Es wären ja eben nicht die Fehler der Vergangenheit, sondern neue. Sie würden darin bestehen, auf eine vordergründige Situation à la 1939 so zu reagieren, als lebten wir noch in der Zeit um 1940. Dabei ist unsere Zeit grundverschieden von der damaligen: 1. Massenvernichtungsmittel mit Weltuntergangspotential, 2. weltweite engste ökonomische Verflechtung mit enormer Störanfälligkeit.
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin hat gestern in einem Focus-Interview eine Beobachtung mitgeteilt, die ich auch schon gemacht habe: Bellizisten sind vor allem Vertreter mittlerer bis jüngerer Jahrgänge, die ihre Sozialisation in den 1990er Jahren hatten. Sie haben die atomare Dauerbedrohung vor 1989 nicht mehr persönlich miterlebt und sind in jener kurzen Zeit geprägt worden, als der Westen absolut dominant schien. Aber auch das ist im 21. Jahrhundert schon unwiderruflich Vergangenheit. Wir leben in einer neuen Phase weltweit konkurrierender und gnadenlos um Einflusszonen kämpfender Großmächte. Wir Europäer sind nur Schachfiguren, auch die Ukraine. Die allein maßgeblichen Spieler sind Russland, die USA und China. Und ein Großteil der Staaten weiter südlich verhält sich neutral.
Um den Bogen zur Textkritik doch noch zu bekommen: Das Gedicht ist mir zwar in der Tendenz sympathisch und ich kann auch formal nichts kritisieren, aber es wird, scheint mir, der komplexen Problematik, die es anspricht, nicht wirklich gerecht.