre Verwandtschaft. Ihr Vater war Oberlehrer in einer bayerischen Kleinstadt, ihre Mutter entstammte einer angesehenen Kaufmannsfamilie. Meine Mutter war Einzelkind und verwand bis zu ihrem Tode nicht, dass sie ein Internat zu besuchen hatte. Dort lernten die Mädchen außer Handarbeiten, kochen und Wirtschaftsführung auch zeichnen, musizieren und tanzen. Meine Mutter konnte mit 45 Jahren noch immer wie eine Ballerina auf Zehenspitzen tanzen, und das bei einem Gewicht von 75 kg auf 150 cm Scheitelhöhe! Obendrein hatte sie so kleine Füße, dass ihr Kinderschuhe passten.
Familie Hellings war vornehm und hatte ein Dienstmädchen, von welchem Frau Hellings sich "gnädige Frau" titulieren ließ.
Im Jahre 1935 trennte sich meine Mutter von ihren Eltern und zog - gerade 23 Jahre alt - nach Berlin, wo sie im Stadtbezirk Prenzlauerberg in einem Haus aus der Gründerzeit in der Marienburgerstraße zur Untermiete wohnte. Als ich 50 Jahre später mit meinen Kindern in die Winsstraße zog, schmunzelte ich oft beim Betreten dieser Straße: Hier wollte deine Mutter ein neues Leben beginnen, genau wie du jetzt! Bei Mama reichte das Geld damals nicht für eine eigene Wohnung, obwohl sie gleich Arbeit fand, nämlich als Näherin in einem Textilbetrieb. Von ihren ersten Ersparnissen kaufte sie zwei schwarze Stühle mit hohen, geschnitzten Lehnen. Sie musste die Stühle selbst nach Hause tragen, denn Kleinmöbel wurden nicht geliefert und in die Straßenbahn durfte man damit nicht einsteigen.
Wie sie so schwer beladen die Straße entlang keuchte, wurde sie von einem Lumpensammler angesprochen, der sie mit seinem Karren überholte. Auf dem Karren war noch Platz, so bot er an, die Stühle aufzuladen. Meine Mutter nahm die unverhoffte Hilfe dankbar an und griff auch selbst nach der Deichsel, um ziehen zu helfen und um sicherzustellen, dass der Helfer nicht mit ihrem Besitz davonläuft.
Auf dem kilometerlangen Weg waren die Lebensläufe bald ausgetauscht. Elly Hellings erfuhr, dass Otto Seeger verwitwet war und seine drei Kinder Hermann, Paul und Grete bereits verheiratet waren. Paul und Grete habe ich nie kennen gelernt, Hermann nur einmal gesehen. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde er unsere Tante Ida besuchte, es war kein besonderer Tag, nicht einmal Sonntag. Als ich aus der Schule kam, sagte Ida zu mir: "Saach ma aatich "Jutn Tach", det is dein Bruda aus deinn Vata seine erste Ehe."
Ich war stark beeindruckt, einen so viel älteren Bruder zu haben. Nach wenigen Minuten fasste ich so viel Vertrauen zu ihm, dass ich ihm meine Gedichte zeigte. Ich hatte in den Jahren 1954 - 58 die Dichtkunst für mich entdeckt und schrieb unzählige Gedichte, manchmal drei an einem Tag, kurze Gedichte über Alltagsdinge und lange, poesievolle über Menschenschicksale und den "Gang der Welt".
Er las sie und bewunderte meine literarische Reife. Ida sagte: "Jaja, die Jöre hat ne reje Fantasie. Weeß der Deibel, wo se det her hat und wat dadraus noch weern soll." Ihrem Tonfall nach war Phantasie eine bösartige Krankheit. Als Otto hörte, dass Elly erst vor kurzem nach Berlin gezogen war, bot er sofort an, ihr die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, sie in die Kulturstätten zu führen und sie mit den Berliner Gepflogenheiten vertraut zu machen. Da sie noch keine Bekanntschaften geschlossen hatte - den ewig schnatternden Kolleginnen aus der Fabrik mochte sie sich nicht anschließen, zumal sie von ihnen oft wegen ihrer Sprechweise gehänselt wurde, sie sprach nämlich hochdeutsch! - nahm sie die Einladung gerne an.
Im Laufe der Zeit wurde aus ihnen ein Paar. Mein Vater war damals 48 Jahre alt, gerade gewachsen, kräftig und stattlich. Mit seinem hochgezwirbelten Schnurrbart, den gut frisierten Haaren und den großen blauen Augen war er trotz seines schäbigen Gewerbes eine beeindruckende Erscheinung. Obendrein wusste er meine Mutter mit allerlei Schnurren und Possen trefflich zu unterhalten, sodass sie ihm trotz des Altersunterschieds bald ihr Jawort gab.
Mein Vater war ein Sohn des Gastwirts Hermann Seeger. Dieser hätte seinen Lebensunterhalt auch als Opernsänger verdienen können (er verfügte über einen volltönenden Bass), aber eine Gaststätte zu führen, erschien ihm solider. Er kaufte nahe der Hauptstadt ein Ausflugslokal, brachte das Geschäft auf Hochtouren und verkaufte es mit Gewinn.
Seine Nachfolger ahnten nicht, dass die Gäste ausbleiben, wenn nicht mehr mit Gesang ausgeschenkt wird. Zwanzig Gaststätten sollen durch seine Hände gegangen sein, und natürlich hatte auch Familie Seeger Dienstmädchen, die ihre Brotgeber allerdings mit "Chef" und "Chefin" anredeten. Irgendwann hatte Ernestine Seeger das Wanderleben satt und bat ihren Mann, in Berlin-Weißensee ein Haus zu kaufen. Er kaufte noch ein Fischgeschäft dazu, womit er bis an sein Lebensende - er wurde 84 Jahre alt - sich und seine Familie ernährte. Seine Frau wurde 82 Jahre alt und hat ihren Mann nur um drei Monate überlebt.
Durch den ständigen Wohnortwechsel wurden kaum zwei der Seeger-Kinder im selben Dorf geboren. Hermann schwängerte seine Ernestine mindestens einmal im Jahr. Sie erlitt mehrere Fehlgeburten.
Letztendlich waren zwölf Kinder zu ernähren, acht Töchter und vier Söhne. Vier dieser zwölf Kinder verstarben im Kleinkindalter. Von den verbliebenen acht Onkeln und Tanten lernte ich außer der ältesten Seeger-Tochter Ida nur Tante Rosa kennen. Onkel Paul wanderte nach Amerika aus, um nicht als Soldat eingezogen zu werden. Er schrieb drei Briefe, dann hörte man nichts mehr von ihm. Alle anderen Onkel und Tanten sind vor meiner Geburt verstorben.
Aber ich habe Fotos von ihnen gesehen und hörte, dass sie zuletzt fast alle in Weißensee lebten. Die ewig kränkelnde Tante Malchen z.B. wohnte in der Charlottenburgerstraße in einem hässlichen grauen Haus. Um ihr im Notfall beistehen zu können, zog mein Vater mit seiner jungen Frau während des Krieges in ihr Haus, genauer gesagt ins Hinterhaus. Und das war gut so, denn wenige Tage später schlug eine Bombe dort ein, wo meine Eltern bislang wohnten.
Tante Malchen hatte eine Zweiraum-Wohnung mit Bad, wir hatten eine Einraum-Wohnung mit Kammer. Unsere Wohnungstür war gleichzeitig die Küchentür, jeder Besucher stand bei uns also gleich in der Küche neben dem Herd. Die nächste Tür führte in die Stube; durchschritt man die Stube, kam man zur Kammertür. In dieser Kammer schliefen meine Brüder. Es gab hier weder Fenster noch Heizung. Die Toilette befand sich auf dem Hof, ein Plumpsklo. Es wurde von drei Mietparteien genutzt. Beim Gedanken an diese "Wohnung" bekomme ich noch heute Albträume, denn unter dem einen Fenster hingen die Dielen so tief durch, dass wir in den darunter liegenden Keller blicken konnten.
Außerdem hatte die Wohnung keine Doppelfenster; wenn man auf eine bestimmte Weise von außen an den Fenstern rüttelte, sprang der Riegel zurück und man konnte so auch ohne Schlüssel oder große Gewaltanwendung in die Wohnung einsteigen. Obendrein war der Schwamm schon bis in die Etage über uns gezogen . . .
Mein Vater hoffte, nach dem Tod seiner Schwester deren Wohnung übernehmen zu können, aber als es soweit war, konnte er die vom Hauseigentümer geforderte Kaution nicht zahlen. Er hatte als Lumpensammler ein kümmerliches Leben, auch wenn er sich stolz "Produktenhändler" nannte.
Er zog mit seinem Karren von Hof zu Hof und rief mit melodischer Stimme: "Lum - pen, Kno - chen, Alt - papier, auch Me - tall bringt her - zu mir!" War der Wagen voll, zog er ihn zu seinem "Laden".
Er hatte unweit seiner Wohnung eine Waschküche gemietet, wo das Gesammelte gereinigt, sortiert und zwischengelagert wurde. Die Flaschen mussten gespült werden, das Papier musste geglättet, sortiert und gebündelt werden, die Lumpen mussten sortiert und gewaschen werden, dann wurden sie zu Ballen gepresst.
Mein großer Bruder war sehr stolz, wenn er die Presse bedienen durfte. Es ist ein schönes Gefühl, nützlich zu sein! Namentlich für ein Kind.
Als meine Schwägerin um 1975 ihren Sohn ein "unnützes Kind" schimpfte, war ich darüber so entsetzt, dass ich sie jahrelang nicht mehr besuchte.
Das Metall wurde ebenfalls sortiert und an bestimmten Tagen vom Großhandel abgeholt. Wenn mein Vater mal das Glück hatte, auf den Höfen nur saubere Flaschen und gebündeltes Papier zu erbeuten, ging er damit sofort zum Großhandel und setzte den Erlös in Schnaps um. Er konnte es nicht verwinden, dass er in den letzten Kriegstagen - obwohl K.u. beglaubigt - doch noch zum Volkssturm eingezogen wurde. Manchmal trank er so viel, dass meine Mutter ihn aus der Kneipe abholen und auf seinem Wagen nach Hause ziehen musste. Am anderen Tag schimpfte sie dann mit ihm, aber er blieb unverbesserlich.
Reden wir nun von der Person, bei der ich meine Kindheit erlebte. Ida war die älteste der Seeger-Geschwister. Ihrer Obhut waren sie alle anvertraut. Ihre Kindheit und Jugend bestand aus Kinderbetreuung und dem abendlichen Bedienen der Kneipengäste, bis der Beamte Karl Seele sie ehelichte. Leider war es ihr nicht vergönnt, Kinder zu gebären. Und sie wäre so gern Mutter! Es gab die Möglichkeit der Adoption, aber dazu musste das Ehepaar nach den damaligen Bestimmungen mindestens 50 Jahre alt sein oder jede Möglichkeit, eigene Nachkommen zu haben, musste ausgeschlossen sein.
Ihr Bruder Oskar erwischte 1910 seine Ehefrau mit einem anderen Mann im Bett, ließ sich scheiden und gab seinen erst wenige Monate alten Sohn Bruno bei Ida in Pflege. Onkel Bruno - wie ich ihn nennen durfte - lebte bei Ida bis zur Eheschließung mit seiner Lotte.
Von dieser Familie S. ist später noch ausführlich die Rede. 1922 ging Ida Seele mit Mann und Pflegesohn an einem sonnigen Sonntag spazieren. Sie kamen an einer Kneipe vorbei, vor der ein Kinderwagen stand mit einem schreienden Bündel Mensch darin. Ida meinte, dem Kind sei vielleicht der Schnuller entglitten und beugte sich über den Wagen, um zu helfen und prallte entsetzt zurück. Das Kind war gewiss über ein Jahr alt, dem Wagen also längst entwachsen. Es war schmutzig, die blonden Löckchen verklebt, das Gesicht voller Schorf und Eiter.
Als Ida die Sprache wieder gefunden hatte, stürmte sie mit dem Kind auf dem Arm in das Lokal, fragte, wem das Kind gehört und teilte der halbbetrunkenen Mutter mit, dass sie es mitnimmt. Sie gab der Rabenmutter ihre Adresse und sagte ihr, dass sie das Kind nicht wieder hergeben wird, denn da ihr Mann Beamter ist, ist es ihr auch am Wochenende möglich, diesen unglaublichen Fall von Kindesvernachlässigung zu protokollieren.
So kam es dann auch. Die kleine Gerda wurde der Ida und ihrem Mann zur Adoption freigegeben. Allerdings forderte die Kindesmutter eine gewisse Geldsumme, die Karl Seele ihr auch gab, obwohl die Dame laut amtlicher Verfügung kein Recht hatte, irgendetwas zu beanspruchen.
Karl neckte die kleine Gerda später oft mit der Bemerkung: "Dich haben wir uns jekooft."
Nach Gerdas Tod bekam ihre Tochter auch die Papiere von Karl zu sehen. Darin stand, dass er nicht Beamter, sondern Kohlenplatzarbeiter war . . .
Durch die arge Vernachlässigung - wie es sich herausstellte, sollte nach dem Willen der Mutter das ungeliebte Kind nicht am Leben bleiben; sie pflegte es auf einem Eisblock schlafen zu legen, daher hatte es Erfrierungen im Gesicht und blieb lange ein unansehnliches Mädchen mit schiefem Mund - war die kleine Gerda nervös, schlief sehr unruhig und behielt in der ersten Zeit wenig Nahrung bei sich.
Aber Ida war sehr versiert in Kinderpflege, und bald entwickelte die kleine Gerda sich zu einem lebensfrohen Menschenkind.
Als sie alles Herbe überwunden hatte und auch der "(so genannte) große Bruder Bruno" aus dem Haus war, wollte Ida nicht, dass Gerda als Einzelkind heranwuchs. Sie meinte, dass Geschwister leichter zu erziehen seien.
So ging sie im Frühjahr 1928 mit Gerda zum Weißenseer Waisenhaus, wo sich das sechsjährige Mädchen ein Geschwisterchen aussuchen durfte. Die Wahl fiel auf die fünf Monate alte Irmgard Selling (später kurz Irma genannt). Irma hatte noch mehrere Geschwister, die alle im Waisenhaus lebten. Ihre Mutter „arbeitete" nachts auf der Straße (sie verkaufte ihren Körper), da kam ab und zu solch ein "Betriebsunfall" vor. Sie erlaubte nicht, dass eins ihrer Kinder adoptiert wird. Sie glaubte ernstlich, dass ihre Kinder sie später ernähren würden!
Ida setzte es durch, dass Irma wenigstens bei ihr leben durfte, so wuchsen Gerda und Irma wie Schwestern auf und hatten einander recht gern. Bald war Irma der Gerda über den Kopf gewachsen, und das in jeder Beziehung. Von Gerdas Einsegnung wurde ein Erinnerungsfoto gemacht. Darauf sieht man ihre großen blaugrauen Augen, ihre langen blonden Stocklocken und ihr Gesicht ist erleuchtet von Unschuld und Arglosigkeit.
Der Fotograf hatte dieses Foto sehr lange Zeit als Werbung für seine Kunst im Schaufenster zu hängen, ja, er gab es sogar zur allerersten Fotoausstellung, die seinerzeit (in Wien) stattfand, wo das Foto beinahe einen Preis errungen hätte.)
Während Gerda jedoch stets blass und durchscheinend blieb, wurde Irma bald ein kräftiges, hoch gewachsenes Mädchen mit roten Wangen und blitzenden Augen. Gerda lernte nach dem Schulabschluss Schneiderin, Irma Schlächtermamsell.
Gerda wurde mit 17 Jahren Mutter einer Tochter, die sie auf den Namen Waltraud taufen ließ. Sie hätte den Kindesvater gerne geheiratet, er war ja ihre erste große Liebe, aber während des elf Jahre dauernden 1000jährigen Reiches brauchte man zur Eheschließung den Arier-Nachweis.
Ida schickte Gerda zu ihrer leiblichen Mutter, um dieses Dokument zu erbitten, aber diese Dame dachte nicht daran, es herauszugeben, vermutlich besaß sie es auch gar nicht, denn sie war ja jeder Verpflichtung Gerda gegenüber enthoben.
Der junge Mann wurde 1943 in seine Heimat Italien zurückberufen und die Liebe verdorrte während vier Jahren Hoffens und Wartens.
Dann lernte Gerda einen gewissen Alfred Gruber kennen, den sie ein paar Monate später heiratete. Waltraud blieb bei Ida, weil die elterliche Wohnung zu klein war und auch, damit das junge Paar sich aneinander gewöhnen konnte und wenigstens die Flitterwochen in Ruhe genießen konnten.
Seit ich diese Fakten kenne, hat das Wort "Flitterwochen" für mich etwas Anrüchiges, den Beigeschmack des Negativen, denn diese Flitterwochen dauerten Jahre.
Damit Waltraud nun nicht als Einzelkind aufwachsen sollte, nahm Ida von einem Besuch bei ihrem Bruder Otto die fünf Monate alte Christa mit. Ich lag in meinem Wagen und plärrte aus irgendeinem Babygrund. Mein Vater sagte: "Nimm die Blaare mit, Ida!" Und sie nahm mich mit, obwohl ich noch zu jeder Mahlzeit gestillt wurde.
Zu meiner Mutter sagte sie: "Hab dir nich so albern!", und kaufte ihr eine Milchpumpe. Ida wusste ja nicht aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn die Milch in der Brust schwillt und es ist keiner da, der sie abtrinkt!
Meine Mutter konnte gegen diese Familie nichts ausrichten. Sie war streng katholisch erzogen worden (das Weib sei dem Manne untertan!), so ließ sie den Dingen ihren Lauf. Bald schlug das Schicksal auch noch auf andere Weise auf sie ein, aber davon später.
In den nächsten Kapiteln stelle ich meine Verwandten und unsere nächsten Bekannten in der Reihenfolge vor, wie ich sie kennen lernte.
Ida Seele
Zeit ihres Lebens nannte ich sie Oma. Nun ich aber - im Alter von über fünfzig Jahren - nicht mehr gewillt bin, die Vergangenheit zu verdrängen, kann ich diese Frau nur noch Ida nennen, denn heute weiß ich, dass sie mir keine Liebe gegeben hat, sondern dass ich für sie nur eine Beschäftigung war.
Immer wieder ließ sie es mich spüren, dass ich nur eine Last für sie war; zu allem zu dämlich, für alles zu klein, ein nutzloser Esser und obendrein noch laut. Ich verdrängte die Erinnerung an diese Frau, um sie nicht hassen zu müssen.
Wie in einer Zwingburg eingekreist von ihrem "Det dürfst de nich!", "Det sollst de nich!", "Det macht man nich!" und "Det brauchste nich!" wurde ich ein entscheidungsunfähiger Mensch.
Insbesondere hatte sie sehr radikale Vorstellungen davon, was ein MÄDCHEN darf und was nicht. Daher wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ein Junge zu sein. Jungs durften fast ebensoviel wie Erwachsene (nach dem, was ich aus Idas Äußerungen heraushörte).
Ich wurde von allen Seiten bevormundet und gedemütigt, und ich hielt das für ganz normal. Es war mein Leben, ich hatte kein anderes, bis ich mir - bereits im Alter von vier Jahren - eine Traumwelt erfand, in der alles anders und vor allem besser war, weil ich selber darin nicht vorkam.
Als ich noch sehr klein war, war Ida der Umgang mit mir angenehm. Da war ich noch niedlich in meinem Kinderwagen, wo ich - in dem Alter, wo die sich normal entwickelnden Kinder laufen lernen - gewöhnlich angebunden wurde, damit ich nicht hinausfalle. Auch in der Wohnung hatte ich stundenlang im Wagen zu sitzen.
Laufen lernte ich durch Gerda, Irma und Waltraud. Ida war es zu mühselig, weil sie sich hätte bücken müssen, um bei den Gehversuchen meine Hände zu halten.
Die Prügelstrafe war für sie das Natürlichste der Welt. In der Bibel steht: "Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie!" Als Dreijährige versuchte ich einmal, ihr bei der Küchenarbeit zu helfen. Sie wollte etwas aus der Speisekammer holen und ich wollte in der Zeit den Pudding umrühren, wie ich es bei ihr gesehen hatte. Aber ich reichte nicht so recht an den Topf heran und riss ihn versehentlich vom Herd, wobei mir der heiße Pudding die Haut verbrannte. Aber damit war ich noch nicht genug gestraft. Ida nahm den Rohrstock und schlug auf mich ein, bis ich wimmernd am Boden lag. Dann trat sie mich mit Füßen, bis sich ihre Wut über den Verlust des leckeren Puddings gelegt hatte.
Auch in den folgenden Monaten und Jahren drohte sie immer: "Wenn de nich aatich bist, denn sosste ma seehn, do, denn kannst de dein blauet Wunda aleehm, denn kannste dir aba freun, do, ick hau dir mit de Hand vakehrt in de Fresse, det die rote Suppe schpritzt!"
Natürlich habe ich Ida, Gerda, Irma und Waltraud sehr geliebt. Sie waren meine Familie, ich kannte ja niemand anderes, und vermisste daher auch nichts. Namentlich meinen Vater habe ich nie vermisst, zumal ich später von anderen Kindern immer wieder hörte, dass Väter nicht so lieb und "in Ordnung" sind wie Mütter. Ich war der festen Überzeugung, dass es in anderen Familien genauso war wie bei uns. Kinder, die keine Oma hatten, habe ich heftig bemitleidet, und andere, die zwei Omas hatten, ebenso heftig bewundert und beglückwünscht.
Oft kletterte ich auf Idas Schoß, um mit ihr zu schmusen. Ihre Gesichtshaut war so zart und weich; ich wurde nicht müde, sie zu streicheln und zu küssen. Doch schon nach kurzer Zeit schob sie mich von sich und sagte mit öliger Stimme: "Na, du alte Schmierkatze, schmier man nich so dicke, sonst haste morjen nischt mehr."
Dann wusste ich, dass die Minuten der gnädig entgegengenommenen Liebkosungen vorüber waren und wandte mich meinem Spielzeug oder meiner Traumwelt zu.
Häufig wurde ich von Waltraud oder Gerda geärgert. Wenn ich dann weinte, pflegte Ida in einem gewissen Singsang zu sagen: "Weene man nich, weene man nich, in de Röhre schtehn Klöße, die siehst de bloß nich!" Dann weinte ich noch heftiger, weil ich mich veräppelt fühlte, und Ida war ärgerlich.
Nahm die Streiterei mit Waltraud kein Ende, weil ich mich im Recht fühlte, sagten Ida und Gerda zu mir: "Mann, eh, der Klüjere jibt nach!"
Waltraud war sechs Jahre älter als ich, aber ich sollte der Klügere sein und nachgeben! Es war für mich der Gipfel der Ungerechtigkeit, dass nicht die Ältere, die obendrein der Angreifer war, sondern ich nachgeben sollte. Heute hoffe ich, dass Waltrauds Gezänk den Erwachsenen so kleinlich und lächerlich erschien, dass sie es nicht der Mühe wert hielten, sie zu ermahnen. Ich habe sehr darunter gelitten, dass Waltraud mich immer wieder ungestraft mit hässlichen Worten angriff.
Wenn Ida mir auf meine Fragen antwortete, dann meist mit Umschreibungen der Tatsachen oder gänzlich abweisend. Und ich hatte viele Fragen! Doch wenn ich diese Fragen dann an Gerda oder Waltraud richtete, bekam ich ähnliche Antworten wie von ihr. Sie waren ja auch von Ida erzogen worden und wussten es nicht besser.
So blieb ich unwissend und man amüsierte sich köstlich darüber, dass ich mit sieben Jahren noch an den Osterhasen, den Weihnachtsmann und den Klapperstorch glaubte und diese Geschöpfe gar heftig verteidigte, wenn jemand ihre Existenz anzweifelte.
Die ganze Familie fand es sehr niedlich, wenn ich in Babyworten sprach. Deshalb hatte ich mir diese Sprechweise richtig fest angewöhnt. Ich wollte, dass man mich lieb hat und man hatte mich lieb, wenn ich so plapperte. Ich merkte nicht, dass ich in Wahrheit ausgelacht wurde.
Irma korrigierte meine Sprechweise, und ich hasste sie dafür, ich glaubte allen Ernstes, dass sie mir die Zuneigung nicht gönnte! Noch im Alter von acht Jahren sprach ich manchmal "Babylatein", wenn ich erreichen wollte, dass Waltraud mit mir spielt.
War Waltraud nicht zu Hause, bat ich Ida, mit mir zu singen oder zu spielen. Mit dem Singen klappte es manchmal, meist sagte sie jedoch: "Mir is nich nach sing zumute." Oder sie stimmte ein Lied an, welches mir nicht gefiel: "Kommt de Panje Stadt hinein, ist so dreckig wie ein Schwein, dobsche, dobsche, dralla . . ."
Ich erfuhr von Irma, dass "Panje" ein Pole ist, aber ich bezweifelte, dass alle Polen dreckig sind, denn auf einer unserer Familienfeiern hatte Alfred gesagt: "Man kann nich ne janze Natzjon üba een Kamm scheern. Et jibt übaall so ne und solche."
Und ich wusste, dass Polen und Frankreich die den deutschen Landen zunächst gelegenen Nachbarn sind. Mit Nachbarn stellt man sich "auf guten Fuß"; ich wunderte mich, dass Ida für die östlichen Nachbarn nur böse Worte hatte - in unserem Haus und auch in den benachbarten war sie bestrebt, in Frieden und Freundschaft zu leben.
Aber die Polen waren für sie nur "Pollackn", die Franzosen jedoch ein achtbares Volk.
Mit mir zu spielen lehnte sie fast immer ab unter dem Hinweis auf ihr hohes Alter. Sie war sehr stolz darauf, so alt geworden zu sein und immer noch "rüßtich un fideel". Alle Bekannten und Verwandten sprachen ihr Komplimente für ihre aufrechte Haltung und ihren regen Verstand aus. So war sie damals für mich die liebste, beste und schönste Oma der Welt.
Ich war vier Jahre alt, als wir wieder einmal nach Pankow fuhren, um Gerda zu besuchen. Wir mussten sehr lange auf den Bus warten. Wir standen dicht an der Bordsteinkante, weil Ida als erste einsteigen wollte, um einen Sitzplatz zu bekommen.
Da sie mich zum Stillstehen zwang, begann ich, mir ein Märchen auszudenken und war bald tief in meine Träumerei versunken. Als der Bus urplötzlich direkt vor meiner Nase hielt, erschrak ich derart, dass ich aufschrie. Ida wunderte sich lautstark: "Du blödet Kamel, wat aschrickst du dir denn so? Wir sin doch schon efta mit den Bus jefahn!"
Ich zitterte immer noch. Sie sagte: "Mein Jott, du hast aba ooch vor allet Angst! Wat soll dadraus bloß noch wern!"
Als ich mich beruhigt hatte, erzählte ich ihr, dass ich mir gerade so ein schönes Märchen ausgedacht hatte. Daraufhin nannte sie mich eine "alte Drömdüte".
Kurz vor meiner Einschulung besuchte uns eine Amtsperson, um zu sehen, wie Ida - die ja immerhin die siebzig weit überschritten hatte - mit mir klarkam. Ida führte sie autoritär in die Stube und schlug mein Bett auf, damit die Amtsperson sehen konnte, dass sich keine dreckige Wäsche darin befindet, wie bei "anderen Leuten". Aber das wollte die Frau gar nicht wissen. "So?", meinte Ida, "denn jehn wa in de Kiche, da könn wa redn."
Nun musste Ida Fragen beantworten, auf welche sie nicht vorbereitet war. In der DDR gab es andere Kriterien als zu jener Zeit, wo sie Gerda bzw. Irma in ihre Obhut nahm. Unter anderem wurde sie gefragt, ob ich gestillt wurde? "Ja", krähte ich, "Oma saacht imma, det ick leise sein soll!"
Die Frau lachte: "So ist das nicht gemeint."
Ida wollte mich aus der Küche weisen, aber die Frau sagte: "Es ist in Ordnung, wenn die Kleine ihre Meinung sagt." Später - nach einem mir endlos erscheinenden Gespräch - richtete sie die Frage an mich, wie es mir denn bei der Oma gefällt? Ich äußerte nur Lobendes. Sie bohrte weiter und wollte unbedingt etwas Negatives hören. So sagte ich schließlich weinerlich, dass Ida abends im Bett immer noch lange liest und ich bei Licht nicht einschlafen kann.
Als die Frau gegangen war, verdrosch Ida mich für diese Worte und sagte: "Du krist jetz nich mehr von allet wat ab!" Mir blieb "die Spucke weg" - war es vorher anders?
Dann suchte ich mich zu verteidigen: "Die Tante hat doch solange jefraacht un du hast imma jesaacht, det ick jehorchn soll, wenn Awachsne wat wolln!", und ich weinte mir die Augen aus.
Schon als Siebenjährige schickte sie mich das Grab ihres Mannes, in welchem auch andere Familienmitglieder begraben waren, zu gießen. Ich goss die Pflanzen, denn ich kannte die Menschen nicht, die hier begraben wurden.
Später sah ich mich auf dem Friedhof um. Da waren viele Gräber, die nicht gepflegt wurden. Das stimmte mich traurig. Sah ich auf Gräbern pflegebedürftige Pflanzen, goss ich sie. Wenn ich ausgeschickt war, die Pflanzen auf dem Grab eines mir unbekannten Mannes zu gießen und erst zum Glockenläuten zurück erwartet wurde, warum sollte ich mich dann nicht auch umsehen?
Einmal fragte mich eine Witwe, in welcher Beziehung ich zu ihrem Manne stand? Ich sagte, das ich nur die Blumen gieße, damit sie nicht eingehen, denn sie sind ja so schön, müssen aber fast täglich gegossen werden. Ich fügte hinzu, dass ich auf dem gesamten Friedhof alle Blumen mit Wasser versorge. Nach diesem Gespräch unterließ ich es, fremde Gräber zu begießen.
Oft sagte Ida: "Der Mensch kann allet, er muss nur wollen!" Aber eben so oft sagte sie auch: "Kinder haben jar nischt zu wollen!" So dokumentierte sie unbewusst, dass Kinder in ihren Augen keine Menschen sind.
Nachdem ich lesen gelernt hatte, wurde ich ein eifriger Leihbibliotheksbenutzer. Die Bibliothek befand sich nahe der Schule. Ich lieh mir u.a. auch das Märchen "Die zwölf Monate" aus. Als ich es zur Hälfte gelesen hatte, kam Ida in die Stube und fragte: "Wat schmökerste denn da?"
Ich antwortete unwillig: "N russischet Volksmärchn."
Ida schnob verächtlich durch die Nase. Da tat es mir leid, dass ich so abweisend reagiert hatte und wollte die liebe Oma aufheitern. Ich kicherte: "Weeßte wat, die Russn nenn ihrn Könich "Majeschtätt!"
Ich war überzeugt davon, das Wort korrekt ausgesprochen zu haben. Ida sagte unwirsch: "Det hat dir janich zu intressiern, wie die Russn ihrn Könich nenn!", ohne mir zu erklären, dass das "sch" in diesem Wort nichts zu suchen hat.
Das erfuhr ich dann von Irma, als ich sie mit dem selben Satz zum Lachen bringen wollte. Da ich das Wort nicht kannte, hielt ich es für lächerlich. Wer weiß, wie viele Fehler dieser Art ich noch begangen hatte!
Über meinem Bett hing ein Familienfoto von 1910, wo die gesamte Familie Seeger abgebildet war, meine Großeltern, sechs junge Mädchen und zwei junge Männer. Einer davon war mein Vater.
Ich glaubte anfangs, dass die Mädchen alle den gleichen Hut trugen, dann sagte Waltraud: "Kiek ma richtich hin, det sin Zöppe, die haam se sich so jeschickt um n Kopp jewickelt, det det nu wie n Hut aussieht!"
So war es auch, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass man so lange und dicke Zöpfe haben kann. Die Mutter auf dem Bild wirkte abgehärmt, der Vater müde, die jungen Männer stolz und zufrieden, die jungen Mädchen unwirsch, mürrisch und verbittert.
Immer wieder ließ ich mir erklären, wer wer war, denn über diese Fotografie redete Ida gern, bis sie mich eines Tages abwies: "So langsam müßteste det alleene wissn."
Über Idas Bett hing die Reproduktion eines Gemäldes. Ida nannte es "Der Mohr von Venedig". Es zeigte den Festsaal eines vornehmen Hauses. In der Mitte stand auf einem Podest ein Prunksessel, auf welchen sich ein edel gekleideter Mann mittleren Alters in hochmütiger und zorniger Haltung stützte, ein paar Schritte vor ihm stand ein ebenso edel gekleideter Schwarzer, die Hände anklagend und bittend erhoben, und am linken Bildrand stand eine Blondine in einem zauberhaften Brautkleid. Der Schleier war ihr vom Kopf gerissen worden und lag fast zu ihren Füßen (die unzähligen Rüschen hatten ihn festgehalten), und sie weinte in ihre Hände, die sie vor das Gesicht gelegt hatte.
Ich fragte Ida nach der Bedeutung des Bildes und sie sagte: "Det bedeutt, det ne Weiße keen Neeja heiratn soll, sowat bringt nur Unjlück."
Als ich zwölf Jahre alt war und Ida schon seit längerem fast gar nicht mehr mit mir sprach, war ich ihr nicht mehr so zugetan. Sie erteilte nur noch Anweisungen: "Jeh innkoofn!" - "Komm essn!" - "Räum det wech!" - "Jeh schlafn!" Sehr selten richtete sie andere Worte als diese an mich. Es gab nichts, worüber wir miteinander hätten reden können. Sie wies mich stets ab, wenn ich von meinen Erlebnissen erzählen wollte. Sie waren ihr unwichtig und lästig.
Ida benutzte viele ungebräuchliche Formulierungen. Z.B. hieß die Kasserolle bei ihr "Kastrolle", eine Nachbarin hatte „Jaljenschteine“ anstatt Gallensteine, die Fußbank hieß "Hutsche", die Hausschuhe "Mauken", die Füße "Quanten", der Kopf "Omme" und jeglicher Schmetterling "Mottnscheißa" (jegliches Insekt - außer den Bienen - galt ihr als Ungeziefer).
Hielt sich jemand bei einer Tätigkeit ungebührlich lange auf, dann tat er es "bis Unnepfingsten". Gegenstände jeglicher Art hießen bei ihr "Bagaasche" oder "Rabeiken", und mit "Penunse" bezeichnete sie einen hohen Geldbetrag. Ein Karventsmann wurde bei ihr zum Karenzmann, der Veitstanz zum Feixtanz, an ihrem Kopftuch hatte sie Franjen anstatt Fransen und Kranke schickte sie in Quarankteene. Und wenn jemand in einem "Mülljöh" (Milieu) lebte, sollte man keinen Umgang mit ihm pflegen.
Ich war etwa 13 Jahre alt, als Ida der Nachbarin Grete L. ihr Leid über meinen Wissensdrang klagte. Grete L. stauchte mich tüchtig zusammen und gebot mir, die liebe Oma in Ruhe zu lassen. Sie schloss mit den Worten: "Wat willst du eijentlich von die alte Frau?"
Damals warf ich nur den Kopf zurück und schwieg. Ich war nicht in der Lage, meine Anklage in Worte zu fassen. Mir ging durch den Sinn: Ich will die Wahrheit! Ich will zu meiner Mutter und zu meinen Brüdern! Ich will eine richtige Schwester sein dürfen und nicht nur eine Adoptivcousine haben, die höher geachtet wird als ich! Ich will die Liebe meiner Mutter und nicht diese grauenhafte Bevormundung durch eine Tante und den Personen, die ihr genehm sind! Ich will mein Leben!
Wenn ich all dies damals heraus geschrieen hätte, hätte Grete L. mir empfohlen, einen Irrenarzt aufzusuchen, denn ich hatte es doch so gut bei Oma Seele. Ich hatte ein sauberes Bett, satt zu essen und saubere, unbeschädigte Kleidung. Mehr braucht ein Mensch nicht. Erst recht nicht, wenn man nur ein Kind ist. Ich hätte glücklich sein müssen über dies schöne Leben. Was wollte ich also? Es hätte nur eines Satzes bedurft: "Wenn sie mich schon von meiner Familie trennte, dann soll sie sich gefälligst auch mit mir beschäftigen!"
Hätte ich diesen Satz ausgesprochen, wäre mir geantwortet worden: "Wat hast du schon for ne Famielje!"
"Christa" war damals ein Modename. Also riet Grete L. dazu, denn ich war ja "kurz nach Weihnachten" - am 30. Januar! - geboren worden. Die Taufe fand später statt. Meine Mutter wollte, dass ich Rhebecka heißen sollte. Es war Januar 1944, keine Behörde gab dem statt. In den Kriegswirren wurde ich letztendlich - mit Grete L. als Taufpatin - auf die Namen Christa Marie (wegen Weihnachten) und Elli (nach meiner Mutter) getauft.
Es ist der blanke Hohn. Erst das Kind der Mutter wegnehmen und dann ihren Namen in falscher Schreibweise weiterreichen! Ich besitze den Taufschein meiner Mutter. Darauf steht: "Elly". Ich kämpfe noch heute um das im deutschen ungewöhnliche "Y". Ich will es. In meinem Namen, im Namen meiner Mutter und im Namen ihrer Namensgeber. Ich habe ein Ypsilon. Und ich hätte viel lieber "Rhebecka" geheißen. Das ist ein wohlklingender Name, der darüber hinaus in der biblischen Geschichte zu finden ist.
Der Name Christa ist in meinen Augen nichts weiter als frömmlerisches Getue. Meine Brüder hätten sich dann zwar einen anderen Reim einfallen lassen müssen als "Christa, die pisst da", aber ich hätte gewisslich diesem Reim ebenso gelassen gegenübertreten können wie jenem. Es fällt mir übrigens gar kein ebenso negativer Reim auf "Rhebecka" ein, obwohl ich mich redlich darum bemühe.
Abschließend kann ich nur sagen, dass Ida mich um meine Eltern und um meine Brüder betrogen hat. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich nie von ihnen erfahren.
Mein Vater hatte mich verschenkt. Er hat nie ein Wort mit mir gesprochen. Erst kurz vor seinem Tod versuchte er, mit mir zu reden. Meine Mutter hatte keine Rechte nach dem Vater. Meine Brüder waren in Idas Augen derart minderwertig, dass ich von ihrer Existenz erst erfuhr, als sie aus dem Heim ausrissen und ausgerechnet bei ihr Schutz suchten.
Und als ich bei Waltrauds Einsegnung nicht mit in die Kirche durfte, zerflatterte auch das Band des Glaubens im Winde.
Ich bin bemüht, mich an Idas Positiva zu erinnern. Sie war freigebig, großzügig und gutmütig. In den Grenzen ihres Budgets. Ich erkenne, dass ich damals zuviel verlangt hatte. Ich wollte, dass jemand meine Fragen beantwortete, dass man mir die Welt erklärt, dass man mit mir singt, mit mir spielt und mich lieb hat.
Nichts davon hat Ida mir gegeben. Sie hat mich nur gefüttert, gewindelt und im Krankheitsfalle gepflegt. Was wollte sie nur von mir? Nachdem sie feststellte, dass ich zu allem zu klein, zu dumm und zu unbeholfen bin, hätte sie mich doch zu meiner Mutter zurückgeben können! Ich war ihr doch zu nichts nütze! Sie sprach ja letztendlich kaum noch mit mir! Was sollte ich noch bei ihr? Ich verstehe es nicht.
Ich sehe ja ein, dass meine Mutter mit dem Altstoffhandel meines Vaters einiges um die Ohren hatte, dass ihr auch meine Brüder einiges zu schaffen machten - so sind Kinder eben - aber das ist doch kein Grund, ihr das dritte Kind zu "ersparen", indem man es ihr wegnimmt!
Irgendwann hatte ich (etwa siebenjährig) den Mut, die Ida zu fragen: "Warum haste mir denn aus de Schalottnburja jeholt?" Und sie antwortete: "Weil du n Meechn bist."
Ich folgerte: Wenn ich ein Junge gewesen wäre, hätte Ida mich nicht zu sich geholt. Mein Wunsch, ein Junge zu sein, stieg ins Unermessliche.
Waltraud
Sie wurde Waltraud, „Trautchen“, „Traudel“, „Trauteken“ oder „Walle“ gerufen, je nachdem, wer nach ihr verlangte.
Ida hatte mich zu sich geholt, damit Waltraud nicht allein sei. Ich vermute, dass Ida mich lediglich sauber hielt und mir die Mahlzeiten verabreichte, alles übrige blieb Waltraud und anderen überlassen. Natürlich konnte Waltraud sich nicht den ganzen Tag mit mir beschäftigen, so wurde ich oft im Kinderwagen auf den Balkon geschoben, wo ich mich in den Schlaf schrie.
Ich schrie, weil ich zu fest gewickelt worden war. Ida wollte verhindern, dass ich mich bloßstrample und mir eventuell eine Erkältung zuzog, deshalb legte sie die Windeln so fest an, dass ich im Endeffekt einen leichten Hüftschaden davontrug.
Von Waltraud lernte ich das meiste in meinen frühen Kindertagen. Ihrer Obhut war ich ständig anvertraut. Ich vermute, dass sie mich anfangs sehr gern hatte, denn ich habe noch Idas Keifen im Ohr: "Wißte woll det schweere Jör nich immaßu rumschleppn, du krißt n krummet Kreutz davon!!!"
In jener Zeit sang Waltraud mit mir alle einschlägigen Kleinkinderlieder, wobei sie mich in ihren Armen wiegte. Das war für mich die reine Wonne. Manchmal fiel Ida mit ein in ein Lied, das war dann der Höhepunkt des Wohlbefindens für mich. Ich hatte in diesen Minuten den Eindruck einer vollkommenen Harmonie und war später immer wieder bestrebt, eine ähnliche Situation herzustellen. Wenn jemand mit angenehmer Stimme sang, hatte er bei mir schon einen riesigen Vorteil allen anderen gegenüber.
Da Waltraud meine Herkunft nicht erklärt wurde, hielt sie mich anfangs für ihre Schwester und entwickelte große Zärtlichkeit für mich. Als ihre Mutter sie einige Jahre später dafür auslachte, schlug dies Gefühl ins Gegenteil um.
Nachdem Gerda ihren Alfred geheiratet hatte und sie in eine schöne große Wohnung einzogen, durfte Waltraud wieder zu ihrer Mutter zurück. Aber sie sperrte sich mit allen Mitteln gegen den Stiefvater - sie hatte mit dem wachen Verstand des Kindes seinen wahren Charakter durchschaut -, sodass ein "Familienleben" unmöglich war. Sie wurde nach wenigen Monaten wieder zur "Oma" zurückgebracht.
Inzwischen war mein Kinderbett ausrangiert, weil ich ihm entwachsen war und mir wurde Waltrauds Bett als Schlafstatt zugewiesen. Anfangs bin ich oft hinausgefallen. Dann lachte mich Ida gemeinsam mit Grete L. dafür aus, dass ich aus dem Bett fiel und weiterschlief. Zuletzt zog ich die Zudecke so mit mir, dass ich weich fiel. Das wurde freundlich belächelt.
Nun sollten wir beide in diesem Bett schlafen. Das machte mir nichts aus, nachdem ich daran dachte, dass bei Familie L. die Kinder sogar zu dritt in einem Bett schliefen! Es war Waltrauds Bett. Ich freute mich darüber, dass Waltraud wieder bei mir war. Sie würde wieder mit mir singen! Ich war inzwischen egozentrisch. Stets hatten Ida, Grete L., Doris L. und Gerda mich angewiesen, mich "um mir selba zu kümman", sodass ich mir meine eigene Welt erschaffen hatte. Waltraud war mein Tor ins Diesseits, denn ich spürte, dass Ida sich selber schon lange "abgeschrieben" hatte und mir war beigebracht worden, dass Irma nichts taugte. An sie durfte ich mich eigentlich nicht wenden mit meinen Fragen.
Gerda hatte keine Zeit. Ihre Gründe kannte und akzeptierte ich. Sie war jung und wollte das Leben genießen. Sie hatte keine Zeit für mich; sie hatte ja nicht mal Zeit für ihre Tochter! Umso mehr freute ich mich über jedes Geschenk von ihr: Bekleidung, Süßigkeiten, Spielzeug, Bücher.
Waltraud war lange Zeit mein Halt. Aber sie wollte es nicht sein. Sie wollte nicht Verantwortung aufdiktiert bekommen. Ich war nicht ihre Schwester. Ich war eigentlich eine Fremde für sie. Vielleicht hatte sie sogar schon Parallelen gezogen zwischen ihrer Mutter und Irma sowie zwischen ihr und mir und eine ähnliche Entwicklung befürchtet.
Eigentlich trennten uns Welten. Ihre Mutter war Idas Adoptivtochter, also war sie Idas Enkelin. Ich war Idas Nichte. Wie hat sie wohl meine Anwesenheit erklärt? Waltraud hatte ja nicht wie Gerda das Vergnügen, sich ein Geschwisterchen aussuchen zu dürfen!
Als Gerda ihre Tochter wieder bei Ida abgeben musste, verabschiedete sie sich ganz lieb und lange. Ich sah atemlos zu und konnte dem Geschehen kaum folgen, denn es gab keinen besseren Ort für Waltraud, als bei Oma! Warum musste sie nun wieder und wieder geküsst werden von ihrer Mutter? Es sah ja fast so aus, als ob einer von den beiden stirbt!
Gerda wollte vor Alfreds Rückkunft in der gemeinsamen Wohnung sein, so blieb uns Kindern Zeit zum Spielen. Ich wunderte mich, dass Waltraud so still und zurückhaltend war. Dann gab es Abendbrot, danach wurden wir zu Bett geschickt. Waltraud hätte das Bett gern für sich allein gehabt, aber sie musste sich fügen. Ihr einziger Trost war, dass sie eine eigene Zudecke hatte.
Ich schlief gleich ein und erwachte erst morgens. Ich stellte mit Entsetzen fest, dass das Bett nass war. Ida schimpfte und verdrosch mich. Sie war fest überzeugt, dass ich der Urheber war.
Ich heulte und beteuerte meine Unschuld, doch es half nichts. Am anderen Morgen war das Bett wieder nass und ich bekam wieder Prügel.
So ging es zwei Wochen. Dann kam Gerda zu Besuch und erkundigte sich, wie Waltraud den Umzug vertragen habe. Ida erklärte: "Waltraud jeht det jut, so jut, wie t nur jehn kann. Die fühlt sich sauwohl hier. Warum ooch nich? Se hat ja schon vorher lange jenuch hier jewohnt! Aba die Christa, det jottvadammte Jör, die pullat jede Nacht ein, det olle Schwein det, un ick dachte, die is drocken, wie sich det jehört mit drei Jahre!"
Gerda schniefte leise und sagte mit rotem Kopf: "Det ha k vajessn, dir zu saaren, Mama, det is neemlich so, die Waltraud is undichte, weil se sich mit den Alfred nich vadraaren kann. Ick hatte aba jehofft, det se nich mehr einmacht, wenn se bei dir is!"
Ida knirschte mit den Zähnen: "So, det afah ick jetze also so nehmbei! Konntste denn det nich jleich saaren? Weeßte, det ick die Christa jedn Tach vadroschn habe für t Einpinkeln un jetz wa se det jar nich?!"
Sie wandte sich erregt zu Waltraud: "Un du saachst ooch nich, det du det waast un kieckst zu, wie die Christa Keile kricht?!"
Waltraud wurde blass und versteckte sich hinter mir. Gerda sagte: "Der Alfred hat die Waltraud ooch jeedn Tach vadroschn, det nützt aba iebahaupt nischt." - "So", sagte Ida versöhnlich, "denn hat ja die Waltraud ihre Schdrafe schon lange wech."
Nun fragte sie, wann das Bettnässen begann und kam zu dem Schluss, dass diese Krankheit sich ärztlich behandeln lässt. Sie ging mit Waltraud zu einem Arzt. Binnen kurzem war das Kind genesen.
An jenem Tag jedenfalls gab Gerda mir als Trostpflaster eine kleine Tafel Schokolade mit den Worten: "Die Lale ha k ja eijentlich für Traute mitjebracht, aba du bist villeicht so lieb un jibst ihr wat ab!"
Selbsverständlich gab ich ihr etwas ab, denn die Schläge, die sie vom Stiefvater bekam, waren mit Sicherheit schmerzhafter als die mir von Ida zugeteilten. Wir aßen jeder vier Karos von der köstlichen Karina-Schokolade. Dann sagte Waltraud: "Det jroße Schtück heeb ma für schpeeta uff, du musst nich allet mit eenma uffessn."
Das hielt ich für sehr vernünftig und war dankbar für den Hinweis. Als ich Stunden später nach der Schokolade suchte, hatte sie sie aufgegessen. Auf meine Tränen erwiderte sie: "Na und? Meine Mutta hatte doch mir die Lale mitjebracht! Kannst froh sein, det de übahaupt wat davon abjekricht hast!"
Da Waltraud in der Schule Schwierigkeiten mit dem Lesen hatte, musste sie mir abends Märchen vorlesen, das liebte ich sehr. Wenn das Märchen zu Ende war, hatte ich noch tausend Fragen, die sie höchstens zur Hälfte beantwortete. So spann ich die Märchen in Gedanken weiter, bis ich eingeschlafen war.
Bald war ich ihr lästig. Kein Wunder, es waren sechs Jahre Altersunterschied zwischen uns, sie hatte logischerweise andere Interessen als ich. Anfangs war ich absolut nicht gewillt, das zu akzeptieren. Ich forderte mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln meine "Rechte". Ich wollte, dass Waltraud ebenso "meine" war, wie ich "ihre" war.
Sie fand jedoch in allen Erwachsenen Beistand in dieser Frage und ich wurde darauf vertröstet, dass sie sich mit mir abgeben wird, so oft sie kann. Da konnte ich oft lange warten! Wenn sie dann mit mir spielte, musste ich tun, was sie wollte, andernfalls würde sie nie wieder mit mir spielen. Das wollte ich selbstverständlich nicht riskieren.
Auf die Straße hinunter durfte ich sehr selten alleine; ich war auf Waltraud als Spielkameradin angewiesen. Oft behandelte sie mich wie eine lebendige Puppe und ich war es zufrieden. Für mich war sie die liebste, beste und hübscheste Cousine, die ich mir wünschen konnte.
Selten ging sie auf meine Spielvorschläge ein. Da musste ich mir schon etwas Außergewöhnliches einfallen lassen, in der Gefahr, von ihr als "verrückt" bezeichnet zu werden.
Ging sie mit mir zum Spielen auf die Straße, war ich oft ein Vorzeigeobjekt für sie. Sie demonstrierte den anderen Kindern an mir, dass sie sehr gut mit Kindern umgehen kann und sehr lieb ist. Wenn sie dann die anderen für sich gewonnen hatte, durfte eines der Kinder mit mir spielen. Meist sah es so aus, dass ich in irgendeine Ecke gesetzt wurde, wo ich auf die Puppen der großen Mädchen aufpassen durfte, während sie Verstecken oder Einkriegezeck spielten. An der Art, wie manche Mädchen mir ihre Puppen übergaben, wurde mir bewusst, dass mitunter die schäbigste Puppe das größte Heiligtum eines Mädchens sein konnte und ich behandelte die Puppen ihrer "Stellung" entsprechend, d.h. ich drückte die Puppen an mein Herz, von denen ich glaubte, dass sie der allerliebste Besitz ihrer Puppenmuttis sind und gab sie nur an diese ab, und setzte alle anderen auf die bereitgelegten Kissen.
Einer der etwas wohlhabenderen Nachbarsjungen hatte zum Geburtstag ein Fahrrad bekommen. Stolz ließ er alle Freunde das neue Spielzeug ausprobieren. Waltraud wäre gern die erste gewesen, aber sie stand auf der Sympathie-Skala nicht an erster Stelle. So konnte sie beobachten, dass die Fahrlehrlinge meist schon nach wenigen Metern stürzten. Als die Reihe zu fahren an sie kam, antwortete sie schnippisch: "Ach, weeßte, so n Ding, wat nich richtich steht und wennt mal steht, jleich wieda umkippt, nehm ick nich zwischen de Beene!"
Als Teenager entdeckte sie ihre Freude am Show-Tanz und übte mit Doris L. Steppen. Auf der Straße brachte sie den Kindern unserer "Gang" eine Tanzszene bei mit dem Gesang: "Laura, Lauralett (Step-Step), ich schwärme für s Ballett (Step-Step)." Der weitere Text ist mir entfallen, denn ich Fünfjährige konnte nicht gleichzeitig tanzen, singen und schnalzen.
Peter, der Sohn einer Freundin von Irma, besuchte uns. Der Vierzehnjährige war sehr belesen und unterhielt uns mit einer Abhandlung über ausgestorbene Tiere und Pflanzen unter Verwendung der lateinischen Bezeichnungen. Waltraud sagte bewundernd: "Eh, du bist ja akademisch beschlagen!"
Doris L., der die Fossilien völlig gleichgültig waren, höhnte: "Ja, echt akademisch beschlackert!"
Ich war erst fünf und hatte dem Gespräch kaum folgen können, aber dass "beschlackert" soviel bedeutete wie "bekloppt" oder "bescheuert", das wusste ich schon. Auch, dass Ackerbauern bekloppt sind, hatte man mir schon beigebracht. Als ich Tage später mit einem Nachbarskind Streit hatte, schleuderte ich ihm das neue Schimpfwort entgegen: "Du bist ja ackerdämlich beschlackert!" Für mich war das eine Steigerung ähnlich "saudoof".
Irgendwann hatte Waltraud auch die Indianer-Romantik entdeckt. Als besagter Peter uns wieder einmal besuchte, schlug sie vor, dass wir Indianer spielen. Peter sollte der Indianer sein und wir beide eine Farmerfamilie.
Peter "überfiel" uns und fesselte Waltraud an die Tür. Er spielte den Indianer sehr überzeugend. Als er dicht vor Waltraud hintrat und mit drohendem Ton sagte: "Weiße Frau müssen sterben!", schrie ich angstvoll: "Nein!" und stürzte mit derartiger Kraft auf ihn ein, dass er sich in die äußerste Küchenecke verkroch. Ich hatte meine liebe Waltraud befreit und das Spiel war aus.
Bei seinem nächsten Besuch weilte Doris gerade bei Waltraud. Mit Peters Erscheinen stand fest: Wir spielen "Wilder Westen". Rasch waren die Namen "Old Shatterhand", "Old Firehand" und "Old Shurehand" verteilt. Peter fragte: "Und wie soll Christa nun heißen?" Die Mädchen sahen sich fragend an. Da sagte ich: "Icke? Na, janz einfach, "Old Icke". Alle lachten, doch der Name wurde anerkannt. Ich verwendete ihn später so oft, dass sich auch andere Kinder gelegentlich so nannten.
Da ich alles mit Waltraud zu teilen hatte, war ich der Meinung, dass sie auch alles mit mir zu teilen hat. Das tat sie nur, wenn sie dazu angewiesen wurde. Peter schenkte mir damals zu meinem Geburtstag ein herzförmiges Flakon mit rotem Parfüm. Das war das erste und für lange Zeit einzige Geschenk, das mir ein Junge machte. Ich konnte gar nichts damit anfangen. Parfüm halte ich für unnatürlich und lächerlich. Ich bemitleide die Damen, die da glauben, nicht ohne parfümiert zu sein aus dem Haus gehen zu können. Waltraud fand den Geruch zu süß, so wurde es verbraucht, wenn sie mit anderen Mädchen "feine Dame" spielte. Das leere Herz besaß ich, bis Ida es in den Müll warf.
Gerda schenkte uns ein Kinderlieder-Spiel. Es bestand aus mehreren festen Pappen mit großen Karos darauf. Auf die Karos waren Kärtchen zu legen, auf denen Liedanfänge gedruckt waren. Wer das Lied kannte, musste es zu Ende singen und durfte das Kärtchen auflegen, aber mit dem Rücken nach oben. So entstanden auf jeder Pappe Märchenbilder. Dieses Spiel liebte ich sehr, aber wir kannten nicht alle Lieder, so legten wir die verbleibenden Kärtchen einfach zum Schluss der Logik des Märchenbildes entsprechend auf. Waltraud und Doris spielten das Spiel häufig in meiner Gegenwart, ohne mich mittun zu lassen. Es war ihnen manchmal eine reine Freude, mich zum Weinen zu bringen.
Wenn ich nicht mehr weinte, legten sie das Spiel zur Seite, ohne es zu beenden und wandten sich anderen Dingen zu. Z.B. einem Brettspiel namens "Puff". Es wurde bei Familie L. oft gespielt, so liebten es auch Waltraud und Doris. Einmal erklärten sie mir die Spielregeln, aber ich war „wieder einmal zu blöd“, sie zu verstehen. Es wird auf einem Backgammon-Brett gespielt und ist vielleicht damit identisch. Ich kenne Backgammon nur von Abbildungen.
Zu jener Zeit war es "in", dass jedes Kind einen Spitznamen hatte. Waltraud in "Walle" zu verwandeln und Christa in "Krille" genügte nicht mehr. So wurde aus der einen "Wallemimi" und aus der anderen "Krillepipi", womit Waltraud nachträglich dokumentieren wollte, dass ich und nicht sie der Bettnässer war.
Ich trug es mit Gelassenheit, denn ich wusste, dass jeder die Wahrheit kannte. Und ich wollte, dass es vergessen wird, denn ich sah, dass Waltraud mit dem Stiefvater nicht einverstanden war, dass der fremde Mann ihr Leben ändern wollte, ein Leben, mit dem sie vollauf zufrieden war. Und dass das Einpullern das letzte Mittel war, sich seiner zu erwehren.
Aber Gerda hat das nicht erkannt. Sie setzte ihre Gemeinsamkeit mit Alfred über das Schicksal ihres Kindes.
Ich konnte es absolut nicht vertragen, wenn man mich "Christel" oder gar "Christelchen" nannte. Ich fühlte mich durch diese Schmeichelei verhöhnt. Wenn Waltraud mich so ansprach, nannte ich sie "Krallkraut".
Übrigens steigerten wir in jener Zeit "auweia" zu "auwacka", "auwatka" oder gar "auwatteka".
Waltraud lehrte mich viele Küchenlieder, die wir mit Inbrunst sangen, bis uns die Tränen kamen. Namentlich das Lied "Ein Kind von viereinhalb Jahr" trieb mir so regelmäßig die Tränen in die Augen, dass es mir jetzt nicht mehr in voller Länge erinnerlich ist.
Ich hatte großes Mitleid mit dem armen Kind, es war genau so alt wie ich, doch ihm ging es ja soviel schlechter als mir! Zwar wuchs auch ich ohne Mutter auf, aber dafür hatte ich ja die "liebe Omi, die liebe Tante Gerda, die liebe Waltraud, die liebe Familie L., die lieben "Moabiter" und die "olle Tante Irma". Auch ich litt Schmerzen, wenn ich frisiert wurde, aber bei den Sonntagsspaziergängen bekam ich doch genau wie Waltraud einen Kranz aus künstlichen Blüten ins Haar! Ich fühlte mich gekrönt.
Und ich bekam fast alles das zu essen, was Ida aß; wenn sie einmal etwas alleine aß, entschuldigte sie sich: "Det is nischt for kleene Kinda!"
Und mir wurden Schlaflieder gesungen und sogar Märchen vorgelesen . . . Ich weinte herzzerreißend über das traurige Schicksal der besungenen Halbwaise, worüber Waltraud lachte. Es war ihr nicht bewusst, dass diese Texte in mir Emotionen freischlugen. Warum auch? Meine Eltern lebten ja noch - aber ich hatte davon keine Ahnung. Und sie bekam gerade einen neuen Vater.
Oft richteten wir uns unter dem Stubentisch eine Höhle ein. Unsere Fußbänke, die Puppenkissen und vieles andere fand darin Platz. Wir träumten uns zu Räuberbräuten, Hexen oder Teufeln. Natürlich war es dunkel in unserer Höhle, direkt ein wenig gruselig. Da redete sie einmal (ich war vier Jahre alt) mit tiefer Stimme auf mich ein: "In einem duunklen, duunklen Waald, da steht ein duunkles, duunkles Hauuus, und in dem duunklen, duunklen Hauus, da ist ein duunkler, duunkler Keller, und in dem duunklen, duunklen Keller, da steht ein duunkler, duunkler Sarrrg, und in dem duunklen, duunklen Sarrrg, da liegt ein duunkler, duunkler Mannn, und in dem duunklen, duunklen Mannn, da schläägt ein duunkles, duunkles Herrrz, und auf dem duunklen, duunklen Herrrz, da steht mit duunkler, duunkler Schrift - erschreck dich nicht!" Mir war während der langen Rede in dem ungewohnten Hochdeutsch schon ganz ängstlich zumute.
Als sie nun den letzten Satz mit schrillen Tönen ausstieß und mit den Händen auf mich zufuhr, erschrak ich dermaßen, dass ich laut aufschrie und beinahe einnässte. Waltraud kringelte sich vor Lachen, ich hatte ihr ein großes Vergnügen mit meinem Schreck bereitet.
Ida bemerkte einmal, dass Waltraud mich wie eine von ihren Puppen behandelte. Sie wies Waltraud zurecht: "Du musst nich denkn, det die Christa dein Schpielzeuch is, merk dir det!" Darüber war ich sehr froh. Nun schikanierte Waltraud mich nur noch, wenn Ida nicht in der Nähe war.
Als ich Fünfjährige mich wieder einmal von Waltraud ungerecht behandelt fühlte, heulte ich: "Det saare ick allet Oman, denn wißte schon seehn, wat de davon hast!"
Sie warf den Kopf zurück und lächelte höhnisch: "Det kannst de ruhich machn. Da passiert jar nischt. Det is neemlich MEINE Oma; un duuu - du hast jar keene!"
Verdutzt schwieg ich. Die Ungerechtigkeit war vergessen. Ich forschte nach. Die von Waltraud behauptete Ungeheuerlichkeit bewahrheitete sich: Die Frau, die ich zärtlich "Oma" nannte, war meine Tante. Die Mutter meines Vaters war verstorben, die Mutter meiner Mutter war unbekannt. "Onkel Otto" und "Tante Elly" waren in Wirklichkeit meine Eltern und meine Brüder Manfred und Paul wurden mir tunlichst vorenthalten. Kann man so etwas verkraften? Ich musste es versuchen.
In der Regel bekam ich all das, was Waltraud auch bekam. So auch einen lebenden Maikäfer zum Spielen. Waltraud und Doris besaßen mehrere Käfer und beschäftigten sich stundenlang mit ihnen. Ich durfte mit meinem Käfer an einem anderen Ort spielen, ich hatte zufrieden zu sein, überhaupt einen bekommen zu haben.
Aber ich wusste nicht, was man mit einem Käfer spielt. Ihn mit seinen krummen Beinen in der Schachtel herumstaksen zu sehen, war mir bald langweilig, so setzte ich ihn auf die wilden Triebe eines Lindenbaums vor unserer Haustür. Hier bewegte er sich wesentlich eleganter.
Als ich sah, dass er Luft unter seine Flügel pumpte, fing ich ihn rasch ein, denn hätte ich ihn davonfliegen lassen, wäre ich wieder einmal ausgelacht worden.
Es machte mir nichts aus, dass der Käfer ein paar Tage später tot in seiner Schachtel lag. Ich gönnte ihm seinen Frieden und begrub ihn bei jenem Lindenbaum.
Im Sommer 1950 hatten Waltraud und Doris sich ein kleines heiteres Theaterstück ausgedacht, welches sie den Nachbarskindern vorführen wollten. Rasch war auf einem nahe gelegenen beräumten Ruinengrundstück ein kleiner Hügel zur Bühne deklariert, und die beiden Mädchen begannen, den "Zuschauerraum" zu gestalten. Sorgsam legten sie aus Ruinen heraus gebrochene Ziegelsteine als Sitzplätze im Halbkreis aus. Plötzlich sagte Doris: "Der Mäcky is noch soo kleen, für den leje ick zwee Steine hin."
Da erwiderte Waltraud, um eine kürzliche Meinungsverschiedenheit im Nachhinein zu ihren Gunsten zu entscheiden: "Christa is ooch kleen, für die leje ick ooch zwee Steine hin."
Damit war Doris nicht einverstanden. Obwohl ich einwandte: "Ick setz mir als letzta hin, ick kann ooch an de Erde sitzn, wenn nich jenuch Steine da sin!", legte Doris für ihren Bruder immer noch einen Stein mehr auf, als Waltraud für mich anhäufte.
Ich wiederholte meinen Einwand laut, doch die Mädchen waren total in ihren Streit vertieft. Er war so absurd; Mäcky konnte noch nicht freihändig laufen und hätte den für ihn bestimmten Steinstapel niemals erklettern können und überdies blieben nunmehr für die anderen Zuschauer kaum noch "Sitzplätze" übrig. Ich hätte die beiden großen Mädchen gern zur Vernunft gebracht, aber ich wusste nicht, wie ich Waltraud ihr - in meinen Augen - Unrecht erklären sollte, nachdem sie sich für mich einsetzte und wusste auch nicht, worum es in Wirklichkeit ging.
Die Steinstapel waren inzwischen so hoch und wacklig, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht einzustürzen drohten. Waltraud hielt den für mich bestimmten Stapel bereits mit beiden Händen fest. Ich ertrug den Streit nicht länger und stieß den für Mäcky bestimmten Stapel um. Leider machte Doris gerade einen Schritt in seine Richtung und bekam die fallenden Steine gegen ihr Schienbein. Sie hüpfte wehklagend im Kreis herum. Es tat mir sehr leid, aber ich wusste, sie würde meine Entschuldigung nicht annehmen, sondern mich verprügeln.
So rannte ich nach Hause. Waltraud hetzte mir nach und gratulierte mir für meinen "Mut". Wenn ich nicht eingegriffen hätte, hätten sich die beiden Mädchen wieder geschlagen, wobei Waltraud meist den Kürzeren zog. Ich wollte sie nicht mit einem blauen Auge sehen. Das geplante Stück fiel aus.
Am Sonntag gingen wir Kinder oft zur Kindervorstellung ins Kino, wo eine Eintrittskarte damals nur fünfundzwanzig Pfennige kostete. Mir gefielen die russischen Märchenfilme am besten. Nachdem wir wieder einmal einen ganz besonders ergreifenden Film gesehen hatten, entspann sich auf dem Heimweg folgendes Gespräch:
Waltraud (ebenso höhnisch wie mitleidig): "Na, Krille, haste wieda jeweent?"
Ich (aufschluchzend): "Na, wenn det doch so traurich is, det der Jute zuletzt imma schtirbt!"
Doris (kalt): "Hätt a sich nich injemischt, weer ihm ooch nischt passiert."
Ich (aufgebracht): "Aba denn hätte doch der Drachn weita jedet Jah n Meechn jeholt un die Felda vabrannt!"
Doris (schnippisch): "Na und? Det is Schicksal."
Ich war nicht bereit, mich mit solch einem Schicksal abzufinden und keifte: "Denn wär det woll ooch ejal, wenn jetz hier n Besoffna uns dreie mit sein Auto dootfeehrt?" (Kürzlich hatte Irma aus der Zeitung vorgelesen, dass ein betrunkener LKW-Fahrer in eine Kindergartengruppe gerast war, wobei sechs Kinder getötet wurden.)
Waltraud (ergeben): "Wenn det unsa Schicksal is . . ."
Ich (hämisch): "Denn brauch man woll bloß so vor sich hin zu leehm un uff sein Schicksal zu waatn, wat?"
Waltraud (munter): "Nee, nee, man muss sein Schicksal ooch schon n bisschen selba in ne Hand nehm!"
Ich (heftig gestikulierend): "Na, det hat Iwanuschka doch jemacht un dabei Jutet for sein Dorf areicht!"
Doris (höhnisch): "Ja, aba selba hat a übahaupt nischt davon!"
Ich hatte den Eindruck, dass Doris den Filmhelden verachtete und fragte: "Un wat saachst de zu Jesus? Der hat so ville Jutet jetan, det man heut noch zu ihm beetet!" (Eigentlich wollte ich sagen: „Wenn Iwanuschka blöd is, denn is Jesus für umsonst jestorben, wenigstens, wat dir betrifft!“, aber eine derartige Frechheit wagte ich mir nicht herauszunehmen.)
Waltraud (lachend): "Der war ja keen richtja Mensch! Und außadem musste er denn selba ooch sei m Schicksal folljen, du weeßt doch, det er ant Kreuz jeschlaaren wurde!"
Ich war der Ansicht, dass sich uns das Schicksal trotz aller göttlichen Fügung meist in Gestalt eines Menschen begegnet und wählte rasch ein neues Beispiel: "Un Hitla? Der hat doch jleich det Schicksal der Natzjon in de Hand jenomm!"
Doris (unwillig): "Det Schicksal der Natzjon! Du quatschst heut wieda een dußlijet Zeuch zusamm! Halt bloß endlich die Klappe, du alte Zanktippe (so verstand sie Xanthippe. Keiner von uns wusste, wer Xanthippe war.) Waltraud: "Loof ma n Schtück vor, Krille, wir wolln uns üba wat andret untahaltn."
Sie schob mich an der Schulter vorwärts, und ich gehorchte, nachdem ich das böse Funkeln in Doris` Augen sah.
Als ich der Freundin meiner Mutter Jahre später von Doris Eigensinn berichtete, kommentierte sie: „Gegen Dummheit kämpfen selbst Götter oft vergeblich.“
Im Sommer vor meiner Einschulung gab es einen Tag, an dem Waltraud mich als "Anstandsdame" zu ihrem ersten Rendezvous mitnahm. Sie verplauderte sich mit dem Knaben und wir hatten es nun sehr eilig, nach Hause zu kommen.
Beim Überqueren der Charlottenburger Str. lief Waltraud einem Radfahrer direkt ins Rad. Beide stürzten, das Rad zerbrach, der Radfahrer hatte ein Loch in der Hose und eines im Ärmel, somit also gewiss auch etliche Wunden. Waltraud brüllte wie am Spieß. Rein äußerlich betrachtet hatte sie nur Hautabschürfungen, aber die am Kopf blutete stark.
Der Mann befürchtete innere Verletzungen, weil Waltraud sich den Leib hielt und unablässig schrie, als litte sie allergrößte Schmerzen. Er bat mich, seine Tasche zu tragen - sie enthielt wichtige Dokumente, wie er erklärte -, ließ das Fahrrad ungesichert zurück und trug Waltraud nach Hause. Ich wies den Weg.
Waltraud schrie noch eine Weile, dann schluchzte sie nur noch. Auf der Treppe schmiegte sie sich selig an den Samariter. Sie genoss es sichtlich, getragen zu werden. In der Wohnung angekommen, wurden Waltraud und der Radfahrer von Ida verarztet. Er war sehr besorgt und ließ seine Adresse zurück, damit er im Bedarfsfall für den Schaden aufkommen könnte.
Als Ida hörte, dass Waltraud selbst den Unfall verursachte, befand sie: "Det is nett, aba nich nötich." Waltraud hatte wirklich nur ein paar Kratzer abbekommen, die rasch verheilten.
Eines Tages sagte Waltraud zu mir: "Uff deine Familie jibt et n Jedicht." Ich lächelte glücklich und sie fuhr fort: "Sechs ma sechs is sechzndreißich, is der Mann ooch noch so fleißich un die Frau is liedalich, taucht die janze Wirtschaft nich!"
Was sollte ich dazu sagen? Verletzt zog ich mich zurück. Sie machte immer wieder derartige Bemerkungen. Sie sah nicht, dass sie mir wehtat. Wenn ich mich jedoch ihrer glitzernden Augen bei ihren hässlichen Worten erinnere, dann möchte ich meinen, dass es ihr Spaß machte, mich zu demütigen.
Einmal sagte sie höhnisch zu mir: "Ih, dein Vata is ja soo alt un hässlich!" Ich blickte sie ernst an und überlegte, ob es jetzt vielleicht angebracht war, einmal gleiches mit gleichem zu vergelten und zu antworten: "Ja, ja, so is det, ick hab n altn un hässlichn Vata un du hast zwee junge, wovon de den een nich kennst un den andan nich leidn kannst. Mein Vata kümmat sich nich um mir un deine Väta kümman sich nich um dir. Is denn nu eene von uns beede bessa dran?"
In der Furcht, sie als Ansprechpartnerin zu verlieren, schwieg ich. Und als sie ein paar Tage später höhnisch kicherte: "Ih, deine Mutta is ja Linkshändla!", war es mir zu blöd, ihr noch einmal zu erklären, dass es "Linkshänder" heißt. Kürzlich war bei dem üblichen Sonntagnachmittagkaffee, an dem außer Ida, Waltraud und mir auch Grete L. teilnahm, davon die Rede, dass meine Mutter diese Besonderheit aufweist. Alle sagten "Linkshändler". Ich versuchte, zu korrigieren. Daraufhin war meine Mutter eben ein "Linkpoot". Es könnte mich interessieren, ob dieses Wort einer lebenden Sprache entstammt!
Ich schlug also jetzt Waltraud gegenüber in Klatschtantenmanier die Hände über dem Kopf zusammen und rief mit verdrehten Augen und gequetschter Stimme aus: "Wat det nich allet so jibt!"
Waltraud blieb der Mund offen, dann winkte sie verächtlich ab und ließ mich stehen. Nun hatte ich meine Ruhe. Um ihrer Schönheit und ihres ungewöhnlichen Schicksals wegen hatte ich ihr vieles verziehen, aber einmal musste Schluss sein mit den entwürdigenden Gemeinheiten. Ich konnte und wollte ihre hässlichen Bemerkungen, die vielen Lügen und Verdrehungen der Tatsachen betreffs meiner Familie nicht länger ertragen. Damals war ich elf Jahre alt, Waltraud also siebzehn.
Waltraud sagte damals oft: "Appel fällt nich weit vom Schdamm!", womit sie andeuten wollte, dass ich meiner Mutter charakterlich sehr ähnlich sei. Sie kam nicht auf die Idee, dass der Satz auch auf sie selber zutrifft. Aber da alle so waren wie sie, war ich der Außenseiter, das erziehungsbedürftige Kind, wo jedes Mittel recht war, es zur Raison zu bringen.
Waltrauds Einsegnung war ein großes Fest. Zum Festakt in der Kirche durfte ich nicht mitgehen. Man sagte mir, dass jeder nur wenige Familienangehörige mitbringen darf. Gerda als Mutter natürlich und Alfred gingen hin und "die Moabiter". Ich weiß nicht mehr genau, welche von "den Moabitern" es waren. Vielleicht waren es nur Christa und ihre Mutter.
Ich war so unglücklich darüber, nicht mit in die Kirche zu dürfen, dass ich stundenlang weinte. Ida fluchte: "Die Kirche is voll; da sin unheimlich ville Leute, jeeda, der heut einjeseejenet wird, hat ne jroße Vawandtschaft, die alle jerne dabei sein möchtn, nich JEEDA kann an die Einseejenung teilhabn, eena muss ooch for t Essn sorjen!" Wenn Ida geahnt hätte, dass das die letzte Gelegenheit war, mich freiwillig zu einem Gottesdienst gehen zu sehen, hätte sie ihre Meinung wahrscheinlich geändert.
So sorgte ich nun also für das Essen, indem ich ihr half, das Gekochte nach Pankow zu transportieren, wo die Feier in Gerdas Wohnung weiterging.
Ich war so verärgert, dass ich mich nicht an Waltrauds Einsegnungskleid erinnere. Ich weiß nur noch, dass sie sagte: "Det Kleid krichst du nich, Krille,det is mein Einseejenungkleid; und eha schterrb ick, als det du det krichst!"
Sie sah wunderschön aus mit ihrer neuen Frisur. Insgesamt wirkte sie auf mich wie eine Kronprinzessin. Nie hatte ich sie über so viele Stunden hinweg bei so guter Laune gesehen! Obendrein legte sie ein tadelloses Benehmen an den Tag, war keinen Moment schnippisch, sondern zu jedermann freundlich und liebenswürdig, sogar zu ihrem verhassten Stiefvater.
Wenn es an der Tür klingelte, lief sie rasch, um zu öffnen. Das war sonst immer meine Aufgabe. Seit ich groß genug war, um an die Türklinke heranzureichen, durfte ich die Tür öffnen und JEDEN in unsere Wohnung einlassen.
Diese Aufgabe war mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich auch in anderen Wohnungen aufsprang, um meine Pflicht zu tun.
Als ich es auch an diesem Tage beim ersten Klingeln wie gewohnt tun wollte, herrschte Gerda mich an: "Du bist hier heute nich die Hauptperson!" - als wäre ich es sonst IMMER. Ein paar mal waren es keine Gäste, sondern Musiker oder Sänger, die dem Konfirmanden ein Ständchen brachten in der Hoffnung auf ein gutes Trinkgeld Namen und Adressen der Konfirmanden waren an der Kirchentür angeschlagen. Den ersten gab Waltraud etwas, das sie allerdings erst von ihrem Stiefvater erbitten musste. Danach verbat er sich die Bettelei und Waltraud wies die Musizierenden im Tonfall ihrer Eltern ab.
Ansonsten ging es auf Waltrauds Einsegnungsfest genau so zu wie auf all unseren anderen Familienfeiern.
1952 bekam Waltraud eine neue Deutsch-Lehrerin, die den Berliner Jargon im Allgemeinen und Waltrauds im besonderen vor der Klasse kritisierte. Waltraud mokierte sich zu Hause darüber: "Is denn det nu soo wichtich, wie man schpricht?" Ihre Mutter, die zufällig bei uns zu Besuch weilte, antwortete sanft: "Det is schon wichtich, Engelchen, wenn de nich oondlich schprichst, kannst de nie int Büro aabeitn, un du willst doch woll nich wie deine Mutta in die olle dreckje Fabrik jehn müssn?!"
Waltraud errötete leicht und sagte mit gesenktem Kopf sehr bestimmt: "Nee!" Sie war tatsächlich später nie als Produktionsarbeiterin tätig.
Einmal - wir waren damals 11 und 17 Jahre alt - kam Waltraud nach Hause und sagte unvermittelt zu mir: "Wenn ick denn schpeeta ma vaheirat bin, lass ick mir von mein Mann n zartrosanet seidich schimmandet Nicklischee (Negligee) koofn. Weeßt du, wat n Nicklischee is? Nee, wa? Na ja, kannste ja ooch nich wissn, bei dir sin ja Fremdwörta Jlückssache!"
Sie wollte an mir vorübergehen. Ich wusste, was ein Negligee ist, ich hatte das Wort kürzlich in einer Illustrierten gelesen und die Freundin meiner Mutter nach der Bedeutung gefragt. Sie erzählte mir dazu eine ihrer Kindheitserinnerungen, dass ihre Lehrerin seinerzeit die Schüler aufforderte, Wörter mit doppel- "e" zu nennen und ihr ausgerechnet das Negligee in den Sinn kam, woraufhin sie von der Klasse ausgelacht wurde.
Ich beschloss, mich diesmal nicht verletzt zurückzuziehen und rief ihr nach: "Du hast Recht, Walle, Fremdwörta sind bei mir Jlückssache. Du hast neemlich det Jlück, det ick deine Fremdwörta vaschtehe!"
Das war an jenem Tag unsere gesamte Unterhaltung; sie verließ die Wohnung gleich wieder. Im Übrigen wäre mir nie eingefallen, ein Wort zu benutzen, dessen Bedeutung mir unklar ist. Wenn sich mir schon einmal die Gelegenheit bot, mit jemandem zu reden, dann wollte ich auch verstanden werden.
Ein paar Tage später wollte sie die erlittene Schlappe ausgleichen und begann mit mir zu stänkern, was darin gipfelte, dass sie mich ein Kuckucksei nannte. Diese Bemerkung tut mir heute noch weh, denn weder hatte ich darum gebeten, bei Ida aufzuwachsen, noch hatte mich meine Mutter freiwillig zu Ida gegeben.
Ich vermute heute, dass sie ihren Schmerz über die eigene Trennung von der Mutter an mir ausließ. So kam ihr auch einmal in den Sinn, mir gegenüber schlecht von ihrer Mutter zu reden. Bissig zählte sie alle Fehler auf, die sie an ihrer Mutter zu bemerken glaubte. Getreu Idas Maxime: "Man soll immer mit den Wölfen heulen!", wagte auch ich, etwas Negatives hinzuzufügen: "Deine Mutta hat Achseljeruch!" Waltraud sah mich giftig an und keifte: "Du dreckjet Mistschtück bist nischt weita als n infama Nestbeschmutza!" Ich erwiderte aufgebracht: "Eh, wir schprachn ehmmd ausnahmsweise mal üba DEINE Mutta, nich üba meine!"
Aber es half alles nichts, ich war - wie immer - im Unrecht.
Dann wohnte sie wieder eine Weile bei ihren Eltern. Als sie nach vielen Streitigkeiten mit ihrem Stiefvater wieder zu Ida zurückehrte, hatte ich alle Ungerechtigkeiten längst vergessen. Ich freute mich, sie wieder bei uns zu wissen. Ich glaubte, dass alles wieder so wird, wie es war, denn sie war ja nur zwei Jahre weg gewesen.
Ich hatte ja keine Ahnung, was sie alles durchmachen musste im Elternhaus. Sie sprach auch nie mit mir darüber. Ich war für sie "die kleene Doowe". Das habe ich stets ignoriert. Sie war sechs Jahre älter als ich, logisch, dass sie entsprechend mehr wusste.
Erst heute wird mir klar, dass sie nicht meinen Bildungsgrad meinte, sondern meine Unfähigkeit zur Cleverness. Sie verehrte clevere Leute, ich verabscheute dieselben. Damit es hier keine Missverständnisse gibt: Als "clever" galten ihr jene Leute, die es verstehen, andere zu übervorteilen, ohne dass sie sich auch nur im Geringsten dagegen wehren können. Clever ist, wer einen Vorteil wittert und schonungslos für sich nutzt.
Erst Jahrzehnte später erkannte ich die Variante, dass man auch clever ist, wenn man am richtigen Ort zur richtigen Zeit mit Worten eine unheilvolle Situation zum Guten wendet.
Ich weiß nicht mehr genau, ob ich zwölf oder gar schon dreizehn Jahre alt war, als ich erstmalig Idas Erlaubnis bekam, mit einem jüngeren Nachbarskind in unserer Stube zu spielen. Die etwa zehnjährige war kürzlich in unsere Gegend gezogen, und kaum, dass ich auf der Straße ihre Bekanntschaft gemacht hatte, begann es zu regnen.
Ich nahm sie mit, weil ich mich ausgezeichnet mit ihr unterhalten konnte. Wir begannen ein Rollenspiel, wo die Dialoge nicht festgelegt zu werden brauchten, weil das Mädchen akkurat so reagierte, wie ich die Szene vor meinem geistigen Auge sah. Ida blickte mehrfach argwöhnisch zur Tür herein, sah uns aber jedes mal beim friedlichsten Spiel. Dann kam Waltraud nach Hause. Ich hoffte, dass sie wie gewöhnlich nur ihre Kleidung wechselt und dann wieder ihren Vergnügungen nachgeht, aber die hatten an jenem Tage wohl Zeit.
Sie unterbrach unser Spiel und fragte das Mädchen nach Namen und Herkunft und zeigte ihr dann ihre Kleider und Schmuckstücke und was weiß ich nicht noch alles. Ich ärgerte mich grün und blau, weil Waltraud mir die einzige Spielkameradin, die so wunderbar zu mir passte, abspenstig machte. Waltraud spielte schon lange nicht mehr mit mir, warum nun mit diesem Mädchen, das viel jünger war als ich? Ich versuchte vergebens, Waltraud von ihr abzulenken. Es endete damit, dass Waltraud mich beschuldigte, herrschsüchtig zu sein.
Wütend ging ich in die Küche. Später führte sie das Mädchen zu mir: "So, ick muss jetze los. Nu spielt ma wieda schön." Ich war außer mir. Ich rief: "Nee, du hast se übanomm, nu bring se ma ooch nach Hause!"
Waltraud lachte: "Ick weeß doch nich, wo die wohnt!"
Das war mir egal. Ich dachte nicht mehr an das Mädchen, ich ärgerte mich zu sehr darüber, dass Waltraud mir den Tag verdorben hatte. Ich spuckte Gift und Galle.
Das Mädchen ging alleine nach Hause. Ich hab sie nie wieder gesehen und mir leider nicht ihren Namen gemerkt. Aber dass sie ein hübsches und phantasievolles Geschöpf war, weiß ich noch heute. Und ich bitte sie um Vergebung für die ungerechte Behandlung, die ich ihr zuteil werden ließ.
Als ich Waltraud fünfzehn Jahre nach Idas Tod zufällig begegnete, wusste sie noch immer nicht, was sie mir angetan hatte. Sie war der Meinung, stets wie eine ganz liebe Schwester zu mir gewesen zu sein.
Ja, sicher hatte sie mich lieb. Auf die Weise, die sie von ihrer Mutter, von Ida und von Familie L. abgesehen hatte, wo häufig Kampf bis aufs Messer angesagt war.
Ich begegnete ihr in der Straßenbahn. Sie fuhr zum Einkauf in die Stadt und ich zur "Kinderkombination", wo meine Söhne untergebracht waren und wir knüpften unsere Verwandtschaft neu. Ich besuchte sie, sie besuchte mich, jeweils einmal.
Da ich Waltraud sehr gern hatte, besuchte ich sie abermals und bot ihr an, kostenlos Nickies für sie und ihre Kinder zu stricken. Mit "kostenlos" war gemeint, ohne Stundenlohn zu nehmen. Sie gab mir nicht den Preis für die Wolle. Ich hatte gearbeitet und das Material bezahlt. Waltraud hatte einen Mann, der - nach ihrer Aussage - gut verdiente, ich, die für drei Kinder zu sorgen hatte, hoffte, an jenem Tag den Preis für die Wolle in Empfang nehmen zu können, um meine Kinder ernähren zu können. Waltraud aber sagte: "Du hast gesagt, dass du kostenlos für mich strickst." Ein Missverständnis. Nur diesmal war es finanziell.
Dennoch verschaffte ich ihr eine Arbeitsstelle in der "Kinderkombination", wo ich als Reinigungskraft beschäftigt war. Sie bekam eine Anstellung als Hilfserzieherin, was ihr sehr gut gefiel.
Eines Tages ertappte ich sie dabei, dass sie krippeneigene Bettwäsche in ihre Tasche steckte. Sie sagte: "Na und? Ick bring se ja wieda, wenn se dreckig is!"
Clever, die eigene Bettwäsche unbenutzt zu lassen und stattdessen die volkseigene Wäsche zu benutzen und auch noch das Waschen zu sparen! Ich wäre nie auf so etwas gekommen und folgte Waltrauds Beispiel nicht. Ich bin eben blöd.
Irrtum. Det Leehm, meine ick. Nee, nich det Leehm an sich, sondan, wie wir mitnanna umjehn. Wir beurteiln - ratz, batz - n Menschn nach m erstn Oorenblick, un kümman uns n Scheißdreck dadrum, wie er so jeworn is wie er is. Aba jeda is n Produkt seina Zeit un seina Umjebung. Allet nur ne Frare der Aziehung, wa. Un det will ick hier ma jesaacht haam. Un enschulljen Sie bitte, wenn ick manschma int Hochdeutsche vorfalle - det ha ick ja denn ooch ma in ne Schule jelernt, wa, - aba det meiste uff die nachfoljendn Seitn vaschteehn womööchlich bloß so ne Leute, die damals bei mir um me Ecke jewohnt haam. Also ick fang denn ma jetz am bestn mit n Anfang an. Am Anfang jab et mir noch jar nich, sondan bloß zwee Familien, die sich üüübahaupt nich kanntn und ooch nie nich kennjelernt haam, neemlich eene Familie Seeger in Berlin und eene Familie Hellings in Bayern.
Vor meiner Zeit
Alles, was hier geschrieben steht, ist genauso in meiner Erinnerung. Es ist möglich, dass das, was ich nicht selbst erlebt habe, ein klein wenig anders stattgefunden hat. Die Kenntnisse über meine Familie habe ich zumeist bei Familienfeiern abgelauscht, einiges aus den Gesprächen zwischen Ida und ihrer Schwester herausgehört und nur ganz wenig von meiner Mutter erfahren, denn sie sprach nur selten über ihre Verwandtschaft. Ihr Vater war Oberlehrer in einer bayerischen Kleinstadt, ihre Mutter entstammte einer angesehenen Kaufmannsfamilie. Meine Mutter war Einzelkind und verwand bis zu ihrem Tode nicht, dass sie ein Internat zu besuchen hatte. Dort lernten die Mädchen außer Handarbeiten, kochen und Wirtschaftsführung auch zeichnen, musizieren und tanzen. Meine Mutter konnte mit 45 Jahren noch immer wie eine Ballerina auf Zehenspitzen tanzen, und das bei einem Gewicht von 75 kg auf 150 cm Scheitelhöhe! Obendrein hatte sie so kleine Füße, dass ihr Kinderschuhe passten.
Familie Hellings war vornehm und hatte ein Dienstmädchen, von welchem Frau Hellings sich "gnädige Frau" titulieren ließ.
Im Jahre 1935 trennte sich meine Mutter von ihren Eltern und zog - gerade 23 Jahre alt - nach Berlin, wo sie im Stadtbezirk Prenzlauerberg in einem Haus aus der Gründerzeit in der Marienburgerstraße zur Untermiete wohnte. Als ich 50 Jahre später mit meinen Kindern in die Winsstraße zog, schmunzelte ich oft beim Betreten dieser Straße: Hier wollte deine Mutter ein neues Leben beginnen, genau wie du jetzt! Bei Mama reichte das Geld damals nicht für eine eigene Wohnung, obwohl sie gleich Arbeit fand, nämlich als Näherin in einem Textilbetrieb. Von ihren ersten Ersparnissen kaufte sie zwei schwarze Stühle mit hohen, geschnitzten Lehnen. Sie musste die Stühle selbst nach Hause tragen, denn Kleinmöbel wurden nicht geliefert und in die Straßenbahn durfte man damit nicht einsteigen.
Wie sie so schwer beladen die Straße entlang keuchte, wurde sie von einem Lumpensammler angesprochen, der sie mit seinem Karren überholte. Auf dem Karren war noch Platz, so bot er an, die Stühle aufzuladen. Meine Mutter nahm die unverhoffte Hilfe dankbar an und griff auch selbst nach der Deichsel, um ziehen zu helfen und um sicherzustellen, dass der Helfer nicht mit ihrem Besitz davonläuft.
Auf dem kilometerlangen Weg waren die Lebensläufe bald ausgetauscht. Elly Hellings erfuhr, dass Otto Seeger verwitwet war und seine drei Kinder Hermann, Paul und Grete bereits verheiratet waren. Paul und Grete habe ich nie kennen gelernt, Hermann nur einmal gesehen. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde er unsere Tante Ida besuchte, es war kein besonderer Tag, nicht einmal Sonntag. Als ich aus der Schule kam, sagte Ida zu mir: "Saach ma aatich "Jutn Tach", det is dein Bruda aus deinn Vata seine erste Ehe."
Ich war stark beeindruckt, einen so viel älteren Bruder zu haben. Nach wenigen Minuten fasste ich so viel Vertrauen zu ihm, dass ich ihm meine Gedichte zeigte. Ich hatte in den Jahren 1954 - 58 die Dichtkunst für mich entdeckt und schrieb unzählige Gedichte, manchmal drei an einem Tag, kurze Gedichte über Alltagsdinge und lange, poesievolle über Menschenschicksale und den "Gang der Welt".
Er las sie und bewunderte meine literarische Reife. Ida sagte: "Jaja, die Jöre hat ne reje Fantasie. Weeß der Deibel, wo se det her hat und wat dadraus noch weern soll." Ihrem Tonfall nach war Phantasie eine bösartige Krankheit. Als Otto hörte, dass Elly erst vor kurzem nach Berlin gezogen war, bot er sofort an, ihr die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, sie in die Kulturstätten zu führen und sie mit den Berliner Gepflogenheiten vertraut zu machen. Da sie noch keine Bekanntschaften geschlossen hatte - den ewig schnatternden Kolleginnen aus der Fabrik mochte sie sich nicht anschließen, zumal sie von ihnen oft wegen ihrer Sprechweise gehänselt wurde, sie sprach nämlich hochdeutsch! - nahm sie die Einladung gerne an.
Im Laufe der Zeit wurde aus ihnen ein Paar. Mein Vater war damals 48 Jahre alt, gerade gewachsen, kräftig und stattlich. Mit seinem hochgezwirbelten Schnurrbart, den gut frisierten Haaren und den großen blauen Augen war er trotz seines schäbigen Gewerbes eine beeindruckende Erscheinung. Obendrein wusste er meine Mutter mit allerlei Schnurren und Possen trefflich zu unterhalten, sodass sie ihm trotz des Altersunterschieds bald ihr Jawort gab.
Mein Vater war ein Sohn des Gastwirts Hermann Seeger. Dieser hätte seinen Lebensunterhalt auch als Opernsänger verdienen können (er verfügte über einen volltönenden Bass), aber eine Gaststätte zu führen, erschien ihm solider. Er kaufte nahe der Hauptstadt ein Ausflugslokal, brachte das Geschäft auf Hochtouren und verkaufte es mit Gewinn.
Seine Nachfolger ahnten nicht, dass die Gäste ausbleiben, wenn nicht mehr mit Gesang ausgeschenkt wird. Zwanzig Gaststätten sollen durch seine Hände gegangen sein, und natürlich hatte auch Familie Seeger Dienstmädchen, die ihre Brotgeber allerdings mit "Chef" und "Chefin" anredeten. Irgendwann hatte Ernestine Seeger das Wanderleben satt und bat ihren Mann, in Berlin-Weißensee ein Haus zu kaufen. Er kaufte noch ein Fischgeschäft dazu, womit er bis an sein Lebensende - er wurde 84 Jahre alt - sich und seine Familie ernährte. Seine Frau wurde 82 Jahre alt und hat ihren Mann nur um drei Monate überlebt.
Durch den ständigen Wohnortwechsel wurden kaum zwei der Seeger-Kinder im selben Dorf geboren. Hermann schwängerte seine Ernestine mindestens einmal im Jahr. Sie erlitt mehrere Fehlgeburten.
Letztendlich waren zwölf Kinder zu ernähren, acht Töchter und vier Söhne. Vier dieser zwölf Kinder verstarben im Kleinkindalter. Von den verbliebenen acht Onkeln und Tanten lernte ich außer der ältesten Seeger-Tochter Ida nur Tante Rosa kennen. Onkel Paul wanderte nach Amerika aus, um nicht als Soldat eingezogen zu werden. Er schrieb drei Briefe, dann hörte man nichts mehr von ihm. Alle anderen Onkel und Tanten sind vor meiner Geburt verstorben.
Aber ich habe Fotos von ihnen gesehen und hörte, dass sie zuletzt fast alle in Weißensee lebten. Die ewig kränkelnde Tante Malchen z.B. wohnte in der Charlottenburgerstraße in einem hässlichen grauen Haus. Um ihr im Notfall beistehen zu können, zog mein Vater mit seiner jungen Frau während des Krieges in ihr Haus, genauer gesagt ins Hinterhaus. Und das war gut so, denn wenige Tage später schlug eine Bombe dort ein, wo meine Eltern bislang wohnten.
Tante Malchen hatte eine Zweiraum-Wohnung mit Bad, wir hatten eine Einraum-Wohnung mit Kammer. Unsere Wohnungstür war gleichzeitig die Küchentür, jeder Besucher stand bei uns also gleich in der Küche neben dem Herd. Die nächste Tür führte in die Stube; durchschritt man die Stube, kam man zur Kammertür. In dieser Kammer schliefen meine Brüder. Es gab hier weder Fenster noch Heizung. Die Toilette befand sich auf dem Hof, ein Plumpsklo. Es wurde von drei Mietparteien genutzt. Beim Gedanken an diese "Wohnung" bekomme ich noch heute Albträume, denn unter dem einen Fenster hingen die Dielen so tief durch, dass wir in den darunter liegenden Keller blicken konnten.
Außerdem hatte die Wohnung keine Doppelfenster; wenn man auf eine bestimmte Weise von außen an den Fenstern rüttelte, sprang der Riegel zurück und man konnte so auch ohne Schlüssel oder große Gewaltanwendung in die Wohnung einsteigen. Obendrein war der Schwamm schon bis in die Etage über uns gezogen . . .
Mein Vater hoffte, nach dem Tod seiner Schwester deren Wohnung übernehmen zu können, aber als es soweit war, konnte er die vom Hauseigentümer geforderte Kaution nicht zahlen. Er hatte als Lumpensammler ein kümmerliches Leben, auch wenn er sich stolz "Produktenhändler" nannte.
Er zog mit seinem Karren von Hof zu Hof und rief mit melodischer Stimme: "Lum - pen, Kno - chen, Alt - papier, auch Me - tall bringt her - zu mir!" War der Wagen voll, zog er ihn zu seinem "Laden".
Er hatte unweit seiner Wohnung eine Waschküche gemietet, wo das Gesammelte gereinigt, sortiert und zwischengelagert wurde. Die Flaschen mussten gespült werden, das Papier musste geglättet, sortiert und gebündelt werden, die Lumpen mussten sortiert und gewaschen werden, dann wurden sie zu Ballen gepresst.
Mein großer Bruder war sehr stolz, wenn er die Presse bedienen durfte. Es ist ein schönes Gefühl, nützlich zu sein! Namentlich für ein Kind.
Als meine Schwägerin um 1975 ihren Sohn ein "unnützes Kind" schimpfte, war ich darüber so entsetzt, dass ich sie jahrelang nicht mehr besuchte.
Das Metall wurde ebenfalls sortiert und an bestimmten Tagen vom Großhandel abgeholt. Wenn mein Vater mal das Glück hatte, auf den Höfen nur saubere Flaschen und gebündeltes Papier zu erbeuten, ging er damit sofort zum Großhandel und setzte den Erlös in Schnaps um. Er konnte es nicht verwinden, dass er in den letzten Kriegstagen - obwohl K.u. beglaubigt - doch noch zum Volkssturm eingezogen wurde. Manchmal trank er so viel, dass meine Mutter ihn aus der Kneipe abholen und auf seinem Wagen nach Hause ziehen musste. Am anderen Tag schimpfte sie dann mit ihm, aber er blieb unverbesserlich.
Reden wir nun von der Person, bei der ich meine Kindheit erlebte. Ida war die älteste der Seeger-Geschwister. Ihrer Obhut waren sie alle anvertraut. Ihre Kindheit und Jugend bestand aus Kinderbetreuung und dem abendlichen Bedienen der Kneipengäste, bis der Beamte Karl Seele sie ehelichte. Leider war es ihr nicht vergönnt, Kinder zu gebären. Und sie wäre so gern Mutter! Es gab die Möglichkeit der Adoption, aber dazu musste das Ehepaar nach den damaligen Bestimmungen mindestens 50 Jahre alt sein oder jede Möglichkeit, eigene Nachkommen zu haben, musste ausgeschlossen sein.
Ihr Bruder Oskar erwischte 1910 seine Ehefrau mit einem anderen Mann im Bett, ließ sich scheiden und gab seinen erst wenige Monate alten Sohn Bruno bei Ida in Pflege. Onkel Bruno - wie ich ihn nennen durfte - lebte bei Ida bis zur Eheschließung mit seiner Lotte.
Von dieser Familie S. ist später noch ausführlich die Rede. 1922 ging Ida Seele mit Mann und Pflegesohn an einem sonnigen Sonntag spazieren. Sie kamen an einer Kneipe vorbei, vor der ein Kinderwagen stand mit einem schreienden Bündel Mensch darin. Ida meinte, dem Kind sei vielleicht der Schnuller entglitten und beugte sich über den Wagen, um zu helfen und prallte entsetzt zurück. Das Kind war gewiss über ein Jahr alt, dem Wagen also längst entwachsen. Es war schmutzig, die blonden Löckchen verklebt, das Gesicht voller Schorf und Eiter.
Als Ida die Sprache wieder gefunden hatte, stürmte sie mit dem Kind auf dem Arm in das Lokal, fragte, wem das Kind gehört und teilte der halbbetrunkenen Mutter mit, dass sie es mitnimmt. Sie gab der Rabenmutter ihre Adresse und sagte ihr, dass sie das Kind nicht wieder hergeben wird, denn da ihr Mann Beamter ist, ist es ihr auch am Wochenende möglich, diesen unglaublichen Fall von Kindesvernachlässigung zu protokollieren.
So kam es dann auch. Die kleine Gerda wurde der Ida und ihrem Mann zur Adoption freigegeben. Allerdings forderte die Kindesmutter eine gewisse Geldsumme, die Karl Seele ihr auch gab, obwohl die Dame laut amtlicher Verfügung kein Recht hatte, irgendetwas zu beanspruchen.
Karl neckte die kleine Gerda später oft mit der Bemerkung: "Dich haben wir uns jekooft."
Nach Gerdas Tod bekam ihre Tochter auch die Papiere von Karl zu sehen. Darin stand, dass er nicht Beamter, sondern Kohlenplatzarbeiter war . . .
Durch die arge Vernachlässigung - wie es sich herausstellte, sollte nach dem Willen der Mutter das ungeliebte Kind nicht am Leben bleiben; sie pflegte es auf einem Eisblock schlafen zu legen, daher hatte es Erfrierungen im Gesicht und blieb lange ein unansehnliches Mädchen mit schiefem Mund - war die kleine Gerda nervös, schlief sehr unruhig und behielt in der ersten Zeit wenig Nahrung bei sich.
Aber Ida war sehr versiert in Kinderpflege, und bald entwickelte die kleine Gerda sich zu einem lebensfrohen Menschenkind.
Als sie alles Herbe überwunden hatte und auch der "(so genannte) große Bruder Bruno" aus dem Haus war, wollte Ida nicht, dass Gerda als Einzelkind heranwuchs. Sie meinte, dass Geschwister leichter zu erziehen seien.
So ging sie im Frühjahr 1928 mit Gerda zum Weißenseer Waisenhaus, wo sich das sechsjährige Mädchen ein Geschwisterchen aussuchen durfte. Die Wahl fiel auf die fünf Monate alte Irmgard Selling (später kurz Irma genannt). Irma hatte noch mehrere Geschwister, die alle im Waisenhaus lebten. Ihre Mutter „arbeitete" nachts auf der Straße (sie verkaufte ihren Körper), da kam ab und zu solch ein "Betriebsunfall" vor. Sie erlaubte nicht, dass eins ihrer Kinder adoptiert wird. Sie glaubte ernstlich, dass ihre Kinder sie später ernähren würden!
Ida setzte es durch, dass Irma wenigstens bei ihr leben durfte, so wuchsen Gerda und Irma wie Schwestern auf und hatten einander recht gern. Bald war Irma der Gerda über den Kopf gewachsen, und das in jeder Beziehung. Von Gerdas Einsegnung wurde ein Erinnerungsfoto gemacht. Darauf sieht man ihre großen blaugrauen Augen, ihre langen blonden Stocklocken und ihr Gesicht ist erleuchtet von Unschuld und Arglosigkeit.
Der Fotograf hatte dieses Foto sehr lange Zeit als Werbung für seine Kunst im Schaufenster zu hängen, ja, er gab es sogar zur allerersten Fotoausstellung, die seinerzeit (in Wien) stattfand, wo das Foto beinahe einen Preis errungen hätte.)
Während Gerda jedoch stets blass und durchscheinend blieb, wurde Irma bald ein kräftiges, hoch gewachsenes Mädchen mit roten Wangen und blitzenden Augen. Gerda lernte nach dem Schulabschluss Schneiderin, Irma Schlächtermamsell.
Gerda wurde mit 17 Jahren Mutter einer Tochter, die sie auf den Namen Waltraud taufen ließ. Sie hätte den Kindesvater gerne geheiratet, er war ja ihre erste große Liebe, aber während des elf Jahre dauernden 1000jährigen Reiches brauchte man zur Eheschließung den Arier-Nachweis.
Ida schickte Gerda zu ihrer leiblichen Mutter, um dieses Dokument zu erbitten, aber diese Dame dachte nicht daran, es herauszugeben, vermutlich besaß sie es auch gar nicht, denn sie war ja jeder Verpflichtung Gerda gegenüber enthoben.
Der junge Mann wurde 1943 in seine Heimat Italien zurückberufen und die Liebe verdorrte während vier Jahren Hoffens und Wartens.
Dann lernte Gerda einen gewissen Alfred Gruber kennen, den sie ein paar Monate später heiratete. Waltraud blieb bei Ida, weil die elterliche Wohnung zu klein war und auch, damit das junge Paar sich aneinander gewöhnen konnte und wenigstens die Flitterwochen in Ruhe genießen konnten.
Seit ich diese Fakten kenne, hat das Wort "Flitterwochen" für mich etwas Anrüchiges, den Beigeschmack des Negativen, denn diese Flitterwochen dauerten Jahre.
Damit Waltraud nun nicht als Einzelkind aufwachsen sollte, nahm Ida von einem Besuch bei ihrem Bruder Otto die fünf Monate alte Christa mit. Ich lag in meinem Wagen und plärrte aus irgendeinem Babygrund. Mein Vater sagte: "Nimm die Blaare mit, Ida!" Und sie nahm mich mit, obwohl ich noch zu jeder Mahlzeit gestillt wurde.
Zu meiner Mutter sagte sie: "Hab dir nich so albern!", und kaufte ihr eine Milchpumpe. Ida wusste ja nicht aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn die Milch in der Brust schwillt und es ist keiner da, der sie abtrinkt!
Meine Mutter konnte gegen diese Familie nichts ausrichten. Sie war streng katholisch erzogen worden (das Weib sei dem Manne untertan!), so ließ sie den Dingen ihren Lauf. Bald schlug das Schicksal auch noch auf andere Weise auf sie ein, aber davon später.
In den nächsten Kapiteln stelle ich meine Verwandten und unsere nächsten Bekannten in der Reihenfolge vor, wie ich sie kennen lernte.
Ida Seele
Zeit ihres Lebens nannte ich sie Oma. Nun ich aber - im Alter von über fünfzig Jahren - nicht mehr gewillt bin, die Vergangenheit zu verdrängen, kann ich diese Frau nur noch Ida nennen, denn heute weiß ich, dass sie mir keine Liebe gegeben hat, sondern dass ich für sie nur eine Beschäftigung war.
Immer wieder ließ sie es mich spüren, dass ich nur eine Last für sie war; zu allem zu dämlich, für alles zu klein, ein nutzloser Esser und obendrein noch laut. Ich verdrängte die Erinnerung an diese Frau, um sie nicht hassen zu müssen.
Wie in einer Zwingburg eingekreist von ihrem "Det dürfst de nich!", "Det sollst de nich!", "Det macht man nich!" und "Det brauchste nich!" wurde ich ein entscheidungsunfähiger Mensch.
Insbesondere hatte sie sehr radikale Vorstellungen davon, was ein MÄDCHEN darf und was nicht. Daher wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ein Junge zu sein. Jungs durften fast ebensoviel wie Erwachsene (nach dem, was ich aus Idas Äußerungen heraushörte).
Ich wurde von allen Seiten bevormundet und gedemütigt, und ich hielt das für ganz normal. Es war mein Leben, ich hatte kein anderes, bis ich mir - bereits im Alter von vier Jahren - eine Traumwelt erfand, in der alles anders und vor allem besser war, weil ich selber darin nicht vorkam.
Als ich noch sehr klein war, war Ida der Umgang mit mir angenehm. Da war ich noch niedlich in meinem Kinderwagen, wo ich - in dem Alter, wo die sich normal entwickelnden Kinder laufen lernen - gewöhnlich angebunden wurde, damit ich nicht hinausfalle. Auch in der Wohnung hatte ich stundenlang im Wagen zu sitzen.
Laufen lernte ich durch Gerda, Irma und Waltraud. Ida war es zu mühselig, weil sie sich hätte bücken müssen, um bei den Gehversuchen meine Hände zu halten.
Die Prügelstrafe war für sie das Natürlichste der Welt. In der Bibel steht: "Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie!" Als Dreijährige versuchte ich einmal, ihr bei der Küchenarbeit zu helfen. Sie wollte etwas aus der Speisekammer holen und ich wollte in der Zeit den Pudding umrühren, wie ich es bei ihr gesehen hatte. Aber ich reichte nicht so recht an den Topf heran und riss ihn versehentlich vom Herd, wobei mir der heiße Pudding die Haut verbrannte. Aber damit war ich noch nicht genug gestraft. Ida nahm den Rohrstock und schlug auf mich ein, bis ich wimmernd am Boden lag. Dann trat sie mich mit Füßen, bis sich ihre Wut über den Verlust des leckeren Puddings gelegt hatte.
Auch in den folgenden Monaten und Jahren drohte sie immer: "Wenn de nich aatich bist, denn sosste ma seehn, do, denn kannst de dein blauet Wunda aleehm, denn kannste dir aba freun, do, ick hau dir mit de Hand vakehrt in de Fresse, det die rote Suppe schpritzt!"
Natürlich habe ich Ida, Gerda, Irma und Waltraud sehr geliebt. Sie waren meine Familie, ich kannte ja niemand anderes, und vermisste daher auch nichts. Namentlich meinen Vater habe ich nie vermisst, zumal ich später von anderen Kindern immer wieder hörte, dass Väter nicht so lieb und "in Ordnung" sind wie Mütter. Ich war der festen Überzeugung, dass es in anderen Familien genauso war wie bei uns. Kinder, die keine Oma hatten, habe ich heftig bemitleidet, und andere, die zwei Omas hatten, ebenso heftig bewundert und beglückwünscht.
Oft kletterte ich auf Idas Schoß, um mit ihr zu schmusen. Ihre Gesichtshaut war so zart und weich; ich wurde nicht müde, sie zu streicheln und zu küssen. Doch schon nach kurzer Zeit schob sie mich von sich und sagte mit öliger Stimme: "Na, du alte Schmierkatze, schmier man nich so dicke, sonst haste morjen nischt mehr."
Dann wusste ich, dass die Minuten der gnädig entgegengenommenen Liebkosungen vorüber waren und wandte mich meinem Spielzeug oder meiner Traumwelt zu.
Häufig wurde ich von Waltraud oder Gerda geärgert. Wenn ich dann weinte, pflegte Ida in einem gewissen Singsang zu sagen: "Weene man nich, weene man nich, in de Röhre schtehn Klöße, die siehst de bloß nich!" Dann weinte ich noch heftiger, weil ich mich veräppelt fühlte, und Ida war ärgerlich.
Nahm die Streiterei mit Waltraud kein Ende, weil ich mich im Recht fühlte, sagten Ida und Gerda zu mir: "Mann, eh, der Klüjere jibt nach!"
Waltraud war sechs Jahre älter als ich, aber ich sollte der Klügere sein und nachgeben! Es war für mich der Gipfel der Ungerechtigkeit, dass nicht die Ältere, die obendrein der Angreifer war, sondern ich nachgeben sollte. Heute hoffe ich, dass Waltrauds Gezänk den Erwachsenen so kleinlich und lächerlich erschien, dass sie es nicht der Mühe wert hielten, sie zu ermahnen. Ich habe sehr darunter gelitten, dass Waltraud mich immer wieder ungestraft mit hässlichen Worten angriff.
Wenn Ida mir auf meine Fragen antwortete, dann meist mit Umschreibungen der Tatsachen oder gänzlich abweisend. Und ich hatte viele Fragen! Doch wenn ich diese Fragen dann an Gerda oder Waltraud richtete, bekam ich ähnliche Antworten wie von ihr. Sie waren ja auch von Ida erzogen worden und wussten es nicht besser.
So blieb ich unwissend und man amüsierte sich köstlich darüber, dass ich mit sieben Jahren noch an den Osterhasen, den Weihnachtsmann und den Klapperstorch glaubte und diese Geschöpfe gar heftig verteidigte, wenn jemand ihre Existenz anzweifelte.
Die ganze Familie fand es sehr niedlich, wenn ich in Babyworten sprach. Deshalb hatte ich mir diese Sprechweise richtig fest angewöhnt. Ich wollte, dass man mich lieb hat und man hatte mich lieb, wenn ich so plapperte. Ich merkte nicht, dass ich in Wahrheit ausgelacht wurde.
Irma korrigierte meine Sprechweise, und ich hasste sie dafür, ich glaubte allen Ernstes, dass sie mir die Zuneigung nicht gönnte! Noch im Alter von acht Jahren sprach ich manchmal "Babylatein", wenn ich erreichen wollte, dass Waltraud mit mir spielt.
War Waltraud nicht zu Hause, bat ich Ida, mit mir zu singen oder zu spielen. Mit dem Singen klappte es manchmal, meist sagte sie jedoch: "Mir is nich nach sing zumute." Oder sie stimmte ein Lied an, welches mir nicht gefiel: "Kommt de Panje Stadt hinein, ist so dreckig wie ein Schwein, dobsche, dobsche, dralla . . ."
Ich erfuhr von Irma, dass "Panje" ein Pole ist, aber ich bezweifelte, dass alle Polen dreckig sind, denn auf einer unserer Familienfeiern hatte Alfred gesagt: "Man kann nich ne janze Natzjon üba een Kamm scheern. Et jibt übaall so ne und solche."
Und ich wusste, dass Polen und Frankreich die den deutschen Landen zunächst gelegenen Nachbarn sind. Mit Nachbarn stellt man sich "auf guten Fuß"; ich wunderte mich, dass Ida für die östlichen Nachbarn nur böse Worte hatte - in unserem Haus und auch in den benachbarten war sie bestrebt, in Frieden und Freundschaft zu leben.
Aber die Polen waren für sie nur "Pollackn", die Franzosen jedoch ein achtbares Volk.
Mit mir zu spielen lehnte sie fast immer ab unter dem Hinweis auf ihr hohes Alter. Sie war sehr stolz darauf, so alt geworden zu sein und immer noch "rüßtich un fideel". Alle Bekannten und Verwandten sprachen ihr Komplimente für ihre aufrechte Haltung und ihren regen Verstand aus. So war sie damals für mich die liebste, beste und schönste Oma der Welt.
Ich war vier Jahre alt, als wir wieder einmal nach Pankow fuhren, um Gerda zu besuchen. Wir mussten sehr lange auf den Bus warten. Wir standen dicht an der Bordsteinkante, weil Ida als erste einsteigen wollte, um einen Sitzplatz zu bekommen.
Da sie mich zum Stillstehen zwang, begann ich, mir ein Märchen auszudenken und war bald tief in meine Träumerei versunken. Als der Bus urplötzlich direkt vor meiner Nase hielt, erschrak ich derart, dass ich aufschrie. Ida wunderte sich lautstark: "Du blödet Kamel, wat aschrickst du dir denn so? Wir sin doch schon efta mit den Bus jefahn!"
Ich zitterte immer noch. Sie sagte: "Mein Jott, du hast aba ooch vor allet Angst! Wat soll dadraus bloß noch wern!"
Als ich mich beruhigt hatte, erzählte ich ihr, dass ich mir gerade so ein schönes Märchen ausgedacht hatte. Daraufhin nannte sie mich eine "alte Drömdüte".
Kurz vor meiner Einschulung besuchte uns eine Amtsperson, um zu sehen, wie Ida - die ja immerhin die siebzig weit überschritten hatte - mit mir klarkam. Ida führte sie autoritär in die Stube und schlug mein Bett auf, damit die Amtsperson sehen konnte, dass sich keine dreckige Wäsche darin befindet, wie bei "anderen Leuten". Aber das wollte die Frau gar nicht wissen. "So?", meinte Ida, "denn jehn wa in de Kiche, da könn wa redn."
Nun musste Ida Fragen beantworten, auf welche sie nicht vorbereitet war. In der DDR gab es andere Kriterien als zu jener Zeit, wo sie Gerda bzw. Irma in ihre Obhut nahm. Unter anderem wurde sie gefragt, ob ich gestillt wurde? "Ja", krähte ich, "Oma saacht imma, det ick leise sein soll!"
Die Frau lachte: "So ist das nicht gemeint."
Ida wollte mich aus der Küche weisen, aber die Frau sagte: "Es ist in Ordnung, wenn die Kleine ihre Meinung sagt." Später - nach einem mir endlos erscheinenden Gespräch - richtete sie die Frage an mich, wie es mir denn bei der Oma gefällt? Ich äußerte nur Lobendes. Sie bohrte weiter und wollte unbedingt etwas Negatives hören. So sagte ich schließlich weinerlich, dass Ida abends im Bett immer noch lange liest und ich bei Licht nicht einschlafen kann.
Als die Frau gegangen war, verdrosch Ida mich für diese Worte und sagte: "Du krist jetz nich mehr von allet wat ab!" Mir blieb "die Spucke weg" - war es vorher anders?
Dann suchte ich mich zu verteidigen: "Die Tante hat doch solange jefraacht un du hast imma jesaacht, det ick jehorchn soll, wenn Awachsne wat wolln!", und ich weinte mir die Augen aus.
Schon als Siebenjährige schickte sie mich das Grab ihres Mannes, in welchem auch andere Familienmitglieder begraben waren, zu gießen. Ich goss die Pflanzen, denn ich kannte die Menschen nicht, die hier begraben wurden.
Später sah ich mich auf dem Friedhof um. Da waren viele Gräber, die nicht gepflegt wurden. Das stimmte mich traurig. Sah ich auf Gräbern pflegebedürftige Pflanzen, goss ich sie. Wenn ich ausgeschickt war, die Pflanzen auf dem Grab eines mir unbekannten Mannes zu gießen und erst zum Glockenläuten zurück erwartet wurde, warum sollte ich mich dann nicht auch umsehen?
Einmal fragte mich eine Witwe, in welcher Beziehung ich zu ihrem Manne stand? Ich sagte, das ich nur die Blumen gieße, damit sie nicht eingehen, denn sie sind ja so schön, müssen aber fast täglich gegossen werden. Ich fügte hinzu, dass ich auf dem gesamten Friedhof alle Blumen mit Wasser versorge. Nach diesem Gespräch unterließ ich es, fremde Gräber zu begießen.
Oft sagte Ida: "Der Mensch kann allet, er muss nur wollen!" Aber eben so oft sagte sie auch: "Kinder haben jar nischt zu wollen!" So dokumentierte sie unbewusst, dass Kinder in ihren Augen keine Menschen sind.
Nachdem ich lesen gelernt hatte, wurde ich ein eifriger Leihbibliotheksbenutzer. Die Bibliothek befand sich nahe der Schule. Ich lieh mir u.a. auch das Märchen "Die zwölf Monate" aus. Als ich es zur Hälfte gelesen hatte, kam Ida in die Stube und fragte: "Wat schmökerste denn da?"
Ich antwortete unwillig: "N russischet Volksmärchn."
Ida schnob verächtlich durch die Nase. Da tat es mir leid, dass ich so abweisend reagiert hatte und wollte die liebe Oma aufheitern. Ich kicherte: "Weeßte wat, die Russn nenn ihrn Könich "Majeschtätt!"
Ich war überzeugt davon, das Wort korrekt ausgesprochen zu haben. Ida sagte unwirsch: "Det hat dir janich zu intressiern, wie die Russn ihrn Könich nenn!", ohne mir zu erklären, dass das "sch" in diesem Wort nichts zu suchen hat.
Das erfuhr ich dann von Irma, als ich sie mit dem selben Satz zum Lachen bringen wollte. Da ich das Wort nicht kannte, hielt ich es für lächerlich. Wer weiß, wie viele Fehler dieser Art ich noch begangen hatte!
Über meinem Bett hing ein Familienfoto von 1910, wo die gesamte Familie Seeger abgebildet war, meine Großeltern, sechs junge Mädchen und zwei junge Männer. Einer davon war mein Vater.
Ich glaubte anfangs, dass die Mädchen alle den gleichen Hut trugen, dann sagte Waltraud: "Kiek ma richtich hin, det sin Zöppe, die haam se sich so jeschickt um n Kopp jewickelt, det det nu wie n Hut aussieht!"
So war es auch, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass man so lange und dicke Zöpfe haben kann. Die Mutter auf dem Bild wirkte abgehärmt, der Vater müde, die jungen Männer stolz und zufrieden, die jungen Mädchen unwirsch, mürrisch und verbittert.
Immer wieder ließ ich mir erklären, wer wer war, denn über diese Fotografie redete Ida gern, bis sie mich eines Tages abwies: "So langsam müßteste det alleene wissn."
Über Idas Bett hing die Reproduktion eines Gemäldes. Ida nannte es "Der Mohr von Venedig". Es zeigte den Festsaal eines vornehmen Hauses. In der Mitte stand auf einem Podest ein Prunksessel, auf welchen sich ein edel gekleideter Mann mittleren Alters in hochmütiger und zorniger Haltung stützte, ein paar Schritte vor ihm stand ein ebenso edel gekleideter Schwarzer, die Hände anklagend und bittend erhoben, und am linken Bildrand stand eine Blondine in einem zauberhaften Brautkleid. Der Schleier war ihr vom Kopf gerissen worden und lag fast zu ihren Füßen (die unzähligen Rüschen hatten ihn festgehalten), und sie weinte in ihre Hände, die sie vor das Gesicht gelegt hatte.
Ich fragte Ida nach der Bedeutung des Bildes und sie sagte: "Det bedeutt, det ne Weiße keen Neeja heiratn soll, sowat bringt nur Unjlück."
Als ich zwölf Jahre alt war und Ida schon seit längerem fast gar nicht mehr mit mir sprach, war ich ihr nicht mehr so zugetan. Sie erteilte nur noch Anweisungen: "Jeh innkoofn!" - "Komm essn!" - "Räum det wech!" - "Jeh schlafn!" Sehr selten richtete sie andere Worte als diese an mich. Es gab nichts, worüber wir miteinander hätten reden können. Sie wies mich stets ab, wenn ich von meinen Erlebnissen erzählen wollte. Sie waren ihr unwichtig und lästig.
Ida benutzte viele ungebräuchliche Formulierungen. Z.B. hieß die Kasserolle bei ihr "Kastrolle", eine Nachbarin hatte „Jaljenschteine“ anstatt Gallensteine, die Fußbank hieß "Hutsche", die Hausschuhe "Mauken", die Füße "Quanten", der Kopf "Omme" und jeglicher Schmetterling "Mottnscheißa" (jegliches Insekt - außer den Bienen - galt ihr als Ungeziefer).
Hielt sich jemand bei einer Tätigkeit ungebührlich lange auf, dann tat er es "bis Unnepfingsten". Gegenstände jeglicher Art hießen bei ihr "Bagaasche" oder "Rabeiken", und mit "Penunse" bezeichnete sie einen hohen Geldbetrag. Ein Karventsmann wurde bei ihr zum Karenzmann, der Veitstanz zum Feixtanz, an ihrem Kopftuch hatte sie Franjen anstatt Fransen und Kranke schickte sie in Quarankteene. Und wenn jemand in einem "Mülljöh" (Milieu) lebte, sollte man keinen Umgang mit ihm pflegen.
Ich war etwa 13 Jahre alt, als Ida der Nachbarin Grete L. ihr Leid über meinen Wissensdrang klagte. Grete L. stauchte mich tüchtig zusammen und gebot mir, die liebe Oma in Ruhe zu lassen. Sie schloss mit den Worten: "Wat willst du eijentlich von die alte Frau?"
Damals warf ich nur den Kopf zurück und schwieg. Ich war nicht in der Lage, meine Anklage in Worte zu fassen. Mir ging durch den Sinn: Ich will die Wahrheit! Ich will zu meiner Mutter und zu meinen Brüdern! Ich will eine richtige Schwester sein dürfen und nicht nur eine Adoptivcousine haben, die höher geachtet wird als ich! Ich will die Liebe meiner Mutter und nicht diese grauenhafte Bevormundung durch eine Tante und den Personen, die ihr genehm sind! Ich will mein Leben!
Wenn ich all dies damals heraus geschrieen hätte, hätte Grete L. mir empfohlen, einen Irrenarzt aufzusuchen, denn ich hatte es doch so gut bei Oma Seele. Ich hatte ein sauberes Bett, satt zu essen und saubere, unbeschädigte Kleidung. Mehr braucht ein Mensch nicht. Erst recht nicht, wenn man nur ein Kind ist. Ich hätte glücklich sein müssen über dies schöne Leben. Was wollte ich also? Es hätte nur eines Satzes bedurft: "Wenn sie mich schon von meiner Familie trennte, dann soll sie sich gefälligst auch mit mir beschäftigen!"
Hätte ich diesen Satz ausgesprochen, wäre mir geantwortet worden: "Wat hast du schon for ne Famielje!"
"Christa" war damals ein Modename. Also riet Grete L. dazu, denn ich war ja "kurz nach Weihnachten" - am 30. Januar! - geboren worden. Die Taufe fand später statt. Meine Mutter wollte, dass ich Rhebecka heißen sollte. Es war Januar 1944, keine Behörde gab dem statt. In den Kriegswirren wurde ich letztendlich - mit Grete L. als Taufpatin - auf die Namen Christa Marie (wegen Weihnachten) und Elli (nach meiner Mutter) getauft.
Es ist der blanke Hohn. Erst das Kind der Mutter wegnehmen und dann ihren Namen in falscher Schreibweise weiterreichen! Ich besitze den Taufschein meiner Mutter. Darauf steht: "Elly". Ich kämpfe noch heute um das im deutschen ungewöhnliche "Y". Ich will es. In meinem Namen, im Namen meiner Mutter und im Namen ihrer Namensgeber. Ich habe ein Ypsilon. Und ich hätte viel lieber "Rhebecka" geheißen. Das ist ein wohlklingender Name, der darüber hinaus in der biblischen Geschichte zu finden ist.
Der Name Christa ist in meinen Augen nichts weiter als frömmlerisches Getue. Meine Brüder hätten sich dann zwar einen anderen Reim einfallen lassen müssen als "Christa, die pisst da", aber ich hätte gewisslich diesem Reim ebenso gelassen gegenübertreten können wie jenem. Es fällt mir übrigens gar kein ebenso negativer Reim auf "Rhebecka" ein, obwohl ich mich redlich darum bemühe.
Abschließend kann ich nur sagen, dass Ida mich um meine Eltern und um meine Brüder betrogen hat. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich nie von ihnen erfahren.
Mein Vater hatte mich verschenkt. Er hat nie ein Wort mit mir gesprochen. Erst kurz vor seinem Tod versuchte er, mit mir zu reden. Meine Mutter hatte keine Rechte nach dem Vater. Meine Brüder waren in Idas Augen derart minderwertig, dass ich von ihrer Existenz erst erfuhr, als sie aus dem Heim ausrissen und ausgerechnet bei ihr Schutz suchten.
Und als ich bei Waltrauds Einsegnung nicht mit in die Kirche durfte, zerflatterte auch das Band des Glaubens im Winde.
Ich bin bemüht, mich an Idas Positiva zu erinnern. Sie war freigebig, großzügig und gutmütig. In den Grenzen ihres Budgets. Ich erkenne, dass ich damals zuviel verlangt hatte. Ich wollte, dass jemand meine Fragen beantwortete, dass man mir die Welt erklärt, dass man mit mir singt, mit mir spielt und mich lieb hat.
Nichts davon hat Ida mir gegeben. Sie hat mich nur gefüttert, gewindelt und im Krankheitsfalle gepflegt. Was wollte sie nur von mir? Nachdem sie feststellte, dass ich zu allem zu klein, zu dumm und zu unbeholfen bin, hätte sie mich doch zu meiner Mutter zurückgeben können! Ich war ihr doch zu nichts nütze! Sie sprach ja letztendlich kaum noch mit mir! Was sollte ich noch bei ihr? Ich verstehe es nicht.
Ich sehe ja ein, dass meine Mutter mit dem Altstoffhandel meines Vaters einiges um die Ohren hatte, dass ihr auch meine Brüder einiges zu schaffen machten - so sind Kinder eben - aber das ist doch kein Grund, ihr das dritte Kind zu "ersparen", indem man es ihr wegnimmt!
Irgendwann hatte ich (etwa siebenjährig) den Mut, die Ida zu fragen: "Warum haste mir denn aus de Schalottnburja jeholt?" Und sie antwortete: "Weil du n Meechn bist."
Ich folgerte: Wenn ich ein Junge gewesen wäre, hätte Ida mich nicht zu sich geholt. Mein Wunsch, ein Junge zu sein, stieg ins Unermessliche.
Waltraud
Sie wurde Waltraud, „Trautchen“, „Traudel“, „Trauteken“ oder „Walle“ gerufen, je nachdem, wer nach ihr verlangte.
Ida hatte mich zu sich geholt, damit Waltraud nicht allein sei. Ich vermute, dass Ida mich lediglich sauber hielt und mir die Mahlzeiten verabreichte, alles übrige blieb Waltraud und anderen überlassen. Natürlich konnte Waltraud sich nicht den ganzen Tag mit mir beschäftigen, so wurde ich oft im Kinderwagen auf den Balkon geschoben, wo ich mich in den Schlaf schrie.
Ich schrie, weil ich zu fest gewickelt worden war. Ida wollte verhindern, dass ich mich bloßstrample und mir eventuell eine Erkältung zuzog, deshalb legte sie die Windeln so fest an, dass ich im Endeffekt einen leichten Hüftschaden davontrug.
Von Waltraud lernte ich das meiste in meinen frühen Kindertagen. Ihrer Obhut war ich ständig anvertraut. Ich vermute, dass sie mich anfangs sehr gern hatte, denn ich habe noch Idas Keifen im Ohr: "Wißte woll det schweere Jör nich immaßu rumschleppn, du krißt n krummet Kreutz davon!!!"
In jener Zeit sang Waltraud mit mir alle einschlägigen Kleinkinderlieder, wobei sie mich in ihren Armen wiegte. Das war für mich die reine Wonne. Manchmal fiel Ida mit ein in ein Lied, das war dann der Höhepunkt des Wohlbefindens für mich. Ich hatte in diesen Minuten den Eindruck einer vollkommenen Harmonie und war später immer wieder bestrebt, eine ähnliche Situation herzustellen. Wenn jemand mit angenehmer Stimme sang, hatte er bei mir schon einen riesigen Vorteil allen anderen gegenüber.
Da Waltraud meine Herkunft nicht erklärt wurde, hielt sie mich anfangs für ihre Schwester und entwickelte große Zärtlichkeit für mich. Als ihre Mutter sie einige Jahre später dafür auslachte, schlug dies Gefühl ins Gegenteil um.
Nachdem Gerda ihren Alfred geheiratet hatte und sie in eine schöne große Wohnung einzogen, durfte Waltraud wieder zu ihrer Mutter zurück. Aber sie sperrte sich mit allen Mitteln gegen den Stiefvater - sie hatte mit dem wachen Verstand des Kindes seinen wahren Charakter durchschaut -, sodass ein "Familienleben" unmöglich war. Sie wurde nach wenigen Monaten wieder zur "Oma" zurückgebracht.
Inzwischen war mein Kinderbett ausrangiert, weil ich ihm entwachsen war und mir wurde Waltrauds Bett als Schlafstatt zugewiesen. Anfangs bin ich oft hinausgefallen. Dann lachte mich Ida gemeinsam mit Grete L. dafür aus, dass ich aus dem Bett fiel und weiterschlief. Zuletzt zog ich die Zudecke so mit mir, dass ich weich fiel. Das wurde freundlich belächelt.
Nun sollten wir beide in diesem Bett schlafen. Das machte mir nichts aus, nachdem ich daran dachte, dass bei Familie L. die Kinder sogar zu dritt in einem Bett schliefen! Es war Waltrauds Bett. Ich freute mich darüber, dass Waltraud wieder bei mir war. Sie würde wieder mit mir singen! Ich war inzwischen egozentrisch. Stets hatten Ida, Grete L., Doris L. und Gerda mich angewiesen, mich "um mir selba zu kümman", sodass ich mir meine eigene Welt erschaffen hatte. Waltraud war mein Tor ins Diesseits, denn ich spürte, dass Ida sich selber schon lange "abgeschrieben" hatte und mir war beigebracht worden, dass Irma nichts taugte. An sie durfte ich mich eigentlich nicht wenden mit meinen Fragen.
Gerda hatte keine Zeit. Ihre Gründe kannte und akzeptierte ich. Sie war jung und wollte das Leben genießen. Sie hatte keine Zeit für mich; sie hatte ja nicht mal Zeit für ihre Tochter! Umso mehr freute ich mich über jedes Geschenk von ihr: Bekleidung, Süßigkeiten, Spielzeug, Bücher.
Waltraud war lange Zeit mein Halt. Aber sie wollte es nicht sein. Sie wollte nicht Verantwortung aufdiktiert bekommen. Ich war nicht ihre Schwester. Ich war eigentlich eine Fremde für sie. Vielleicht hatte sie sogar schon Parallelen gezogen zwischen ihrer Mutter und Irma sowie zwischen ihr und mir und eine ähnliche Entwicklung befürchtet.
Eigentlich trennten uns Welten. Ihre Mutter war Idas Adoptivtochter, also war sie Idas Enkelin. Ich war Idas Nichte. Wie hat sie wohl meine Anwesenheit erklärt? Waltraud hatte ja nicht wie Gerda das Vergnügen, sich ein Geschwisterchen aussuchen zu dürfen!
Als Gerda ihre Tochter wieder bei Ida abgeben musste, verabschiedete sie sich ganz lieb und lange. Ich sah atemlos zu und konnte dem Geschehen kaum folgen, denn es gab keinen besseren Ort für Waltraud, als bei Oma! Warum musste sie nun wieder und wieder geküsst werden von ihrer Mutter? Es sah ja fast so aus, als ob einer von den beiden stirbt!
Gerda wollte vor Alfreds Rückkunft in der gemeinsamen Wohnung sein, so blieb uns Kindern Zeit zum Spielen. Ich wunderte mich, dass Waltraud so still und zurückhaltend war. Dann gab es Abendbrot, danach wurden wir zu Bett geschickt. Waltraud hätte das Bett gern für sich allein gehabt, aber sie musste sich fügen. Ihr einziger Trost war, dass sie eine eigene Zudecke hatte.
Ich schlief gleich ein und erwachte erst morgens. Ich stellte mit Entsetzen fest, dass das Bett nass war. Ida schimpfte und verdrosch mich. Sie war fest überzeugt, dass ich der Urheber war.
Ich heulte und beteuerte meine Unschuld, doch es half nichts. Am anderen Morgen war das Bett wieder nass und ich bekam wieder Prügel.
So ging es zwei Wochen. Dann kam Gerda zu Besuch und erkundigte sich, wie Waltraud den Umzug vertragen habe. Ida erklärte: "Waltraud jeht det jut, so jut, wie t nur jehn kann. Die fühlt sich sauwohl hier. Warum ooch nich? Se hat ja schon vorher lange jenuch hier jewohnt! Aba die Christa, det jottvadammte Jör, die pullat jede Nacht ein, det olle Schwein det, un ick dachte, die is drocken, wie sich det jehört mit drei Jahre!"
Gerda schniefte leise und sagte mit rotem Kopf: "Det ha k vajessn, dir zu saaren, Mama, det is neemlich so, die Waltraud is undichte, weil se sich mit den Alfred nich vadraaren kann. Ick hatte aba jehofft, det se nich mehr einmacht, wenn se bei dir is!"
Ida knirschte mit den Zähnen: "So, det afah ick jetze also so nehmbei! Konntste denn det nich jleich saaren? Weeßte, det ick die Christa jedn Tach vadroschn habe für t Einpinkeln un jetz wa se det jar nich?!"
Sie wandte sich erregt zu Waltraud: "Un du saachst ooch nich, det du det waast un kieckst zu, wie die Christa Keile kricht?!"
Waltraud wurde blass und versteckte sich hinter mir. Gerda sagte: "Der Alfred hat die Waltraud ooch jeedn Tach vadroschn, det nützt aba iebahaupt nischt." - "So", sagte Ida versöhnlich, "denn hat ja die Waltraud ihre Schdrafe schon lange wech."
Nun fragte sie, wann das Bettnässen begann und kam zu dem Schluss, dass diese Krankheit sich ärztlich behandeln lässt. Sie ging mit Waltraud zu einem Arzt. Binnen kurzem war das Kind genesen.
An jenem Tag jedenfalls gab Gerda mir als Trostpflaster eine kleine Tafel Schokolade mit den Worten: "Die Lale ha k ja eijentlich für Traute mitjebracht, aba du bist villeicht so lieb un jibst ihr wat ab!"
Selbsverständlich gab ich ihr etwas ab, denn die Schläge, die sie vom Stiefvater bekam, waren mit Sicherheit schmerzhafter als die mir von Ida zugeteilten. Wir aßen jeder vier Karos von der köstlichen Karina-Schokolade. Dann sagte Waltraud: "Det jroße Schtück heeb ma für schpeeta uff, du musst nich allet mit eenma uffessn."
Das hielt ich für sehr vernünftig und war dankbar für den Hinweis. Als ich Stunden später nach der Schokolade suchte, hatte sie sie aufgegessen. Auf meine Tränen erwiderte sie: "Na und? Meine Mutta hatte doch mir die Lale mitjebracht! Kannst froh sein, det de übahaupt wat davon abjekricht hast!"
Da Waltraud in der Schule Schwierigkeiten mit dem Lesen hatte, musste sie mir abends Märchen vorlesen, das liebte ich sehr. Wenn das Märchen zu Ende war, hatte ich noch tausend Fragen, die sie höchstens zur Hälfte beantwortete. So spann ich die Märchen in Gedanken weiter, bis ich eingeschlafen war.
Bald war ich ihr lästig. Kein Wunder, es waren sechs Jahre Altersunterschied zwischen uns, sie hatte logischerweise andere Interessen als ich. Anfangs war ich absolut nicht gewillt, das zu akzeptieren. Ich forderte mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln meine "Rechte". Ich wollte, dass Waltraud ebenso "meine" war, wie ich "ihre" war.
Sie fand jedoch in allen Erwachsenen Beistand in dieser Frage und ich wurde darauf vertröstet, dass sie sich mit mir abgeben wird, so oft sie kann. Da konnte ich oft lange warten! Wenn sie dann mit mir spielte, musste ich tun, was sie wollte, andernfalls würde sie nie wieder mit mir spielen. Das wollte ich selbstverständlich nicht riskieren.
Auf die Straße hinunter durfte ich sehr selten alleine; ich war auf Waltraud als Spielkameradin angewiesen. Oft behandelte sie mich wie eine lebendige Puppe und ich war es zufrieden. Für mich war sie die liebste, beste und hübscheste Cousine, die ich mir wünschen konnte.
Selten ging sie auf meine Spielvorschläge ein. Da musste ich mir schon etwas Außergewöhnliches einfallen lassen, in der Gefahr, von ihr als "verrückt" bezeichnet zu werden.
Ging sie mit mir zum Spielen auf die Straße, war ich oft ein Vorzeigeobjekt für sie. Sie demonstrierte den anderen Kindern an mir, dass sie sehr gut mit Kindern umgehen kann und sehr lieb ist. Wenn sie dann die anderen für sich gewonnen hatte, durfte eines der Kinder mit mir spielen. Meist sah es so aus, dass ich in irgendeine Ecke gesetzt wurde, wo ich auf die Puppen der großen Mädchen aufpassen durfte, während sie Verstecken oder Einkriegezeck spielten. An der Art, wie manche Mädchen mir ihre Puppen übergaben, wurde mir bewusst, dass mitunter die schäbigste Puppe das größte Heiligtum eines Mädchens sein konnte und ich behandelte die Puppen ihrer "Stellung" entsprechend, d.h. ich drückte die Puppen an mein Herz, von denen ich glaubte, dass sie der allerliebste Besitz ihrer Puppenmuttis sind und gab sie nur an diese ab, und setzte alle anderen auf die bereitgelegten Kissen.
Einer der etwas wohlhabenderen Nachbarsjungen hatte zum Geburtstag ein Fahrrad bekommen. Stolz ließ er alle Freunde das neue Spielzeug ausprobieren. Waltraud wäre gern die erste gewesen, aber sie stand auf der Sympathie-Skala nicht an erster Stelle. So konnte sie beobachten, dass die Fahrlehrlinge meist schon nach wenigen Metern stürzten. Als die Reihe zu fahren an sie kam, antwortete sie schnippisch: "Ach, weeßte, so n Ding, wat nich richtich steht und wennt mal steht, jleich wieda umkippt, nehm ick nich zwischen de Beene!"
Als Teenager entdeckte sie ihre Freude am Show-Tanz und übte mit Doris L. Steppen. Auf der Straße brachte sie den Kindern unserer "Gang" eine Tanzszene bei mit dem Gesang: "Laura, Lauralett (Step-Step), ich schwärme für s Ballett (Step-Step)." Der weitere Text ist mir entfallen, denn ich Fünfjährige konnte nicht gleichzeitig tanzen, singen und schnalzen.
Peter, der Sohn einer Freundin von Irma, besuchte uns. Der Vierzehnjährige war sehr belesen und unterhielt uns mit einer Abhandlung über ausgestorbene Tiere und Pflanzen unter Verwendung der lateinischen Bezeichnungen. Waltraud sagte bewundernd: "Eh, du bist ja akademisch beschlagen!"
Doris L., der die Fossilien völlig gleichgültig waren, höhnte: "Ja, echt akademisch beschlackert!"
Ich war erst fünf und hatte dem Gespräch kaum folgen können, aber dass "beschlackert" soviel bedeutete wie "bekloppt" oder "bescheuert", das wusste ich schon. Auch, dass Ackerbauern bekloppt sind, hatte man mir schon beigebracht. Als ich Tage später mit einem Nachbarskind Streit hatte, schleuderte ich ihm das neue Schimpfwort entgegen: "Du bist ja ackerdämlich beschlackert!" Für mich war das eine Steigerung ähnlich "saudoof".
Irgendwann hatte Waltraud auch die Indianer-Romantik entdeckt. Als besagter Peter uns wieder einmal besuchte, schlug sie vor, dass wir Indianer spielen. Peter sollte der Indianer sein und wir beide eine Farmerfamilie.
Peter "überfiel" uns und fesselte Waltraud an die Tür. Er spielte den Indianer sehr überzeugend. Als er dicht vor Waltraud hintrat und mit drohendem Ton sagte: "Weiße Frau müssen sterben!", schrie ich angstvoll: "Nein!" und stürzte mit derartiger Kraft auf ihn ein, dass er sich in die äußerste Küchenecke verkroch. Ich hatte meine liebe Waltraud befreit und das Spiel war aus.
Bei seinem nächsten Besuch weilte Doris gerade bei Waltraud. Mit Peters Erscheinen stand fest: Wir spielen "Wilder Westen". Rasch waren die Namen "Old Shatterhand", "Old Firehand" und "Old Shurehand" verteilt. Peter fragte: "Und wie soll Christa nun heißen?" Die Mädchen sahen sich fragend an. Da sagte ich: "Icke? Na, janz einfach, "Old Icke". Alle lachten, doch der Name wurde anerkannt. Ich verwendete ihn später so oft, dass sich auch andere Kinder gelegentlich so nannten.
Da ich alles mit Waltraud zu teilen hatte, war ich der Meinung, dass sie auch alles mit mir zu teilen hat. Das tat sie nur, wenn sie dazu angewiesen wurde. Peter schenkte mir damals zu meinem Geburtstag ein herzförmiges Flakon mit rotem Parfüm. Das war das erste und für lange Zeit einzige Geschenk, das mir ein Junge machte. Ich konnte gar nichts damit anfangen. Parfüm halte ich für unnatürlich und lächerlich. Ich bemitleide die Damen, die da glauben, nicht ohne parfümiert zu sein aus dem Haus gehen zu können. Waltraud fand den Geruch zu süß, so wurde es verbraucht, wenn sie mit anderen Mädchen "feine Dame" spielte. Das leere Herz besaß ich, bis Ida es in den Müll warf.
Gerda schenkte uns ein Kinderlieder-Spiel. Es bestand aus mehreren festen Pappen mit großen Karos darauf. Auf die Karos waren Kärtchen zu legen, auf denen Liedanfänge gedruckt waren. Wer das Lied kannte, musste es zu Ende singen und durfte das Kärtchen auflegen, aber mit dem Rücken nach oben. So entstanden auf jeder Pappe Märchenbilder. Dieses Spiel liebte ich sehr, aber wir kannten nicht alle Lieder, so legten wir die verbleibenden Kärtchen einfach zum Schluss der Logik des Märchenbildes entsprechend auf. Waltraud und Doris spielten das Spiel häufig in meiner Gegenwart, ohne mich mittun zu lassen. Es war ihnen manchmal eine reine Freude, mich zum Weinen zu bringen.
Wenn ich nicht mehr weinte, legten sie das Spiel zur Seite, ohne es zu beenden und wandten sich anderen Dingen zu. Z.B. einem Brettspiel namens "Puff". Es wurde bei Familie L. oft gespielt, so liebten es auch Waltraud und Doris. Einmal erklärten sie mir die Spielregeln, aber ich war „wieder einmal zu blöd“, sie zu verstehen. Es wird auf einem Backgammon-Brett gespielt und ist vielleicht damit identisch. Ich kenne Backgammon nur von Abbildungen.
Zu jener Zeit war es "in", dass jedes Kind einen Spitznamen hatte. Waltraud in "Walle" zu verwandeln und Christa in "Krille" genügte nicht mehr. So wurde aus der einen "Wallemimi" und aus der anderen "Krillepipi", womit Waltraud nachträglich dokumentieren wollte, dass ich und nicht sie der Bettnässer war.
Ich trug es mit Gelassenheit, denn ich wusste, dass jeder die Wahrheit kannte. Und ich wollte, dass es vergessen wird, denn ich sah, dass Waltraud mit dem Stiefvater nicht einverstanden war, dass der fremde Mann ihr Leben ändern wollte, ein Leben, mit dem sie vollauf zufrieden war. Und dass das Einpullern das letzte Mittel war, sich seiner zu erwehren.
Aber Gerda hat das nicht erkannt. Sie setzte ihre Gemeinsamkeit mit Alfred über das Schicksal ihres Kindes.
Ich konnte es absolut nicht vertragen, wenn man mich "Christel" oder gar "Christelchen" nannte. Ich fühlte mich durch diese Schmeichelei verhöhnt. Wenn Waltraud mich so ansprach, nannte ich sie "Krallkraut".
Übrigens steigerten wir in jener Zeit "auweia" zu "auwacka", "auwatka" oder gar "auwatteka".
Waltraud lehrte mich viele Küchenlieder, die wir mit Inbrunst sangen, bis uns die Tränen kamen. Namentlich das Lied "Ein Kind von viereinhalb Jahr" trieb mir so regelmäßig die Tränen in die Augen, dass es mir jetzt nicht mehr in voller Länge erinnerlich ist.
Ich hatte großes Mitleid mit dem armen Kind, es war genau so alt wie ich, doch ihm ging es ja soviel schlechter als mir! Zwar wuchs auch ich ohne Mutter auf, aber dafür hatte ich ja die "liebe Omi, die liebe Tante Gerda, die liebe Waltraud, die liebe Familie L., die lieben "Moabiter" und die "olle Tante Irma". Auch ich litt Schmerzen, wenn ich frisiert wurde, aber bei den Sonntagsspaziergängen bekam ich doch genau wie Waltraud einen Kranz aus künstlichen Blüten ins Haar! Ich fühlte mich gekrönt.
Und ich bekam fast alles das zu essen, was Ida aß; wenn sie einmal etwas alleine aß, entschuldigte sie sich: "Det is nischt for kleene Kinda!"
Und mir wurden Schlaflieder gesungen und sogar Märchen vorgelesen . . . Ich weinte herzzerreißend über das traurige Schicksal der besungenen Halbwaise, worüber Waltraud lachte. Es war ihr nicht bewusst, dass diese Texte in mir Emotionen freischlugen. Warum auch? Meine Eltern lebten ja noch - aber ich hatte davon keine Ahnung. Und sie bekam gerade einen neuen Vater.
Oft richteten wir uns unter dem Stubentisch eine Höhle ein. Unsere Fußbänke, die Puppenkissen und vieles andere fand darin Platz. Wir träumten uns zu Räuberbräuten, Hexen oder Teufeln. Natürlich war es dunkel in unserer Höhle, direkt ein wenig gruselig. Da redete sie einmal (ich war vier Jahre alt) mit tiefer Stimme auf mich ein: "In einem duunklen, duunklen Waald, da steht ein duunkles, duunkles Hauuus, und in dem duunklen, duunklen Hauus, da ist ein duunkler, duunkler Keller, und in dem duunklen, duunklen Keller, da steht ein duunkler, duunkler Sarrrg, und in dem duunklen, duunklen Sarrrg, da liegt ein duunkler, duunkler Mannn, und in dem duunklen, duunklen Mannn, da schläägt ein duunkles, duunkles Herrrz, und auf dem duunklen, duunklen Herrrz, da steht mit duunkler, duunkler Schrift - erschreck dich nicht!" Mir war während der langen Rede in dem ungewohnten Hochdeutsch schon ganz ängstlich zumute.
Als sie nun den letzten Satz mit schrillen Tönen ausstieß und mit den Händen auf mich zufuhr, erschrak ich dermaßen, dass ich laut aufschrie und beinahe einnässte. Waltraud kringelte sich vor Lachen, ich hatte ihr ein großes Vergnügen mit meinem Schreck bereitet.
Ida bemerkte einmal, dass Waltraud mich wie eine von ihren Puppen behandelte. Sie wies Waltraud zurecht: "Du musst nich denkn, det die Christa dein Schpielzeuch is, merk dir det!" Darüber war ich sehr froh. Nun schikanierte Waltraud mich nur noch, wenn Ida nicht in der Nähe war.
Als ich Fünfjährige mich wieder einmal von Waltraud ungerecht behandelt fühlte, heulte ich: "Det saare ick allet Oman, denn wißte schon seehn, wat de davon hast!"
Sie warf den Kopf zurück und lächelte höhnisch: "Det kannst de ruhich machn. Da passiert jar nischt. Det is neemlich MEINE Oma; un duuu - du hast jar keene!"
Verdutzt schwieg ich. Die Ungerechtigkeit war vergessen. Ich forschte nach. Die von Waltraud behauptete Ungeheuerlichkeit bewahrheitete sich: Die Frau, die ich zärtlich "Oma" nannte, war meine Tante. Die Mutter meines Vaters war verstorben, die Mutter meiner Mutter war unbekannt. "Onkel Otto" und "Tante Elly" waren in Wirklichkeit meine Eltern und meine Brüder Manfred und Paul wurden mir tunlichst vorenthalten. Kann man so etwas verkraften? Ich musste es versuchen.
In der Regel bekam ich all das, was Waltraud auch bekam. So auch einen lebenden Maikäfer zum Spielen. Waltraud und Doris besaßen mehrere Käfer und beschäftigten sich stundenlang mit ihnen. Ich durfte mit meinem Käfer an einem anderen Ort spielen, ich hatte zufrieden zu sein, überhaupt einen bekommen zu haben.
Aber ich wusste nicht, was man mit einem Käfer spielt. Ihn mit seinen krummen Beinen in der Schachtel herumstaksen zu sehen, war mir bald langweilig, so setzte ich ihn auf die wilden Triebe eines Lindenbaums vor unserer Haustür. Hier bewegte er sich wesentlich eleganter.
Als ich sah, dass er Luft unter seine Flügel pumpte, fing ich ihn rasch ein, denn hätte ich ihn davonfliegen lassen, wäre ich wieder einmal ausgelacht worden.
Es machte mir nichts aus, dass der Käfer ein paar Tage später tot in seiner Schachtel lag. Ich gönnte ihm seinen Frieden und begrub ihn bei jenem Lindenbaum.
Im Sommer 1950 hatten Waltraud und Doris sich ein kleines heiteres Theaterstück ausgedacht, welches sie den Nachbarskindern vorführen wollten. Rasch war auf einem nahe gelegenen beräumten Ruinengrundstück ein kleiner Hügel zur Bühne deklariert, und die beiden Mädchen begannen, den "Zuschauerraum" zu gestalten. Sorgsam legten sie aus Ruinen heraus gebrochene Ziegelsteine als Sitzplätze im Halbkreis aus. Plötzlich sagte Doris: "Der Mäcky is noch soo kleen, für den leje ick zwee Steine hin."
Da erwiderte Waltraud, um eine kürzliche Meinungsverschiedenheit im Nachhinein zu ihren Gunsten zu entscheiden: "Christa is ooch kleen, für die leje ick ooch zwee Steine hin."
Damit war Doris nicht einverstanden. Obwohl ich einwandte: "Ick setz mir als letzta hin, ick kann ooch an de Erde sitzn, wenn nich jenuch Steine da sin!", legte Doris für ihren Bruder immer noch einen Stein mehr auf, als Waltraud für mich anhäufte.
Ich wiederholte meinen Einwand laut, doch die Mädchen waren total in ihren Streit vertieft. Er war so absurd; Mäcky konnte noch nicht freihändig laufen und hätte den für ihn bestimmten Steinstapel niemals erklettern können und überdies blieben nunmehr für die anderen Zuschauer kaum noch "Sitzplätze" übrig. Ich hätte die beiden großen Mädchen gern zur Vernunft gebracht, aber ich wusste nicht, wie ich Waltraud ihr - in meinen Augen - Unrecht erklären sollte, nachdem sie sich für mich einsetzte und wusste auch nicht, worum es in Wirklichkeit ging.
Die Steinstapel waren inzwischen so hoch und wacklig, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht einzustürzen drohten. Waltraud hielt den für mich bestimmten Stapel bereits mit beiden Händen fest. Ich ertrug den Streit nicht länger und stieß den für Mäcky bestimmten Stapel um. Leider machte Doris gerade einen Schritt in seine Richtung und bekam die fallenden Steine gegen ihr Schienbein. Sie hüpfte wehklagend im Kreis herum. Es tat mir sehr leid, aber ich wusste, sie würde meine Entschuldigung nicht annehmen, sondern mich verprügeln.
So rannte ich nach Hause. Waltraud hetzte mir nach und gratulierte mir für meinen "Mut". Wenn ich nicht eingegriffen hätte, hätten sich die beiden Mädchen wieder geschlagen, wobei Waltraud meist den Kürzeren zog. Ich wollte sie nicht mit einem blauen Auge sehen. Das geplante Stück fiel aus.
Am Sonntag gingen wir Kinder oft zur Kindervorstellung ins Kino, wo eine Eintrittskarte damals nur fünfundzwanzig Pfennige kostete. Mir gefielen die russischen Märchenfilme am besten. Nachdem wir wieder einmal einen ganz besonders ergreifenden Film gesehen hatten, entspann sich auf dem Heimweg folgendes Gespräch:
Waltraud (ebenso höhnisch wie mitleidig): "Na, Krille, haste wieda jeweent?"
Ich (aufschluchzend): "Na, wenn det doch so traurich is, det der Jute zuletzt imma schtirbt!"
Doris (kalt): "Hätt a sich nich injemischt, weer ihm ooch nischt passiert."
Ich (aufgebracht): "Aba denn hätte doch der Drachn weita jedet Jah n Meechn jeholt un die Felda vabrannt!"
Doris (schnippisch): "Na und? Det is Schicksal."
Ich war nicht bereit, mich mit solch einem Schicksal abzufinden und keifte: "Denn wär det woll ooch ejal, wenn jetz hier n Besoffna uns dreie mit sein Auto dootfeehrt?" (Kürzlich hatte Irma aus der Zeitung vorgelesen, dass ein betrunkener LKW-Fahrer in eine Kindergartengruppe gerast war, wobei sechs Kinder getötet wurden.)
Waltraud (ergeben): "Wenn det unsa Schicksal is . . ."
Ich (hämisch): "Denn brauch man woll bloß so vor sich hin zu leehm un uff sein Schicksal zu waatn, wat?"
Waltraud (munter): "Nee, nee, man muss sein Schicksal ooch schon n bisschen selba in ne Hand nehm!"
Ich (heftig gestikulierend): "Na, det hat Iwanuschka doch jemacht un dabei Jutet for sein Dorf areicht!"
Doris (höhnisch): "Ja, aba selba hat a übahaupt nischt davon!"
Ich hatte den Eindruck, dass Doris den Filmhelden verachtete und fragte: "Un wat saachst de zu Jesus? Der hat so ville Jutet jetan, det man heut noch zu ihm beetet!" (Eigentlich wollte ich sagen: „Wenn Iwanuschka blöd is, denn is Jesus für umsonst jestorben, wenigstens, wat dir betrifft!“, aber eine derartige Frechheit wagte ich mir nicht herauszunehmen.)
Waltraud (lachend): "Der war ja keen richtja Mensch! Und außadem musste er denn selba ooch sei m Schicksal folljen, du weeßt doch, det er ant Kreuz jeschlaaren wurde!"
Ich war der Ansicht, dass sich uns das Schicksal trotz aller göttlichen Fügung meist in Gestalt eines Menschen begegnet und wählte rasch ein neues Beispiel: "Un Hitla? Der hat doch jleich det Schicksal der Natzjon in de Hand jenomm!"
Doris (unwillig): "Det Schicksal der Natzjon! Du quatschst heut wieda een dußlijet Zeuch zusamm! Halt bloß endlich die Klappe, du alte Zanktippe (so verstand sie Xanthippe. Keiner von uns wusste, wer Xanthippe war.) Waltraud: "Loof ma n Schtück vor, Krille, wir wolln uns üba wat andret untahaltn."
Sie schob mich an der Schulter vorwärts, und ich gehorchte, nachdem ich das böse Funkeln in Doris` Augen sah.
Als ich der Freundin meiner Mutter Jahre später von Doris Eigensinn berichtete, kommentierte sie: „Gegen Dummheit kämpfen selbst Götter oft vergeblich.“
Im Sommer vor meiner Einschulung gab es einen Tag, an dem Waltraud mich als "Anstandsdame" zu ihrem ersten Rendezvous mitnahm. Sie verplauderte sich mit dem Knaben und wir hatten es nun sehr eilig, nach Hause zu kommen.
Beim Überqueren der Charlottenburger Str. lief Waltraud einem Radfahrer direkt ins Rad. Beide stürzten, das Rad zerbrach, der Radfahrer hatte ein Loch in der Hose und eines im Ärmel, somit also gewiss auch etliche Wunden. Waltraud brüllte wie am Spieß. Rein äußerlich betrachtet hatte sie nur Hautabschürfungen, aber die am Kopf blutete stark.
Der Mann befürchtete innere Verletzungen, weil Waltraud sich den Leib hielt und unablässig schrie, als litte sie allergrößte Schmerzen. Er bat mich, seine Tasche zu tragen - sie enthielt wichtige Dokumente, wie er erklärte -, ließ das Fahrrad ungesichert zurück und trug Waltraud nach Hause. Ich wies den Weg.
Waltraud schrie noch eine Weile, dann schluchzte sie nur noch. Auf der Treppe schmiegte sie sich selig an den Samariter. Sie genoss es sichtlich, getragen zu werden. In der Wohnung angekommen, wurden Waltraud und der Radfahrer von Ida verarztet. Er war sehr besorgt und ließ seine Adresse zurück, damit er im Bedarfsfall für den Schaden aufkommen könnte.
Als Ida hörte, dass Waltraud selbst den Unfall verursachte, befand sie: "Det is nett, aba nich nötich." Waltraud hatte wirklich nur ein paar Kratzer abbekommen, die rasch verheilten.
Eines Tages sagte Waltraud zu mir: "Uff deine Familie jibt et n Jedicht." Ich lächelte glücklich und sie fuhr fort: "Sechs ma sechs is sechzndreißich, is der Mann ooch noch so fleißich un die Frau is liedalich, taucht die janze Wirtschaft nich!"
Was sollte ich dazu sagen? Verletzt zog ich mich zurück. Sie machte immer wieder derartige Bemerkungen. Sie sah nicht, dass sie mir wehtat. Wenn ich mich jedoch ihrer glitzernden Augen bei ihren hässlichen Worten erinnere, dann möchte ich meinen, dass es ihr Spaß machte, mich zu demütigen.
Einmal sagte sie höhnisch zu mir: "Ih, dein Vata is ja soo alt un hässlich!" Ich blickte sie ernst an und überlegte, ob es jetzt vielleicht angebracht war, einmal gleiches mit gleichem zu vergelten und zu antworten: "Ja, ja, so is det, ick hab n altn un hässlichn Vata un du hast zwee junge, wovon de den een nich kennst un den andan nich leidn kannst. Mein Vata kümmat sich nich um mir un deine Väta kümman sich nich um dir. Is denn nu eene von uns beede bessa dran?"
In der Furcht, sie als Ansprechpartnerin zu verlieren, schwieg ich. Und als sie ein paar Tage später höhnisch kicherte: "Ih, deine Mutta is ja Linkshändla!", war es mir zu blöd, ihr noch einmal zu erklären, dass es "Linkshänder" heißt. Kürzlich war bei dem üblichen Sonntagnachmittagkaffee, an dem außer Ida, Waltraud und mir auch Grete L. teilnahm, davon die Rede, dass meine Mutter diese Besonderheit aufweist. Alle sagten "Linkshändler". Ich versuchte, zu korrigieren. Daraufhin war meine Mutter eben ein "Linkpoot". Es könnte mich interessieren, ob dieses Wort einer lebenden Sprache entstammt!
Ich schlug also jetzt Waltraud gegenüber in Klatschtantenmanier die Hände über dem Kopf zusammen und rief mit verdrehten Augen und gequetschter Stimme aus: "Wat det nich allet so jibt!"
Waltraud blieb der Mund offen, dann winkte sie verächtlich ab und ließ mich stehen. Nun hatte ich meine Ruhe. Um ihrer Schönheit und ihres ungewöhnlichen Schicksals wegen hatte ich ihr vieles verziehen, aber einmal musste Schluss sein mit den entwürdigenden Gemeinheiten. Ich konnte und wollte ihre hässlichen Bemerkungen, die vielen Lügen und Verdrehungen der Tatsachen betreffs meiner Familie nicht länger ertragen. Damals war ich elf Jahre alt, Waltraud also siebzehn.
Waltraud sagte damals oft: "Appel fällt nich weit vom Schdamm!", womit sie andeuten wollte, dass ich meiner Mutter charakterlich sehr ähnlich sei. Sie kam nicht auf die Idee, dass der Satz auch auf sie selber zutrifft. Aber da alle so waren wie sie, war ich der Außenseiter, das erziehungsbedürftige Kind, wo jedes Mittel recht war, es zur Raison zu bringen.
Waltrauds Einsegnung war ein großes Fest. Zum Festakt in der Kirche durfte ich nicht mitgehen. Man sagte mir, dass jeder nur wenige Familienangehörige mitbringen darf. Gerda als Mutter natürlich und Alfred gingen hin und "die Moabiter". Ich weiß nicht mehr genau, welche von "den Moabitern" es waren. Vielleicht waren es nur Christa und ihre Mutter.
Ich war so unglücklich darüber, nicht mit in die Kirche zu dürfen, dass ich stundenlang weinte. Ida fluchte: "Die Kirche is voll; da sin unheimlich ville Leute, jeeda, der heut einjeseejenet wird, hat ne jroße Vawandtschaft, die alle jerne dabei sein möchtn, nich JEEDA kann an die Einseejenung teilhabn, eena muss ooch for t Essn sorjen!" Wenn Ida geahnt hätte, dass das die letzte Gelegenheit war, mich freiwillig zu einem Gottesdienst gehen zu sehen, hätte sie ihre Meinung wahrscheinlich geändert.
So sorgte ich nun also für das Essen, indem ich ihr half, das Gekochte nach Pankow zu transportieren, wo die Feier in Gerdas Wohnung weiterging.
Ich war so verärgert, dass ich mich nicht an Waltrauds Einsegnungskleid erinnere. Ich weiß nur noch, dass sie sagte: "Det Kleid krichst du nich, Krille,det is mein Einseejenungkleid; und eha schterrb ick, als det du det krichst!"
Sie sah wunderschön aus mit ihrer neuen Frisur. Insgesamt wirkte sie auf mich wie eine Kronprinzessin. Nie hatte ich sie über so viele Stunden hinweg bei so guter Laune gesehen! Obendrein legte sie ein tadelloses Benehmen an den Tag, war keinen Moment schnippisch, sondern zu jedermann freundlich und liebenswürdig, sogar zu ihrem verhassten Stiefvater.
Wenn es an der Tür klingelte, lief sie rasch, um zu öffnen. Das war sonst immer meine Aufgabe. Seit ich groß genug war, um an die Türklinke heranzureichen, durfte ich die Tür öffnen und JEDEN in unsere Wohnung einlassen.
Diese Aufgabe war mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich auch in anderen Wohnungen aufsprang, um meine Pflicht zu tun.
Als ich es auch an diesem Tage beim ersten Klingeln wie gewohnt tun wollte, herrschte Gerda mich an: "Du bist hier heute nich die Hauptperson!" - als wäre ich es sonst IMMER. Ein paar mal waren es keine Gäste, sondern Musiker oder Sänger, die dem Konfirmanden ein Ständchen brachten in der Hoffnung auf ein gutes Trinkgeld Namen und Adressen der Konfirmanden waren an der Kirchentür angeschlagen. Den ersten gab Waltraud etwas, das sie allerdings erst von ihrem Stiefvater erbitten musste. Danach verbat er sich die Bettelei und Waltraud wies die Musizierenden im Tonfall ihrer Eltern ab.
Ansonsten ging es auf Waltrauds Einsegnungsfest genau so zu wie auf all unseren anderen Familienfeiern.
1952 bekam Waltraud eine neue Deutsch-Lehrerin, die den Berliner Jargon im Allgemeinen und Waltrauds im besonderen vor der Klasse kritisierte. Waltraud mokierte sich zu Hause darüber: "Is denn det nu soo wichtich, wie man schpricht?" Ihre Mutter, die zufällig bei uns zu Besuch weilte, antwortete sanft: "Det is schon wichtich, Engelchen, wenn de nich oondlich schprichst, kannst de nie int Büro aabeitn, un du willst doch woll nich wie deine Mutta in die olle dreckje Fabrik jehn müssn?!"
Waltraud errötete leicht und sagte mit gesenktem Kopf sehr bestimmt: "Nee!" Sie war tatsächlich später nie als Produktionsarbeiterin tätig.
Einmal - wir waren damals 11 und 17 Jahre alt - kam Waltraud nach Hause und sagte unvermittelt zu mir: "Wenn ick denn schpeeta ma vaheirat bin, lass ick mir von mein Mann n zartrosanet seidich schimmandet Nicklischee (Negligee) koofn. Weeßt du, wat n Nicklischee is? Nee, wa? Na ja, kannste ja ooch nich wissn, bei dir sin ja Fremdwörta Jlückssache!"
Sie wollte an mir vorübergehen. Ich wusste, was ein Negligee ist, ich hatte das Wort kürzlich in einer Illustrierten gelesen und die Freundin meiner Mutter nach der Bedeutung gefragt. Sie erzählte mir dazu eine ihrer Kindheitserinnerungen, dass ihre Lehrerin seinerzeit die Schüler aufforderte, Wörter mit doppel- "e" zu nennen und ihr ausgerechnet das Negligee in den Sinn kam, woraufhin sie von der Klasse ausgelacht wurde.
Ich beschloss, mich diesmal nicht verletzt zurückzuziehen und rief ihr nach: "Du hast Recht, Walle, Fremdwörta sind bei mir Jlückssache. Du hast neemlich det Jlück, det ick deine Fremdwörta vaschtehe!"
Das war an jenem Tag unsere gesamte Unterhaltung; sie verließ die Wohnung gleich wieder. Im Übrigen wäre mir nie eingefallen, ein Wort zu benutzen, dessen Bedeutung mir unklar ist. Wenn sich mir schon einmal die Gelegenheit bot, mit jemandem zu reden, dann wollte ich auch verstanden werden.
Ein paar Tage später wollte sie die erlittene Schlappe ausgleichen und begann mit mir zu stänkern, was darin gipfelte, dass sie mich ein Kuckucksei nannte. Diese Bemerkung tut mir heute noch weh, denn weder hatte ich darum gebeten, bei Ida aufzuwachsen, noch hatte mich meine Mutter freiwillig zu Ida gegeben.
Ich vermute heute, dass sie ihren Schmerz über die eigene Trennung von der Mutter an mir ausließ. So kam ihr auch einmal in den Sinn, mir gegenüber schlecht von ihrer Mutter zu reden. Bissig zählte sie alle Fehler auf, die sie an ihrer Mutter zu bemerken glaubte. Getreu Idas Maxime: "Man soll immer mit den Wölfen heulen!", wagte auch ich, etwas Negatives hinzuzufügen: "Deine Mutta hat Achseljeruch!" Waltraud sah mich giftig an und keifte: "Du dreckjet Mistschtück bist nischt weita als n infama Nestbeschmutza!" Ich erwiderte aufgebracht: "Eh, wir schprachn ehmmd ausnahmsweise mal üba DEINE Mutta, nich üba meine!"
Aber es half alles nichts, ich war - wie immer - im Unrecht.
Dann wohnte sie wieder eine Weile bei ihren Eltern. Als sie nach vielen Streitigkeiten mit ihrem Stiefvater wieder zu Ida zurückehrte, hatte ich alle Ungerechtigkeiten längst vergessen. Ich freute mich, sie wieder bei uns zu wissen. Ich glaubte, dass alles wieder so wird, wie es war, denn sie war ja nur zwei Jahre weg gewesen.
Ich hatte ja keine Ahnung, was sie alles durchmachen musste im Elternhaus. Sie sprach auch nie mit mir darüber. Ich war für sie "die kleene Doowe". Das habe ich stets ignoriert. Sie war sechs Jahre älter als ich, logisch, dass sie entsprechend mehr wusste.
Erst heute wird mir klar, dass sie nicht meinen Bildungsgrad meinte, sondern meine Unfähigkeit zur Cleverness. Sie verehrte clevere Leute, ich verabscheute dieselben. Damit es hier keine Missverständnisse gibt: Als "clever" galten ihr jene Leute, die es verstehen, andere zu übervorteilen, ohne dass sie sich auch nur im Geringsten dagegen wehren können. Clever ist, wer einen Vorteil wittert und schonungslos für sich nutzt.
Erst Jahrzehnte später erkannte ich die Variante, dass man auch clever ist, wenn man am richtigen Ort zur richtigen Zeit mit Worten eine unheilvolle Situation zum Guten wendet.
Ich weiß nicht mehr genau, ob ich zwölf oder gar schon dreizehn Jahre alt war, als ich erstmalig Idas Erlaubnis bekam, mit einem jüngeren Nachbarskind in unserer Stube zu spielen. Die etwa zehnjährige war kürzlich in unsere Gegend gezogen, und kaum, dass ich auf der Straße ihre Bekanntschaft gemacht hatte, begann es zu regnen.
Ich nahm sie mit, weil ich mich ausgezeichnet mit ihr unterhalten konnte. Wir begannen ein Rollenspiel, wo die Dialoge nicht festgelegt zu werden brauchten, weil das Mädchen akkurat so reagierte, wie ich die Szene vor meinem geistigen Auge sah. Ida blickte mehrfach argwöhnisch zur Tür herein, sah uns aber jedes mal beim friedlichsten Spiel. Dann kam Waltraud nach Hause. Ich hoffte, dass sie wie gewöhnlich nur ihre Kleidung wechselt und dann wieder ihren Vergnügungen nachgeht, aber die hatten an jenem Tage wohl Zeit.
Sie unterbrach unser Spiel und fragte das Mädchen nach Namen und Herkunft und zeigte ihr dann ihre Kleider und Schmuckstücke und was weiß ich nicht noch alles. Ich ärgerte mich grün und blau, weil Waltraud mir die einzige Spielkameradin, die so wunderbar zu mir passte, abspenstig machte. Waltraud spielte schon lange nicht mehr mit mir, warum nun mit diesem Mädchen, das viel jünger war als ich? Ich versuchte vergebens, Waltraud von ihr abzulenken. Es endete damit, dass Waltraud mich beschuldigte, herrschsüchtig zu sein.
Wütend ging ich in die Küche. Später führte sie das Mädchen zu mir: "So, ick muss jetze los. Nu spielt ma wieda schön." Ich war außer mir. Ich rief: "Nee, du hast se übanomm, nu bring se ma ooch nach Hause!"
Waltraud lachte: "Ick weeß doch nich, wo die wohnt!"
Das war mir egal. Ich dachte nicht mehr an das Mädchen, ich ärgerte mich zu sehr darüber, dass Waltraud mir den Tag verdorben hatte. Ich spuckte Gift und Galle.
Das Mädchen ging alleine nach Hause. Ich hab sie nie wieder gesehen und mir leider nicht ihren Namen gemerkt. Aber dass sie ein hübsches und phantasievolles Geschöpf war, weiß ich noch heute. Und ich bitte sie um Vergebung für die ungerechte Behandlung, die ich ihr zuteil werden ließ.
Als ich Waltraud fünfzehn Jahre nach Idas Tod zufällig begegnete, wusste sie noch immer nicht, was sie mir angetan hatte. Sie war der Meinung, stets wie eine ganz liebe Schwester zu mir gewesen zu sein.
Ja, sicher hatte sie mich lieb. Auf die Weise, die sie von ihrer Mutter, von Ida und von Familie L. abgesehen hatte, wo häufig Kampf bis aufs Messer angesagt war.
Ich begegnete ihr in der Straßenbahn. Sie fuhr zum Einkauf in die Stadt und ich zur "Kinderkombination", wo meine Söhne untergebracht waren und wir knüpften unsere Verwandtschaft neu. Ich besuchte sie, sie besuchte mich, jeweils einmal.
Da ich Waltraud sehr gern hatte, besuchte ich sie abermals und bot ihr an, kostenlos Nickies für sie und ihre Kinder zu stricken. Mit "kostenlos" war gemeint, ohne Stundenlohn zu nehmen. Sie gab mir nicht den Preis für die Wolle. Ich hatte gearbeitet und das Material bezahlt. Waltraud hatte einen Mann, der - nach ihrer Aussage - gut verdiente, ich, die für drei Kinder zu sorgen hatte, hoffte, an jenem Tag den Preis für die Wolle in Empfang nehmen zu können, um meine Kinder ernähren zu können. Waltraud aber sagte: "Du hast gesagt, dass du kostenlos für mich strickst." Ein Missverständnis. Nur diesmal war es finanziell.
Dennoch verschaffte ich ihr eine Arbeitsstelle in der "Kinderkombination", wo ich als Reinigungskraft beschäftigt war. Sie bekam eine Anstellung als Hilfserzieherin, was ihr sehr gut gefiel.
Eines Tages ertappte ich sie dabei, dass sie krippeneigene Bettwäsche in ihre Tasche steckte. Sie sagte: "Na und? Ick bring se ja wieda, wenn se dreckig is!"
Clever, die eigene Bettwäsche unbenutzt zu lassen und stattdessen die volkseigene Wäsche zu benutzen und auch noch das Waschen zu sparen! Ich wäre nie auf so etwas gekommen und folgte Waltrauds Beispiel nicht. Ich bin eben blöd.