Hallo alle,
mit dieser Geschichte haben Sammis und ich ein kleines Experiment gewagt: Wir haben einen Plot erdacht, der die Grundrichtung einer Story enthält. Jeder von uns hat die Geschichte dann unabhängig voneinander ausgearbeitet. Dabei war ausdrücklich erlaubt, den Plot/die Story nach Gusto zu verändern; er konnte verlängert, gekürzt, gemildert, verschärft, inhaltlich geändert und schwerpunktgmäßig verlagert werden. Was wir damit zeigen wollen, ist dies: Jeder Autor nimmt eine Vorgabe unterschiedlich wahr, geht unterschiedlich mit Fakten, mit Einstieg, Handlung, Spannungsbogen und Schluss um, und er entwickelt seine eigene Pointe.
Am Ende kommen zwei völlig unterschiedliche Geschichten heraus. Welche schöner lesbar, verständlicher, spannender, überraschender und unterhaltsamer ist, das soll jeder Leser für sich entscheiden. Aber bitte behaltet eure Beurteilung nicht für euch! Tauscht euch aus in den Kommentaren, Sammis und ich freuen sich über jede Stimme.
Sammis Geschichte findet ihr bei der Kurzprosa. Sie trägt den Titel „Nachtschattengewächs“.
Der Plot:
Werner ist überaus glücklich in seiner Ehe mit Sylvia. Bei allen ihren Fähigkeiten, das Haus in Schuss zu halten und die Arbeiten im Haushalt zu verrichten, ist sie auch noch unglaublich hübsch und treu – ein Bollwerk gegen jeden, der versucht, ihr nachzustellen. Doch eines Tages beobachtet er rein zufällig, wie sie ihm eine Tablette in den Kaffee tut.
Für ihn bricht eine Welt zusammen. Er, der sich in einem glücklichen wie sicheren Hafen wähnte, kommt zu dem Schluss, eine heimlich verabreichte Tablette könne nur die Vorbereitung zu einem Giftmord bedeuten. Sofort denkt er über Gegenmaßnahmen nach und beschließt, dass sie sterben müsse, bevor er es tat.
Kurz darauf kommt es zu einer Aussprache. Dabei offenbart sie ihm, dass das Leben an seiner Seite ein Maß an Toleranz erfordert, dass sie schlichtweg überfordert. Die Pfeifenraucherei sei in dieser kleinen Wohnung nicht mehr erträglich, alles stinke, Haar, Haut, Wäsche; er würde nachts röcheln und rasseln. Sie könne und wolle das nicht mehr ertragen. Außerdem sei er Stehpinkler, und sie habe keine Lust mehr, den verspritzten Urin von den Fliesen zu waschen. Zudem sei er gerade dabei, sich totzufressen. Es kommt zum Ehekrieg.
Werner sieht kaum noch eine Chance für seine Ehe. Da er jeden Augenblick damit rechnen muss, vergiftet zu werden, bleibt der gelernte Biologe bei den angedachten Gegenmaßnahmen. Er weiß genau, wo er die Beeren von Atropia Belladonna finden kann, sammelt sie und fügt sie, fein kleingehackt, ihrer Johannisbeermarmelade bei.
Es passiert, was passieren muss. Sylvia kommt ins Krankenhaus und überlebt mit Ach und Krach. Die Polizei ermittelt, und als sie die Medikamente in Sylvias Tablettenschachtel durchsieht, entdeckt sie ein Präparat gegen das Rauchen – jenes Medikament, dass sie ihm nachmittags heimlich in den Kaffee tat.
Die Ausarbeitung:
Ein Extra zum Kaffee
Kaffeezeit! Werner von Bergfried stand links hinter der Tür zur Küche und beobachtete, wie seine Frau Sylvia den Kaffee zubereitete. Seine Sylvia! Was für eine großartige Ehefrau war sie ihm über mehr als 20 Jahre gewesen. Seine euphorischen Gedanken gipfelten in dem Schluss, dass er es mit ihr nicht besser hätte treffen können. Und was ihn besonders stolz machte: Sie war nicht nur überaus attraktiv, sondern ging trotz ihrer 48 Jahre durchaus als Enddreißigerin durch. Welch wunderbares Erlebnis, sie jeden Tag in der Wohnung wie auch in der Öffentlichkeit um sich zu haben. Viel mehr als ihr bezauberndes Aussehen und ihre jugendliche Art schätzte Werner jedoch ihre kompromisslose Loyalität und ihre Treue, die jedem Angriff von außen widerstand. Mehr noch: Sie war wie durch ein Bollwerk gegen Nachsteller, Gaffer, Neider und Intriganten geschützt. In diesem Augenblick aber, da er an der Küchentür stand, legten sich schwere Zweifel wie eine tiefschwarze Gewitterwolke auf seine Seele. Was zum Teufel tat sie denn da?!
Werner rieb sich die Augen. War es wirklich wahr, was sich ihm beim Blick durch den Türschlitz offenbarte? Sylvia schenkte die beiden großen Tassen voll Kaffee, fügte einen Schuss Milch hinzu, und dann griff sie in die rechte Tasche ihrer Schürze, holte ein kleines weißes Etwas hervor und ließ es in die Tasse fallen, die mit einem großen bunten W vor dem Hintergrund einer Hundertwasser-Malerei verziert war. Es gab nicht den geringsten Zweifel: Sylvia tat ihm ohne sein Wissen eine Pille in den Kaffee.
Werner kombinierte ganz schnell und ziemlich logisch: Frauen – heimlich verabreichte Tabletten – Giftmord. Die Geschichte lieferte als Beweis für eine derartige kausale Kette hunderttausend Beispiele, die in der Regel für das Opfer tödlich endeten. Die Methode war schon immer und ist auch heute so einfach wie erfolgreich, dass sie von den Bösewichten dieser Welt ein ums andere Mal mit größtem Erfolg praktiziert wird, vorzugsweise von Frauen, was durch die Kriminalstatistiken bewiesen ist.
Angstschweiß trat auf seine Stirn. Natürlich hätte er sie sofort zur Rede stellen und versuchen können, das Beobachtete auszudiskutieren. Dann würde sie – und das wäre so unausweichlich wie unangenehm – den Vorfall bestreiten, falsche Tatsachen vorschieben, lügen, tricksen, sich herausreden, laut werden und mauern, den Kaffee verschütten, um das corpus delicti zu vernichten, und noch so Einiges mehr. Werner kannte seine Sylvia nur zu gut. Wurde sie in die Enge getrieben und zu einer Aussage oder gar einem Eingeständnis gezwungen, wuchsen ihr blitzartig Haare auf den Zähnen. Da tat er besser daran, äußerst diplomatisch und mit einer guten Portion kriminalistischen Spürsinns vorzugehen. Nein, eine unehrliche Rechtfertigung im Streit war nicht das, was Werner in diesem Augenblick wollte. Viel wichtiger war ihm zunächst herauszufinden, was ihre Motive waren und was hinter diesem Anschlag auf sein Leben steckte. Denn um sein Leben ging es, das war ihm von Anfang an klar. Steckte vielleicht sogar ein anderer Mann dahinter?
Sein drängendstes Problem war zunächst, wie er sich unauffällig davor drücken könnte, im nächsten Moment, wenn sie sich gemeinsam an den Kaffeetisch setzten, seine Tasse an den Mund zu führen und, wie immer, genüsslich schlürfend den ersten Schluck zu nehmen. Er entschied sich, in einem Augenblick von Sylvias Unachtsamkeit den Kaffee dem nächstbesten Blumentopf anzuvertrauen. Ergab sich diese Gelegenheit nicht, könnte er immer noch diesen Druck auf den Magen vortäuschen, über den er sich in den letzten Wochen so häufig beklagt hatte und der ihm plötzlich – mal wieder – jegliche Lust auf Kaffee und Kuchen nahm.
Er stopfte sich gemächlich eine Pfeife mit seinem Shag, der mit dem pechschwarzen, öligen Latakia angereichert war, und sehnte die Gelegenheit herbei, den Kaffee wegzuschütten, aber sie ergab sich nicht. Und so hielt er sich den Bauch, beugte sich nach vorn und täuschte schmerzende Krämpfe vor. Schwer atmend erinnerte er seine Sylvia an die stechenden Beschwerden, die er schon in den letzten Wochen hatte: „Oh verdammt!“, jammerte er. „Geht das wieder mit dem Magen los?! Ich kann förmlich spüren, wie es mir die Säfte die Speiseröhre hochdrückt.“
„Warum hast du mir das nicht vorher gesagt“, fragte sie in einem ruhigen Ton. „Dann hätte ich die Hälfte Kaffee gemacht.“
„Ich weiß nicht. Es ist plötzlich so über mich gekommen“, festigte er seinen Vorwand.
Sylvia schaute ihn vorwurfsvoll und dennoch mit den Blicken einer liebenden Ehefrau an, und Werner gab sich damit mehr als zufrieden. Sich ihres Verständnisses sicher, zog er sich in einen Sessel zurück, schlug die neueste Ausgabe eines Umweltmagazins auf, in dem er gelegentlich selbst veröffentlichte, und tat so, als würde er sich in seine Lektüre vertiefen. Sylvia hatte noch in der Küche zu tun, und als sie sich gegen sieben Uhr zu ihm gesellte und den Fernseher einschaltete, sah Werner nur kurz auf, nickte ihr gespielt freundlich zu und fuhr fort zu lesen.
In Wirklichkeit las er keine einzige Zeile, sondern versuchte sich zu erinnern, ob es ihrerseits in letzter Zeit irgendein Verhalten gab, das auf eine Tötungsabsicht hindeutete. Aber er fand nichts, so sehr er sich auch anstrengte. Da gab es keinerlei Anzeichen, weder was das häusliche Miteinander betraf noch die direkte persönliche Beziehung zu ihr. Werner zermarterte sich den Kopf, und vor lauter Frust, nicht einen einzigen Anhaltspunkt gefunden zu haben, folgte er ihr mit größten Zweifeln beladen gegen halbelf ins Bett.
Sylvia war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen, so wie immer. Er indessen wurde von Minute zu Minute unruhiger, kramte in allen denkbaren Bereichen ihres gemeinsamen Lebens, begann schon, Gründe für ihr Vorhaben zu konstruieren, verwarf diese sofort wieder und verließ schließlich frustriert das Schlafzimmer. Er setzte sich in seinen Sessel, zündete sich eine weitere Pfeife an und fuhr mit seinen Überlegungen fort. Nach einer halben Stunde stand Sylvia verschlafen in der Tür.
„Was ist denn, Liebling?“, säuselte er.
„Musst du denn die Schlafzimmertür offen lassen, wenn du dieses stinkende Kraut rauchst? Das nimmt einem ja die Luft zum Atmen.“
„Entschuldige, aber das ist auch meine Wohnung“, vergriff er sich im Ton, ohne es zu wollen.
„Typisch! Na ja, ich habe auch nichts anderes erwartet.“
„Was heißt denn das schon wieder? Passt dir irgendetwas nicht?“
„Wenn du mich schon so direkt fragst, ja, mir passt seit geraumer Zeit so einiges nicht, und ich lasse mir künftig auch nichts mehr gefallen.“
„Und was bitte passt dir an mir nicht? Sag es mir, dann weiß ich wenigstens Bescheid.“
„Bitte, wenn du es hören willst! Mir passt zum Beispiel deine Qualmerei nicht. Die ganze Wohnung stinkt nach diesem parfümierten Kraut, und ich obendrein: Die Haut, die Haare, sämtliche Klamotten am Leib und in den Schränken – alles ist verpestet. Deine Lungen singen jede Nacht ein Lied davon: röcheln, rasseln, husten, alles abwechselnd und nonstop die Nacht hindurch. Und wenn die Lungen vor Erschöpfung nicht mehr mitmachen, fängst du an zu schnarchen.“
„Das tut mir leid, das wusste ich nicht.“
„Du weißt noch mehr nicht: Jeden Tag pinkelst du im Stehen, bis die Fliesen voller Spritzer sind. Ich frage dich: Muss so etwas sein? Wie kann man nur so unhygienisch sein! Bin ich deine Klofrau? Klar bin ich das, ich mache jeden Morgen die Fliesen wieder sauber. Was glotzt du jetzt so komisch?“
Werner saß inzwischen da wie ein begossener Pudel.
„Und überhaupt passt du so langsam nicht mehr in diese Wohnung. Du hast 30 Kilogramm Übergewicht, frisst wie ein Scheunendrescher, trinkst zu viel und hast jeden Tag ein anderes Zipperlein. Was glaubst du, wie lange dein Körper das noch mitmacht? Und auf wen wird es zurückfallen, wenn deine Knochen dein Gewicht nicht mehr aushalten? Dann kann ich auch noch deine Krankenpflegerin spielen. Aber genau das werde ich garantiert nicht tun. So, jetzt weißt du’s, und jetzt will ich ins Bett – und du schläfst hier im Wohnzimmer.“
Werner konnte eine ganze Stunde lang gar nichts denken, dann fand er heraus, dass jeder ihrer Vorwürfe wie ein Mosaikstein ins Ganze passte. „Sie hat genug von mir“, befand er. „Sie will mich loswerden, will den Rest ihres Lebens ohne mich verbringen, sich vielleicht einen neuen Partner suchen, mit ihm alle unsere Ersparnisse verprassen, während ich mir das Gras von unten angucken darf. Da hast du dich aber getäuscht, liebe Sylvia. So springst du mit mir nicht um! Ich akzeptiere deine Pille, aber du wirst zuerst gehen.“
Die Stimmung am nächsten Tag war frostig. Weder Sylvia noch Werner wollte die Diskussion der letzten Nacht fortführen. So nahmen sie ihr Frühstück wortlos ein, dann ging jeder seines Weges. Als Sylvia das Haus verlassen hatte, um für den Tag einzukaufen, schlich sich Werner an die Grenze seines Grundstückes und betrachtete einen Strauch, der schon seit Jahren seine Aufmerksamkeit fand. Er stand so dominant an dieser Stelle, als würde er nur darauf warten, für jemanden irgendwann von besonderem Nutzen zu sein. Werner, der Biologie studiert hatte, hatte das wilde Gewächs schon vor Jahren identifiziert. Der Strauch hieß atropia belladonna, im Volksmund Tollkirsche.
Er pflückte eine Handvoll der hochgiftigen Beeren, schälte sie, zerquetschte das Fruchtfleisch und mischte es heimlich unter die Johannisbeermarmelade, die sich Sylvia zum Kaffee aufs Brot strich.
Dann kam der Nachmittag, und Werner setzte sich in dem Bewusstsein, dem unmittelbar bevorstehenden Tod tugendhaft in die Augen sehen zu müssen, an den Kaffeetisch. Er fühlte sich wie ein griechischer Held der Antike, der der Gerechtigkeit willen und um persönlicher Schmach und Schande zu entgehen, sich und den seinen das Leben nahm. Er dachte sofort an Sokrates, dem man den Schierlingsbecher gereicht hatte, ein Beispiel für einen gewollten Tod, der mit einem natürlichen Gift herbeigeführt wurde.
Mit starrem Blick auf seine Sylvia hob er die Tasse, führte sie an den Mund und nahm zwei große Schlucke. Sylvia betrachtete ihn aus den Augenwinkeln, stand auf, holte sich zwei Scheiben Toastbrot und stellte die Marmelade auf den Tisch.
„Kein Kuchen heute?“, fragte er scheinbar interessiert.
„Siehst du welchen?“
Werner nickte zum Zeichen, dass er verstanden habe. Dann beobachtete er wie gelähmt, wie sie sich die beiden Scheiben Brot bestrich und herzhaft in das erste biss.
*
Nach 20 Minuten fuhr der Rettungswagen Sylvia in die Klinik.
„Tollkirsche! Sie hat Tollkirschenmarmelade gegessen“, erklärte Werner dem Sanitäter im letzten Moment, bevor der Wagen wegfuhr. Er selbst ging ins Haus zurück und wartete auf den Tod, der nicht kam. Dafür erschien am darauffolgenden Tag ein Kriminalbeamter, der sich für Sylvias Medikamente und ihre selbstgemachten Marmeladen interessierte. Nach einer Viertelstunde hielt er einen ganzen Schuhkarton voll mit Tabletten in der Hand, die er in einer Wäscheschublade gefunden hatte, und bat Werner, gleich mit aufs Revier zu kommen.
Nachdem er über eine Stunde im Vernehmungsraum gewartet hatte, erschienen der vernehmende Beamte mit einem Doktor aus der Pathologie, den Schuhkarton mit den Medikamenten unter dem Arm.
„Ihrer Frau geht es den Umständen entsprechend; sie leidet unter starken Halluzinationen, scheint aber außer Gefahr zu sein.“ Werner reagierte nicht. Warum sollte er? Hätte er nicht seit Stunden tot sein müssen, verdammt nochmal?
„Sind darunter auch Medikamente, die Ihnen gehören?“, fragte der Beamte und zeigte auf den Karton.
„Nicht dass ich wüsste. Ich brauche nur Blutdrucktabletten, und die liegen in der Küche.“
„Und was ist mit denen?“ Er schob vier Schachteln über den Tisch.
Werner überflog die Namen der Präparate und begann die handschriftlichen Notizen zu lesen: „Synt…pan. Gegen Alkoholabusus, 2 Tabletten, abends. Turb…ron. Gegen Fettleibigkeit. Je 1 Tabl. morgens, mittags und abends. Dorm…san. Gegen Schnarchen, 2 Tabl. vor dem Schlafengehen.
Bei der letzten Packung klingelte es bei Werner. Er nahm sie in die Hand, drehte sie, dass er alle Seiten lesen konnte, entfaltete hastig den Beipackzettel und schüttelte den Kopf. „Fumadoron!“ Er hielt inne. „Fumadoron, Ihr zuverlässiger Helfer gegen das Rauchen. 1Tabl. nachmittags.“ Ungläubig stellte er fest, dass der erste Streifen mit 10 Tabletten fast leer war.“
Werner hielt sich beide Hände vors Gesicht. „Kommissar“, sagte er mit bebenden Lippen. „Ich muss Ihnen da was erklären.“
Sammis Geschichte findet ihr bei der Kurzprosa. Sie trägt den Titel „Nachtschattengewächs“.
mit dieser Geschichte haben Sammis und ich ein kleines Experiment gewagt: Wir haben einen Plot erdacht, der die Grundrichtung einer Story enthält. Jeder von uns hat die Geschichte dann unabhängig voneinander ausgearbeitet. Dabei war ausdrücklich erlaubt, den Plot/die Story nach Gusto zu verändern; er konnte verlängert, gekürzt, gemildert, verschärft, inhaltlich geändert und schwerpunktgmäßig verlagert werden. Was wir damit zeigen wollen, ist dies: Jeder Autor nimmt eine Vorgabe unterschiedlich wahr, geht unterschiedlich mit Fakten, mit Einstieg, Handlung, Spannungsbogen und Schluss um, und er entwickelt seine eigene Pointe.
Am Ende kommen zwei völlig unterschiedliche Geschichten heraus. Welche schöner lesbar, verständlicher, spannender, überraschender und unterhaltsamer ist, das soll jeder Leser für sich entscheiden. Aber bitte behaltet eure Beurteilung nicht für euch! Tauscht euch aus in den Kommentaren, Sammis und ich freuen sich über jede Stimme.
Sammis Geschichte findet ihr bei der Kurzprosa. Sie trägt den Titel „Nachtschattengewächs“.
Der Plot:
Werner ist überaus glücklich in seiner Ehe mit Sylvia. Bei allen ihren Fähigkeiten, das Haus in Schuss zu halten und die Arbeiten im Haushalt zu verrichten, ist sie auch noch unglaublich hübsch und treu – ein Bollwerk gegen jeden, der versucht, ihr nachzustellen. Doch eines Tages beobachtet er rein zufällig, wie sie ihm eine Tablette in den Kaffee tut.
Für ihn bricht eine Welt zusammen. Er, der sich in einem glücklichen wie sicheren Hafen wähnte, kommt zu dem Schluss, eine heimlich verabreichte Tablette könne nur die Vorbereitung zu einem Giftmord bedeuten. Sofort denkt er über Gegenmaßnahmen nach und beschließt, dass sie sterben müsse, bevor er es tat.
Kurz darauf kommt es zu einer Aussprache. Dabei offenbart sie ihm, dass das Leben an seiner Seite ein Maß an Toleranz erfordert, dass sie schlichtweg überfordert. Die Pfeifenraucherei sei in dieser kleinen Wohnung nicht mehr erträglich, alles stinke, Haar, Haut, Wäsche; er würde nachts röcheln und rasseln. Sie könne und wolle das nicht mehr ertragen. Außerdem sei er Stehpinkler, und sie habe keine Lust mehr, den verspritzten Urin von den Fliesen zu waschen. Zudem sei er gerade dabei, sich totzufressen. Es kommt zum Ehekrieg.
Werner sieht kaum noch eine Chance für seine Ehe. Da er jeden Augenblick damit rechnen muss, vergiftet zu werden, bleibt der gelernte Biologe bei den angedachten Gegenmaßnahmen. Er weiß genau, wo er die Beeren von Atropia Belladonna finden kann, sammelt sie und fügt sie, fein kleingehackt, ihrer Johannisbeermarmelade bei.
Es passiert, was passieren muss. Sylvia kommt ins Krankenhaus und überlebt mit Ach und Krach. Die Polizei ermittelt, und als sie die Medikamente in Sylvias Tablettenschachtel durchsieht, entdeckt sie ein Präparat gegen das Rauchen – jenes Medikament, dass sie ihm nachmittags heimlich in den Kaffee tat.
Die Ausarbeitung:
Ein Extra zum Kaffee
Kaffeezeit! Werner von Bergfried stand links hinter der Tür zur Küche und beobachtete, wie seine Frau Sylvia den Kaffee zubereitete. Seine Sylvia! Was für eine großartige Ehefrau war sie ihm über mehr als 20 Jahre gewesen. Seine euphorischen Gedanken gipfelten in dem Schluss, dass er es mit ihr nicht besser hätte treffen können. Und was ihn besonders stolz machte: Sie war nicht nur überaus attraktiv, sondern ging trotz ihrer 48 Jahre durchaus als Enddreißigerin durch. Welch wunderbares Erlebnis, sie jeden Tag in der Wohnung wie auch in der Öffentlichkeit um sich zu haben. Viel mehr als ihr bezauberndes Aussehen und ihre jugendliche Art schätzte Werner jedoch ihre kompromisslose Loyalität und ihre Treue, die jedem Angriff von außen widerstand. Mehr noch: Sie war wie durch ein Bollwerk gegen Nachsteller, Gaffer, Neider und Intriganten geschützt. In diesem Augenblick aber, da er an der Küchentür stand, legten sich schwere Zweifel wie eine tiefschwarze Gewitterwolke auf seine Seele. Was zum Teufel tat sie denn da?!
Werner rieb sich die Augen. War es wirklich wahr, was sich ihm beim Blick durch den Türschlitz offenbarte? Sylvia schenkte die beiden großen Tassen voll Kaffee, fügte einen Schuss Milch hinzu, und dann griff sie in die rechte Tasche ihrer Schürze, holte ein kleines weißes Etwas hervor und ließ es in die Tasse fallen, die mit einem großen bunten W vor dem Hintergrund einer Hundertwasser-Malerei verziert war. Es gab nicht den geringsten Zweifel: Sylvia tat ihm ohne sein Wissen eine Pille in den Kaffee.
Werner kombinierte ganz schnell und ziemlich logisch: Frauen – heimlich verabreichte Tabletten – Giftmord. Die Geschichte lieferte als Beweis für eine derartige kausale Kette hunderttausend Beispiele, die in der Regel für das Opfer tödlich endeten. Die Methode war schon immer und ist auch heute so einfach wie erfolgreich, dass sie von den Bösewichten dieser Welt ein ums andere Mal mit größtem Erfolg praktiziert wird, vorzugsweise von Frauen, was durch die Kriminalstatistiken bewiesen ist.
Angstschweiß trat auf seine Stirn. Natürlich hätte er sie sofort zur Rede stellen und versuchen können, das Beobachtete auszudiskutieren. Dann würde sie – und das wäre so unausweichlich wie unangenehm – den Vorfall bestreiten, falsche Tatsachen vorschieben, lügen, tricksen, sich herausreden, laut werden und mauern, den Kaffee verschütten, um das corpus delicti zu vernichten, und noch so Einiges mehr. Werner kannte seine Sylvia nur zu gut. Wurde sie in die Enge getrieben und zu einer Aussage oder gar einem Eingeständnis gezwungen, wuchsen ihr blitzartig Haare auf den Zähnen. Da tat er besser daran, äußerst diplomatisch und mit einer guten Portion kriminalistischen Spürsinns vorzugehen. Nein, eine unehrliche Rechtfertigung im Streit war nicht das, was Werner in diesem Augenblick wollte. Viel wichtiger war ihm zunächst herauszufinden, was ihre Motive waren und was hinter diesem Anschlag auf sein Leben steckte. Denn um sein Leben ging es, das war ihm von Anfang an klar. Steckte vielleicht sogar ein anderer Mann dahinter?
Sein drängendstes Problem war zunächst, wie er sich unauffällig davor drücken könnte, im nächsten Moment, wenn sie sich gemeinsam an den Kaffeetisch setzten, seine Tasse an den Mund zu führen und, wie immer, genüsslich schlürfend den ersten Schluck zu nehmen. Er entschied sich, in einem Augenblick von Sylvias Unachtsamkeit den Kaffee dem nächstbesten Blumentopf anzuvertrauen. Ergab sich diese Gelegenheit nicht, könnte er immer noch diesen Druck auf den Magen vortäuschen, über den er sich in den letzten Wochen so häufig beklagt hatte und der ihm plötzlich – mal wieder – jegliche Lust auf Kaffee und Kuchen nahm.
Er stopfte sich gemächlich eine Pfeife mit seinem Shag, der mit dem pechschwarzen, öligen Latakia angereichert war, und sehnte die Gelegenheit herbei, den Kaffee wegzuschütten, aber sie ergab sich nicht. Und so hielt er sich den Bauch, beugte sich nach vorn und täuschte schmerzende Krämpfe vor. Schwer atmend erinnerte er seine Sylvia an die stechenden Beschwerden, die er schon in den letzten Wochen hatte: „Oh verdammt!“, jammerte er. „Geht das wieder mit dem Magen los?! Ich kann förmlich spüren, wie es mir die Säfte die Speiseröhre hochdrückt.“
„Warum hast du mir das nicht vorher gesagt“, fragte sie in einem ruhigen Ton. „Dann hätte ich die Hälfte Kaffee gemacht.“
„Ich weiß nicht. Es ist plötzlich so über mich gekommen“, festigte er seinen Vorwand.
Sylvia schaute ihn vorwurfsvoll und dennoch mit den Blicken einer liebenden Ehefrau an, und Werner gab sich damit mehr als zufrieden. Sich ihres Verständnisses sicher, zog er sich in einen Sessel zurück, schlug die neueste Ausgabe eines Umweltmagazins auf, in dem er gelegentlich selbst veröffentlichte, und tat so, als würde er sich in seine Lektüre vertiefen. Sylvia hatte noch in der Küche zu tun, und als sie sich gegen sieben Uhr zu ihm gesellte und den Fernseher einschaltete, sah Werner nur kurz auf, nickte ihr gespielt freundlich zu und fuhr fort zu lesen.
In Wirklichkeit las er keine einzige Zeile, sondern versuchte sich zu erinnern, ob es ihrerseits in letzter Zeit irgendein Verhalten gab, das auf eine Tötungsabsicht hindeutete. Aber er fand nichts, so sehr er sich auch anstrengte. Da gab es keinerlei Anzeichen, weder was das häusliche Miteinander betraf noch die direkte persönliche Beziehung zu ihr. Werner zermarterte sich den Kopf, und vor lauter Frust, nicht einen einzigen Anhaltspunkt gefunden zu haben, folgte er ihr mit größten Zweifeln beladen gegen halbelf ins Bett.
Sylvia war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen, so wie immer. Er indessen wurde von Minute zu Minute unruhiger, kramte in allen denkbaren Bereichen ihres gemeinsamen Lebens, begann schon, Gründe für ihr Vorhaben zu konstruieren, verwarf diese sofort wieder und verließ schließlich frustriert das Schlafzimmer. Er setzte sich in seinen Sessel, zündete sich eine weitere Pfeife an und fuhr mit seinen Überlegungen fort. Nach einer halben Stunde stand Sylvia verschlafen in der Tür.
„Was ist denn, Liebling?“, säuselte er.
„Musst du denn die Schlafzimmertür offen lassen, wenn du dieses stinkende Kraut rauchst? Das nimmt einem ja die Luft zum Atmen.“
„Entschuldige, aber das ist auch meine Wohnung“, vergriff er sich im Ton, ohne es zu wollen.
„Typisch! Na ja, ich habe auch nichts anderes erwartet.“
„Was heißt denn das schon wieder? Passt dir irgendetwas nicht?“
„Wenn du mich schon so direkt fragst, ja, mir passt seit geraumer Zeit so einiges nicht, und ich lasse mir künftig auch nichts mehr gefallen.“
„Und was bitte passt dir an mir nicht? Sag es mir, dann weiß ich wenigstens Bescheid.“
„Bitte, wenn du es hören willst! Mir passt zum Beispiel deine Qualmerei nicht. Die ganze Wohnung stinkt nach diesem parfümierten Kraut, und ich obendrein: Die Haut, die Haare, sämtliche Klamotten am Leib und in den Schränken – alles ist verpestet. Deine Lungen singen jede Nacht ein Lied davon: röcheln, rasseln, husten, alles abwechselnd und nonstop die Nacht hindurch. Und wenn die Lungen vor Erschöpfung nicht mehr mitmachen, fängst du an zu schnarchen.“
„Das tut mir leid, das wusste ich nicht.“
„Du weißt noch mehr nicht: Jeden Tag pinkelst du im Stehen, bis die Fliesen voller Spritzer sind. Ich frage dich: Muss so etwas sein? Wie kann man nur so unhygienisch sein! Bin ich deine Klofrau? Klar bin ich das, ich mache jeden Morgen die Fliesen wieder sauber. Was glotzt du jetzt so komisch?“
Werner saß inzwischen da wie ein begossener Pudel.
„Und überhaupt passt du so langsam nicht mehr in diese Wohnung. Du hast 30 Kilogramm Übergewicht, frisst wie ein Scheunendrescher, trinkst zu viel und hast jeden Tag ein anderes Zipperlein. Was glaubst du, wie lange dein Körper das noch mitmacht? Und auf wen wird es zurückfallen, wenn deine Knochen dein Gewicht nicht mehr aushalten? Dann kann ich auch noch deine Krankenpflegerin spielen. Aber genau das werde ich garantiert nicht tun. So, jetzt weißt du’s, und jetzt will ich ins Bett – und du schläfst hier im Wohnzimmer.“
Werner konnte eine ganze Stunde lang gar nichts denken, dann fand er heraus, dass jeder ihrer Vorwürfe wie ein Mosaikstein ins Ganze passte. „Sie hat genug von mir“, befand er. „Sie will mich loswerden, will den Rest ihres Lebens ohne mich verbringen, sich vielleicht einen neuen Partner suchen, mit ihm alle unsere Ersparnisse verprassen, während ich mir das Gras von unten angucken darf. Da hast du dich aber getäuscht, liebe Sylvia. So springst du mit mir nicht um! Ich akzeptiere deine Pille, aber du wirst zuerst gehen.“
Die Stimmung am nächsten Tag war frostig. Weder Sylvia noch Werner wollte die Diskussion der letzten Nacht fortführen. So nahmen sie ihr Frühstück wortlos ein, dann ging jeder seines Weges. Als Sylvia das Haus verlassen hatte, um für den Tag einzukaufen, schlich sich Werner an die Grenze seines Grundstückes und betrachtete einen Strauch, der schon seit Jahren seine Aufmerksamkeit fand. Er stand so dominant an dieser Stelle, als würde er nur darauf warten, für jemanden irgendwann von besonderem Nutzen zu sein. Werner, der Biologie studiert hatte, hatte das wilde Gewächs schon vor Jahren identifiziert. Der Strauch hieß atropia belladonna, im Volksmund Tollkirsche.
Er pflückte eine Handvoll der hochgiftigen Beeren, schälte sie, zerquetschte das Fruchtfleisch und mischte es heimlich unter die Johannisbeermarmelade, die sich Sylvia zum Kaffee aufs Brot strich.
Dann kam der Nachmittag, und Werner setzte sich in dem Bewusstsein, dem unmittelbar bevorstehenden Tod tugendhaft in die Augen sehen zu müssen, an den Kaffeetisch. Er fühlte sich wie ein griechischer Held der Antike, der der Gerechtigkeit willen und um persönlicher Schmach und Schande zu entgehen, sich und den seinen das Leben nahm. Er dachte sofort an Sokrates, dem man den Schierlingsbecher gereicht hatte, ein Beispiel für einen gewollten Tod, der mit einem natürlichen Gift herbeigeführt wurde.
Mit starrem Blick auf seine Sylvia hob er die Tasse, führte sie an den Mund und nahm zwei große Schlucke. Sylvia betrachtete ihn aus den Augenwinkeln, stand auf, holte sich zwei Scheiben Toastbrot und stellte die Marmelade auf den Tisch.
„Kein Kuchen heute?“, fragte er scheinbar interessiert.
„Siehst du welchen?“
Werner nickte zum Zeichen, dass er verstanden habe. Dann beobachtete er wie gelähmt, wie sie sich die beiden Scheiben Brot bestrich und herzhaft in das erste biss.
*
Nach 20 Minuten fuhr der Rettungswagen Sylvia in die Klinik.
„Tollkirsche! Sie hat Tollkirschenmarmelade gegessen“, erklärte Werner dem Sanitäter im letzten Moment, bevor der Wagen wegfuhr. Er selbst ging ins Haus zurück und wartete auf den Tod, der nicht kam. Dafür erschien am darauffolgenden Tag ein Kriminalbeamter, der sich für Sylvias Medikamente und ihre selbstgemachten Marmeladen interessierte. Nach einer Viertelstunde hielt er einen ganzen Schuhkarton voll mit Tabletten in der Hand, die er in einer Wäscheschublade gefunden hatte, und bat Werner, gleich mit aufs Revier zu kommen.
Nachdem er über eine Stunde im Vernehmungsraum gewartet hatte, erschienen der vernehmende Beamte mit einem Doktor aus der Pathologie, den Schuhkarton mit den Medikamenten unter dem Arm.
„Ihrer Frau geht es den Umständen entsprechend; sie leidet unter starken Halluzinationen, scheint aber außer Gefahr zu sein.“ Werner reagierte nicht. Warum sollte er? Hätte er nicht seit Stunden tot sein müssen, verdammt nochmal?
„Sind darunter auch Medikamente, die Ihnen gehören?“, fragte der Beamte und zeigte auf den Karton.
„Nicht dass ich wüsste. Ich brauche nur Blutdrucktabletten, und die liegen in der Küche.“
„Und was ist mit denen?“ Er schob vier Schachteln über den Tisch.
Werner überflog die Namen der Präparate und begann die handschriftlichen Notizen zu lesen: „Synt…pan. Gegen Alkoholabusus, 2 Tabletten, abends. Turb…ron. Gegen Fettleibigkeit. Je 1 Tabl. morgens, mittags und abends. Dorm…san. Gegen Schnarchen, 2 Tabl. vor dem Schlafengehen.
Bei der letzten Packung klingelte es bei Werner. Er nahm sie in die Hand, drehte sie, dass er alle Seiten lesen konnte, entfaltete hastig den Beipackzettel und schüttelte den Kopf. „Fumadoron!“ Er hielt inne. „Fumadoron, Ihr zuverlässiger Helfer gegen das Rauchen. 1Tabl. nachmittags.“ Ungläubig stellte er fest, dass der erste Streifen mit 10 Tabletten fast leer war.“
Werner hielt sich beide Hände vors Gesicht. „Kommissar“, sagte er mit bebenden Lippen. „Ich muss Ihnen da was erklären.“
Sammis Geschichte findet ihr bei der Kurzprosa. Sie trägt den Titel „Nachtschattengewächs“.