Ein Fingerbreit Licht

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joergheeb

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Er hat eben das Fenster geöffnet, steht nun wieder am Herd und wartet auf das fauchende Gurgeln, das die Espressokanne von sich gibt, wenn der Kaffee durch die beiden Ventile des Steigrohrs in den oberen Teil der Kanne sprudelt.

Vom Hof her die Stimmen der Jungs: „Zu mir, zu mir! Spiel endlich ab!“ … „Penalty, Penalty! Hey, Schiri, bist Du blind?!“ … „Nicht im Traum, er hat den Ball gespielt!“

Die Küche liegt noch im Schattendunkel; nur ein einziger, kaum fingerbreiter Lichtstrahl dringt durch die linke obere Ecke des Fensters in den Raum und schneidet die Tischplatte und die weiße Tasse mit den vier königsblauen Lettern – FIKA – diagonal entzwei.

Es ist ihre Tasse … gewesen. Sie hielt sie stets mit beiden Händen umfasst und setzte sie von Zeit zu Zeit auf ihrem hochgezogenen nackten Knie ab – mal war es das linke, mal das rechte –; meist, wenn sie mit ihm sprach, dann völlig unversehens mitten im Satz innehielt und ihn für einige Sekunden stumm anschaute – in ihren Augen eine bange und scheue Zärtlichkeit, als zweifelte sie daran, dass das alles real sei – oder richtig: sie selbst, er, die Tasse auf ihrem nackten Knie, der Tisch, die Küche …

Jetzt sieht er sie vor sich am Tisch sitzen, den Rücken ihm zugewandt. Wenn er um den Tisch herumgeht, auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz nimmt und lange genug wartet, werden irgendwann ihre Lippen zu zittern beginnen; sie wird aufstehen, ihren Stuhl an den Tisch rücken und – ohne ihn dabei anzuschauen – sagen: „Es tut mir leid! Du hast ja keine Ahnung, wie leid es mir tut … und wie weh!“

„Goooooooal! Gooooooal!“, brüllen einige der Jungs im Hof; und während er das Fenster schließt, schießt der erste Schwall Kaffee unter dem losen Deckel der Espressokanne hervor und ersäuft mit einem scharfen Zischen die Herdflamme.
 



 
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