Ein bisschen die Zeit überbrücken

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Mistralgitter

Mitglied
Ein bisschen die Zeit überbrücken, bis du kommst, und wir das Mittagessen kochen. Spargel, Kartoffeln, Schinken, Butter. Mehr nicht. Wir lieben die Einfachheit. Du lässt auf dich warten. Ich habe aber jetzt schon Hunger, lege also aus Verlegenheit Salamischeiben auf ein trockenes Knäckebrot. Ein bisschen die Zeit überbrücken, auch mit diesem Text, bis mir etwas Besseres einfällt. Bis ich z. B. den Roman endlich schreiben kann oder den Sonettenkranz. Einen Titel hätte ich schon: Johannes oder Pepe.
Also: So etwas Größeres wie ein Roman oder ein Sonettenkranz sollte es schon sein. So etwas kann es sein, schließlich habe ich jede Menge Zeit.
Trotzdem läuft sie mir davon. Ich werde älter, Woche für Woche. Nicht mehr junge, sondern eine große Zahl von älteren Menschen gehört zu meiner Umgebung, sehr viele sind in diesem Jahr schon gestorben. Ich lebe und laufe meine Endrunde. Es wird knapp. Manchmal denke ich, ich wäre gerne unsterblich, es ginge immer so weiter, und bin traurig, dass ich Abschied nehmen muss eines Tages, vom Garten, von dir. Du bleibst allein zurück. Es gibt sonst keine Familie für dich, wo du Rückhalt finden könntest. Ein erschreckender Gedanke.
Die Pfingstrosen blühen dieses Jahr so wunderschön. Die Amsel singt, ich höre die Spatzen, und der Wind streift durch den Flieder, durch die Forsythien und den Goldregen. Ein schillernd grüner Käfer lag gestern tot auf der Terrasse. Ich hab im Internet nachgeguckt, es war ein Rosenkäfer. Er muss durch den Rindenmulch gekommen sein, den ich voriges Jahr vom Gärtner bekommen hab. Heute ist an der Terrassentür im Wohnzimmer eine Hummel verendet.
Ich sitze auf der Terrasse mit Blick in den Garten. Von draußen zieht ein Geruch herein, irgendeine Wohnung in der Nachbarschaft riecht miefig, nach Lange-nicht-gelüftet, einfach nach verbrauchter Luft. Ich überlege: Kann man etwas Verbrauchtes überhaupt riechen? Es ist doch nicht mehr da, wenn es verbraucht ist. Naja, man muss nicht unbedingt darüber nachdenken.
Ich müsste zwei Freundinnen anrufen, aber ich habe keine Lust dazu. Ich mag ihr oberflächliches Gerede nicht und zu tiefergehenden Gesprächen bin ich zu müde. Etwas Anregendes wäre besser. Aber ich weiß niemanden, der anregend sein wollte oder könnte.
Die Amsel sitzt direkt über mir im Baum. Der weiße Flieder blüht noch, die Pfingstrosen, die gelben Gemswurzen, die Akelei. Das muss stattdessen reichen. Und die weißen Wolken und der Wind. Ich muss ja nur die Zeit überbrücken, bis du kommst.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Mistralgitter,

ein feiner Text. Und ein guter Kniff, diese kleinen Beobachtungen und Überlegungen als Zwischenspiel, als Überbrückung zu präsentieren - und das Ziel, das Ufer, zu dem diese Brücke führt, taucht gar nicht auf; nicht in diesem Text.
Man könnte sogar auf die Idee verfallen, das "Du", welches bald kommen soll, aber noch auf sich warten lässt, für ein rein metaphorisches zu halten; wären da nicht der recht konkret klingende Plan, gemeinsam Mittagessen zu kochen und auch die Sorge um das "Du", wenn die Erzählerin oder der Erzähler einmal nicht mehr da sein wird.

Übrigens, ich weiß zwar nicht, was die offizielle neue Rechtschreibung in diesem Falle vorschreibt, aber ich würde das "Du" in diesem Text einfach groß schreiben.

MfG, Binsenbrecher
 
G

Gelöschtes Mitglied 22242

Gast
Die Stimmung des Textes wirkt nach.
Toll geschrieben.
 
G

Gelöschtes Mitglied 22242

Gast
Spannend finde ich auch die Fragen die (zumindest bei mir) zurückbleiben.

Warum ist die Protagonistin so überzeugt davon ist, dass sie zuerst gehen muss und den oder die andere zurücklässt.
Handelt es sich vielleicht um ein Kind (, wenn auch erwachsen)?
Das gemeinsame Lieben der Einfachheit würde ich aber eher einem gleichalterigen Paar zuordnen.

Wirklich einer der besten Texte die ich seit langem gelesen habe.
 

Mistralgitter

Mitglied
@Binsenbrecher
Du wirst lachen, aber ich habe mir gar nicht so viel dabei gedacht und bin sehr froh, dass der Text trotzdem "funktioniert". Er ist sozusagen "live" geschrieben, während ich wartete - auf meine erwachsene Tochter. (Deshalb lass ich das "du" auch kleingeschrieben, obwohl sie schon groß ist.) Vor dem Laptop sitzen und alles aufschreiben, was mir in den Sinn kommt. Einfach so. Schön, wenn du das lesen mochtest. Danke für deine Worte und die Beurteilung.
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Mistralgitter,

ich mag die leise Melancholie, die in deinem Text schwingt.

Liebe Grüße
Manfred
 

Mistralgitter

Mitglied
@Tommy Sechsundachzig
Danke für deine lobenden Worte und die Sternchen. Mit so einer positiven Reaktion hatte ich gar nicht gerechnet. Wie ich oben schon ausführte, ist der Text ein Verlegenheitstext gewesen, z.T. auch weil ich mich schon länger mit dem Unvermögen herumgeschlagen hab, mal wieder was "zu Papier" zu bringen. Meine großen Verhaben liegen noch auf Eis.
Wenn du mein Alter in Betracht ziehst, dann ist es nur verständlich, dass der Gedanke an das Ende des Lebens doch eine zunehmend gewichtigere Rolle spielt.
 

GerRey

Mitglied
Mistralgitter,

frische Luft, die verbraucht ist, riecht abgestanden.

Aber - bitte - was ist daran billig? Über das würde ich mir mehr Gedanken machen. Billig - den Ausdruck gebrauchen Reiche gegenüber jenen, die weniger reich sind, und sich Mittel erwirken, um reich zu tun - oder? In diesem Fall müsste also in der Nachbarschaft beispielsweise ein Raumspray zur Luftverbesserung eingesetzt worden sein. Den Sprühkopf eines Raumsprays zu benutzen ist dann billiger, als eine Stunde zu lüften. Auch das Nichtlüften wäre billiger, könnte aber dann nur schwer zum Einsatz kommen, weil man das von außen ja nicht riechen kann.

Oder sind es die Nachbarn, die hier abfällig betrachtet werden sollen?

Freundlichst
GerRey
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo GerRey,
wenn ich einen besseren Ausdruck für diese Art von üblem Geruch wüsste, würde ich ihn benutzen. Nachgedacht hab ich allerdings schon mehrfach darüber. Ich steh da auf dem Schlauch. Ich glaube allerdings, dass ein teures Raumspray oder Parfüm oder Waschmittel oder Putzmittel anders riecht. Der Geruch kam aus der Nachbarschaft, zog durch den Garten zu mir in die Wohnung herein. Ich wüsste auch nicht, wem oder was ich diesen Geruch zuordnen könnte. Leider. Von daher wird niemand und nichts abfällig betrachtet. Es ist einfach eine Feststellung.
Ich schätze übrigens, dass die Leute in meiner Umgebung wohlhabender sind als ich. Nur als Info.
Mistralgitter

P.S. Wenn man eine Wohnung lange nicht gelüftet hat und dann irgendwann die Balkontür z.B. öffnet, dann verteilt sich doch der Geruch in der Umgebung.
 

GerRey

Mitglied
Hallo Mistralgitter!

Natürlich verstehe ich, was Du meinst. Trotzdem erscheint mir das Wort "billig" wenig zutreffend zu sein, sofern es nicht aus einer dekadenten Haltung heraus geführt wird. Und Du selbst assoziierst üblen Geruch mit billig, wenn Du das Wort so gebrauchst. Aber ist etwas übel, wenn es billig ist?

Wonach roch es eher, würdest Du sagen - nach faulen Eiern, ungewaschenen Socken, vergammeltem Obst, schimmeligen Käse?

Es gibt Pflanzengifte, die tagelang starken Geruch verbreiten. Alte Keller und Gemäuer haben oft dumpfe, modrige Gerüche - da kann man auch Mäuse riechen. In meiner Jugend, als der Umweltschutz weniger am Plan stand als heute, gab es in der Nachbarschaft ein Wochenendhaus, das nicht an den Kanal angeschlossen war. Im Frühjahr wurden aus der Kloake des Vorjahrs die Gartenpflanzen besprüht und begossen - wie das roch, kannst Du Dir vorstellen ...

Und wenn sich dieser Geruch, den Du meinst, nicht ausdrücken lässt, dann gibt es auch keine bessere Sprache als Deutsch, in den man ihn ausdrücken könnte. Also ...

Ebenso zur Info: Jegliche Informationen zu Deinem Besitzstand sind diesbezüglich unnötig. Man muss nicht wohlhabend sein, um eine bestimmte Haltung einzunehmen.

Freundlichst
GerRey
 

Mistralgitter

Mitglied
Ich hab den Text noch mal begutachtet und komme zu dem Schluss: Ich kann auf das "billig" ohne weiteres verzichten, dann wäre das Problem aus der Welt.
 



 
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