Ein efeuberankter Vormittag

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Ein efeuberankter Vormittag, tiefes Grün, ein Innenleben entlang geheimnisschwangerer Adern im Blatte. Tiefe jenseits der Ahnung. Unwirklich intensive Farblichkeit. Ein Glücksgefühl einer eigenen, großen, wortlosen Welt. Sonnenstrahlen bahnen einen noch unbefahrenen Weg.

Ist das Wirklichkeit? Wahre Wirklichkeit?

Die Wirklichkeit des hektischen Alltags lässt sie nicht los. Nicht mehr. Früher verlor sie sich allzu gern in Träume, ließ sich treiben. Inzwischen hat sie es geschafft, die Dinge in die Hand zu nehmen. Ein Fluss der Tag immer noch, aber einer, der von ihr dank der Einhaltung von Zeitmodulen und der Beschränkung aufs Wesentliche wie durch Dämme gebannt wird.

Der Blick aus dem Fenster.
Draußen die Wirklichkeit des hektischen Alltags. Das Fügen unter das Diktat der Zeitmodule tut Not.

Das Manuskript über die blutrünstige osteuropäische „Duchess“ hat sie durchforstet. Der erste Eindruck ist festgehalten, eine kurze Skizze des Aufbaus erstellt. Jetzt der nächste Schritt: „Competition Research“, wie man in England sagt, das Abschätzen der Marktsituation: Welche Bücher gibt es bereits, die ein ähnliches Thema behandeln? Inwiefern unterscheiden sich diese Bücher von dem der Lektorin vorliegenden Manuskript? Und schließlich der schwerwiegendste Schluss: Wird das Buch „gehen“, das heißt, werden sich genügend Abnehmer dafür finden, so dass es unter finanziellen Gesichtspunkten rentabel ist und dem Verlag nicht etwa hohe Verluste einbringt?
Um die Wettbewerbssituation wird sich der Praktikant kümmern. Das wird ein schöner Auftrag für ihn, es wird ihm die Gelegenheit zu einem Streifzug durch die renommierten Buchhandlungen Londons geben. Außerdem ist diese Aufgabe eine gute Übung.
„David, kann ich Sie bitte mal kurz sprechen? Ja? Danke. Ich habe eine kleine Aufgabe für Sie. Sehen Sie, dieses Manuskript über eine grausame osteuropäische Herzogin, die unter anderem sogar Kannibalismus betrieben haben soll ... kurzum, es scheint mir sehr interessant zu sein. Bevor ich jedoch eine Entscheidung treffen kann, muss die Wettbewerbssituation untersucht werden. Es wäre daher nett, wenn Sie den ersten Schritt dahingehend unternehmen könnten. Sehen Sie sich das Manuskript noch einmal durch, meine Notizen hier sollten Ihnen dabei helfen. Wenn Sie sich ein Bild gemacht haben, suchen Sie alle wichtigen Buchhandlungen Londons auf und finden heraus, welche Bücher zu ähnlichen Themen es bereits gibt. Dabei kommt es natürlich darauf an, dass Sie sich möglichst schnell ein umfassendes Bild von Inhalt, Aufbau und Stil eines Buches machen. Sie können das Buch ja nicht von vorne bis hinten durchlesen, nicht wahr? Entwickeln Sie also Ihre eigene Methode, sich möglichst schnell ein möglichst präzises Bild zu machen. Wenn Sie später wirklich einmal als Lektor arbeiten möchten, werden Sie diese Fähigkeiten brauchen können! Besonders wichtig ist natürlich, dass Sie die Unterschiede anderer Werke zu unserem Manuskript hier herausarbeiten. Schließlich muss ich im Endeffekt entscheiden, ob dieses Werk hier überhaupt Abnehmer finden wird! Nun gehen Sie aber, so lange das Wetter noch so schön ist. Genießen Sie den Spaziergang durch London!“
Nachdenklich kopfschüttelnd greift sie nach der liegen gebliebenen Spare Copy des besagten Manuskripts und lässt es durch ihre Hände gleiten. Dabei geht ihr von unlängst eine Situation mit einer guten Bekannten aus Studienzeiten durch den Kopf, mit der sie damals während eines Praktikums in einem Wohnheim auf der Londoner East Side untergebracht war. Vor wenigen Wochen war die Frau beim Verlag vorbeigekommen, auf einen Kaffee und um über alte Zeiten zu plaudern, und wie das zwischen ihnen beiden üblich geworden war, begaben sie sich nach einer Weile mit dem Aufzug hinunter in die Tiefen des Verlagsgebäudes, wo das Lager mit Exemplaren der Neuerscheinungen für Freunde des geschriebenen Wortes immer eine willkommene Attraktion bietet. Berauscht und inspiriert von der Vielfalt an Möglichkeiten blickte die Bekannte um sich und steuerte gleich zielstrebig auf einen Vorabdruck des Buches über die osteuropäische Duchess zu, um ihn hastig durchzublättern und dann begierig zu fragen, ob sie dieses Exemplar wohl mitnehmen dürfe, solche Geschichten interessierten sie.
Marlen nickt gedankenverloren und ist bereits damit beschäftigt sich zu fragen, was die Menschen denn eigentlich an Geschichten über Grausamkeiten so faszinierend finden.
Sind Grausamkeiten denn so etwas Besonderes? Wohl eher nicht. Es genügt, regelmäßig abends die Nachrichten einzuschalten, um das auszuschließen. Ihr dämmert in diesem Augenblick eine so banale wie weitreichende Erkenntnis: Das Besondere ist gar nicht das Böse, das Besondere ist das Gute. Wie kann es dann sein, dass so wenig in Büchern über das Gute erzählt wird? Sind wir Menschen nicht eigentlich so gestrickt, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf das Außergewöhnliche richten? Und müssten Geschichten über das Gute dann nicht eigentlich Sensationscharakter und somit Hochkonjunktur haben?
Ihr Blick schweift abermals zum Fenster hinaus. Der Wind hat eingesetzt und spielt mit den leuchtenden Blättern im Sonnenlicht. Ein bewegtes Bild, das nun weniger als zuvor zur meditativen Vertiefung einlädt. Marlen wendet sich abermals einen Moment lang dem Manuskript zu, legt es aber gleich zur Seite. Das Buch wird viele Abnehmer finden. Tabubruch verkauft sich. Punkt.
Die Kollegin am Nebentisch ist mit der Arbeit an einem Buch über erste Hilfe beschäftigt. Das Buch steht kurz vor dem Druck.
Die Kollegin greift zum Telefonhörer, wählt eine Nummer. „Guten Tag, Tamara Palin von Soho Publishing in London. Ich hätte ein Anliegen.“ Im Großraumbüro bekommt man den Wortlaut eines jeden Telefonats hautnah mit.
„Tamara Palin! Soho Publishing!“
Die Stimme der Kollegin ertönt viel zu laut für den kleinen Büroraum. Es scheint, als hätte sie jemand Schwerhörigen am anderen Ende der Leitung.
„Wir sind ein Verlag. Wir bringen gerade ein Buch über Erste Hilfe heraus und ich wollte höflichst nachfragen, ob wir Ihre Organisation bei den Referenzen erwähnen dürften. – Wie bitte?“
Tamara lässt einen hilflosen Blick zu ihr herüberschweifen.
„Aufgelegt“.
Marlen lächelt mit einer Mischung aus Amüsement und Mitgefühl. Sie hat beruflich selbst zur Genüge Erfahrungen mit unfreundlichen Gesprächspartnern am Telefon gemacht. Es ist in dem Job quasi an der Tagesordnung.
„Was war denn los“?
„Ach, du hast es ja gehört. Das war die Organisation „The Aged“. Wir wollten Sie als Referenz angeben. Aber die Frau, die ich an der Strippe hatte, hat gleich ganz misstrauisch reagiert, sofort Nein gesagt und dann einfach aufgelegt.“
Marlen steht auf. „Lass uns eine Pause machen. Komm mit in die Teeküche, ich koche uns einen Kaffee oder einen Tee. Was möchtest du lieber?“
Dankbar folgt Tamara der Einladung und sie verlassen gemeinsam den Raum. Mit einem Blick auf ihre schöne alte Armbanduhr meint Marlen: „Fünfzehn Uhr. Das ist noch nicht zu spät für einen Kaffee, oder?“ – „Stimmt. Ein Kaffee wird uns guttun. Es wird noch ein langer Nachmittag.“
Unten angekommen ist die Teeküche gut besucht, und es hat sich bereits ein beträchtlicher Geräuschpegel aufgebaut. Ganz im Vordergrund ist der große, schlaksige Praktikant aus der Abteilung Dictionary leider nicht aus der akustischen Wahrnehmung auszublenden: „Du kochst Tee für andere, oder?“ Die Arroganz in seiner Stimme schneidet sich durch den Raum. Das angesprochene junge Mädchen blickt ihn fragend und etwas verständnislos an. „Siehst du, das ist der Unterschied zwischen uns beiden“, führt er mit aalglatter Attitüde seine Tirade fort. „Ich koche Tee nur für mich selbst. Tee für andere zu kochen ist in meinem Falle Zeitverschwendung. Ich bin hier, weil ich für meine fachlichen Fähigkeiten geschätzt werde, nicht, um Botendienste zu erledigen. Ich möchte im Leben vorankommen und Dinge tun, die von Bedeutung sind.
Marlen zwinkert Tamara zu, die bereits gequält die Augen rollt – „Hier sollen wir uns erholen?“, scheint ihr Blick sagen zu wollen. Marlens Blick hat dagegen beinahe etwas Spitzbübisches: „Warte noch ein bisschen. Gib ihm Gelegenheit, sich erst richtig zum Affen zu machen.“
Das sympathisch wirkende Mädchen mit den weich fallenden braunen, leicht gelockten Haaren versucht sich die Demütigung nicht zu sehr anmerken zu lassen, doch ihre veränderte Körperhaltung lässt sie gleich ein bisschen kleiner wirken. Sie scheint fast ein bisschen erleichtert, als er einfach weiterredet. So muss sie sich immerhin keine passende Antwort überlegen, da sie sowieso keine Gelegenheit dazu erhält.
„Weißt du, was ich mich immer wieder frage?“ Er hat einen lauernden Blick auf sie gerichtet und macht gekonnt eine rhetorische Pause, gerade lange genug um sie noch mehr zu verunsichern. „Wann bekommt ihr deutschen Frauen eigentlich eure Kinder? Beziehungsweise: Wann tretet ihr in die Arbeitswelt ein?“ „Was meinst du denn damit?“ Irgendetwas muss sie ja jetzt sagen.
„Nun, sieh mal: Ihr studiert, bis ihr dreißig seid. Dann bekommt ihr Kinder und bleibt erst mal zu Hause. Grob überschlagen kann die Arbeitswelt frühestens mit fünfunddreißig mit euch rechnen. Ist es da ein Wunder, dass euch keiner mehr will?“ Das Mädchen holt hörbar Luft, vermutlich, um sich nun doch zu verteidigen, zu erklären, dass seit Einführung der Masterstudiengänge auch in Deutschland in der Regel nicht mehr sooo lange studiert wird, und vielleicht auch, dass nicht alle Menschen Kinder bekommen, und dass Kinderbekommen sowieso in der heutigen Zeit eine Sache beider Geschlechter ist – zumindest in Deutschland, so könnte sie vorgehabt haben, eine kleine Retourkutsche zu platzieren, doch zu all dem kommt es nicht, denn wieder schneidet er ihr das nur gedachte, noch nicht einmal ausgesprochene Wort ab: „Hier in England funktioniert das alles anders, man ist früher fertig mit Studium und Ausbildung, und auch die Frauen haben genügend Zeit zu …“ Das ist der Moment, in dem Marlen ihre Position in der Schlange vor der Kaffeemaschine aufgibt und zielstrebig auf den aufgeblasenen Hauptakteur der kleinen Szene zusteuert. Am Ziel angekommen, baut sie sich eindrucksvoll vor ihm auf (natürlich nur symbolisch, denn sie ist zwei Köpfe kleiner als er).
„Sie sind Praktikant hier, richtig?“ - „Ja, ich …“, will er ausholen, doch sie ist schneller: „Welche Abteilung?“ Ihr Unterton hat dabei durchaus etwas Inquisitorisches. „Dictionary“, ertönt es wichtig. „Ich …“ – „Ah, Dictionary. Bei Rachel Smith also. Ich vermute, sie wird sie vermissen. Ich werde ihr sagen, dass sie in fünf Minuten bei ihr oben sind um ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Vorher machen sie bitte noch einen Kaffee für meine Kollegin und mich – und natürlich auch einen für Rachel. Unsere beiden Kaffees bringen Sie dann auf dem Weg noch in der Non-Fiction-Abteilung vorbei. Ich verlasse mich auf Sie.“ Ohne ihm die Gelegenheit zu einer Antwort zu bieten, lässt sie ihn daraufhin einfach stehen und schiebt die verblüffte Tamara mit sich zur Tür hinaus.

Einen Augenblick später sitzen beide einander an ihren jeweiligen Bürotischen gegenüber, Tamara mit einem anerkennenden Blick auf Marlen gerichtet. „Du warst sehr beeindruckend“, lässt sie Marlen wissen. „Ich wäre nicht so schlagfertig gewesen.“ Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „In Momenten, in denen andere so offenkundig dreist agieren, fehlen mir meist die Worte.“
Marlen winkt ab. „Man darf die Leute nicht mit solchen Bosheiten durchkommen lassen: andere klein zu machen, um sich selbst groß zu fühlen. So jemanden muss man unumwunden darauf stoßen, was er wirklich ist, wenn er sich so verhält: ein kleiner, armseliger Hochstapler.“ In diesem Moment kommt der Praktikant herein und stellt wortlos linkisch die Kaffeetassen auf den Schreibtischen der beiden Damen ab, sichtlich bemüht, seine arrogante Aura aufrecht zu erhalten und seinem Gesichtsausdruck so etwas wie Würde und Undurchdringlichkeit zu verleihen - allein, es will nicht gelingen, und zu jedem Zeitpunkt scheint ein begossener Pudel durch die Fassade.
"Das haben Sie wundervoll gemacht!", lässt Marlen mit übertrieben strahlendem Lächeln durch den Raum ertönen. "Wir hoffen, Sie hier möglichst bald mit einem Tablett wiederzusehen!" Erst nachdem der so Gedemütigte hastig die Tür hinter sich geschlossen hat, brechen Marlen und Tamara in schallendes Gelächter aus. Tamara blickt ihre Kollegin kopfschüttelnd an, Bewunderung andeutend. "Wie du das gemacht hast. Der wird hoffentlich daraus lernen." Doch nach einer kurzen Denkpause fügt sie hinzu: "Aber meinst du nicht, dass wir es vielleicht ein wenig übertrieben haben?"
Marlen blickt auf ihre Hände hinunter und wird des Manuskriptes über die osteuropäische Herzogin gewahr, welches sie während des Sprechens unbewusst aufgenommen hat und noch immer dabei ist, durch ihre Hände gleiten zu lassen. Sie legt es beiseite. Ihr Blick wandert nach draußen auf den Efeu, der die Betonwand entlangrankt. Die glatte Oberfläche der Blätter reflektiert das inzwischen grelle Sonnenlicht wie ein Spiegel. Die Blattadern sind nicht mehr sichtbar. Marlen zuckt die Achseln und wendet sich entschlossen ihrem Computer zu. „Lass uns weiterarbeiten. Wir können sonst unsere Deadlines nicht einhalten.“
 
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wirena

Mitglied
..schön, doch für mich war es eine lange Geschichte - ich habe sie aber gestern gerne gelesen - schön der offene Schluss -

wünsche dir ein Gutes Neues Jahr bei bester Gesundheit -

lg wirena
 



 
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